6.2 Schutzgewährung in anderem EU-Mitgliedsstaat (sog. Anerkannten“-Fällen)

Wenn Sie in einem anderen EU-Mitgliedsstaat internationalen Schutz, d.h. die Flüchtlingsanerkennung bzw. subsidiären Schutz erhalten haben, ist der Asylantrag in Deutschland unzulässig.[1] Ihnen wird die Abschiebung in das Land, das den Schutz gewährt hat, angedroht und eine einwöchige Ausreisefrist festgelegt.[2] Gegen diese Entscheidung kann innerhalb einer Woche eine Klage und ein Eilantrag eingereicht werden;[3] Einzelheiten sind in der Rechtsmittelbelehrung am Ende des Bescheides des Bundesamtes enthalten. Stellen Sie diesen Eilantrag nicht oder lehnt das Gericht ihn ab, können Sie in den anderen EU-Mitgliedsstaat abgeschoben werden, obwohl über die Klage noch nicht entschieden ist.

In dem Eilverfahren wird geprüft, ob „ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit“ des Bescheides des Bundesamts bestehen.[4] Das wäre jedenfalls der Fall, wenn Ihnen in dem anderen EU-Mitgliedsstaat unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bzw. unmenschliche oder erniedrigende Lebensverhältnisse[5] droht bzw. dort für Sie eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.[6]

Nach dem Erlass des Nds. Innenministeriums vom 09.05.2018[7] verstößt eine Abschiebung von anerkannten Schutzberechtigten nach Bulgarien gegen Art. 3 EMRK, da ihnen droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Obdachlosigkeit. Ohne Wohnung sei eine Arbeitsaufnahme besonders schwer und es bestehe dann auch kein Zugang zu Sozialleistungen, was die Gefahr einer Verelendung birgt.

Das Bundesverwaltungsgericht[8] hat dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Frage zur Klärung vorgelegt, ob ein Asylantrag auch dann in Deutschland unzulässig ist, wenn die Lebensbedingungen für anerkannte Flüchtlinge in dem schutzgewährenden anderen Mitgliedstaat

  • zwar nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen
  • sie aber nicht den Vorgaben des EU-Rechts für Schutzberechtigte[9] entsprechen. Danach müssen sie u.a. im gleichen Umfang wie Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats notwendige Sozialhilfe[10]  und Zugang zu medizinischer Versorgung erhalten.[11]

Auf einen anderen Vorlagebeschluss des BVerwG[12] hin hat der EuGH[13] entschieden, dass subsidiär Schutzberechtigten ihr Aufstockungsantrag im Aufenthaltsstaat verweigert werden darf, auch wenn ihnen aufgrund von Mängeln im Asylverfahren des schutzgewährenden Staats systematisch und ohne echte Prüfung die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verweigert wird.

Außerdem kann der Asylantrag als unzulässig abgelehnt werden, wenn den subsidiär Schutzberechtigten dort keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 GR-Charta droht. Dieses Risiko besteht nur dann, wenn die betroffene Person sich aufgrund ihrer besonderen Verletzbarkeit unabhängig von ihrem eigenen Willen in extremer materieller Not befindet. Dies gilt auch dann, wenn sie wie Staatsangehörige des schutzgewährenden Staats keine oder kaum existenzsichernde Leistungen erhalten.

Informationen über die Rechtsprechung zu „Anerkannten“-Fällen sind zu finden beim Informationsverbund Asyl unter

 

[1] § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG.

[2] §§ 35, 36 Abs. 1 AsylG.

[3] §§ 36 Abs. 3; 74 Abs. 1 AsylG; § 80 Abs. 5 VwGO.

[4] § 36 Abs. 4 S. 1 AsylG.

[5] VG München, Beschluss v. 18.09.2017 – M 7 S 17.30997.

[6] § 60 Abs. 7 AufenthG.

[7] https://www.mi.niedersachsen.de/startseite/niedersaechsische_erlasse_seit_2014/niedersaechsische-erlasse-seit-2014-139998.html, unter Bezugnahme auf eine entsprechende Entscheidung des OVG Niedersachsen, vom 20.01.2018 – 10 LB 82/17.

[8] Beschluss vom 27.06.2017 – 1 C 26.16 Vorlagebeschluss (asyl.net M25389).

[9] Art. 20 ff. Qualifikationsrichtlinie.

[10] Bei subsidiär Schutzberechtigten können die Mitgliedstaaten Einschränkungen vorsehen, vgl. Art. 29 Abs. 2 Qualifikationsrichtlinie.

[11] Art. 29 f. Qualifikationsrichtlinie.

[12] Beschlüsse vom 23.03.2017 – 1 C 17.16; 1 C 18.16; 1 C 20.16 – asyl.net: M25082.

[13] Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17; C-318/17; C-319/17, C-438/17 https://www.asyl.net/rsdb/m27127/

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