20.1 Anordnung von Abschiebungshaft

Nach dem Aufenthaltsgesetz[1]  ist die Abschiebungshaft (im Aufenthaltsgesetz „Sicherungshaft“ genannt) unzulässig, wenn der Zweck der Haft durch ein milderes, ebenfalls ausreichendes anderes Mittel erreicht werden kann. Die Inhaftnahme ist auf die kürzest mögliche Dauer zu beschränken. Minderjährige und Familien mit Minderjährigen dürfen nur in besonderen Ausnahmefällen und nur so lange in Abschiebungshaft genommen werden, wie es unter Berücksichtigung des Kindeswohls angemessen ist. Nach der Gesetzesbegründung zur Überstellungshaft dürfte eine Inhaftierung Minderjähriger in der Regel unverhältnismäßig sein.[2]

Die Abschiebungshaft ist unzulässig, wenn feststeht, dass der Betroffenen aus Gründen, die er nicht zu vertreten hat nicht innerhalb der nächsten drei Monate abgeschoben werden kann.[3]  Das ist zum Beispiel der Fall, wenn keine Abschiebungen in ein Land möglich sind oder jemand trotz seiner Mitwirkung keine Passersatzpapiere erhält.  Nur wenn von jemandem „eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht“, ist Abschiebungshaft auch dann zulässig, wenn die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann.[4]

Nach dem Nds. Rückführungserlass[5] sind unbegleitete Minderjährige, Schwangere, Familien oder alleinerziehende Elternteile mit schulpflichtigen und minderjährigen Kindern grundsätzlich nicht in Abschiebungshaft zu nehmen. Eine besonders sorgfältige Prüfung ist bei lebensälteren, behinderten oder schwer erkrankten Menschen vorzunehmen. Dieses gilt insbesondere für Personen, die schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt oder eine Traumatisierung erlitten haben und dieses bereits in dem vorausgegangenen asyl- oder aufenthaltsrechtlichen Verfahren vorgetragen und dokumentiert wurde.

Nach dem Nds. Rückführungserlass[6] muss die Ausländerbehörde vor der Beantragung von Sicherungshaft immer prüfen, ob durch andere Maßnahmen, z.B. durch Meldeauflagen, Sicherheitsleistung oder räumliche Beschränkungen, sichergestellt werden kann, dass sich die ausreisepflichtige Person zu dem festgelegten Abschiebungstermin bereit hält und die Maßnahme daher nicht durch Untertauchen oder einen unerlaubten Wechsel des Aufenthaltsortes scheitern wird.

Durch das Migrationspaket wurden die Regelungen zur Abschiebungshaft erheblich verschärft:

Jemand ist dann in Abschiebungshaft (Sicherungshaft) zu nehmen, wenn Fluchtgefahr besteht.[7]

Von Abschiebungshaft kann aber ausnahmsweise abgesehen werden, wenn der Betroffenen glaubhaft macht, dass er sich der Abschiebung nicht entziehen will.[8]

 a) Vermutung einer Fluchtgefahr

Diese Fluchtgefahr wird jetzt in bestimmten Konstellationen „widerleglich vermutet“. Das bedeutet, dass die Betroffenen darlegen müssen, dass trotz der genannten Umstände keine Fluchtgefahr besteht[9]
Die im Gesetz genannten Konstellationen[10] liegen vor, wenn der Betroffene

  • die Ausländerbehörde über seine Identität täuscht; auch erhebliche Täuschungen in der Vergangenheit sind relevant, wenn sie im zeitlichem Zusammenhang mit der Abschiebung stehen und die Angabe nicht selbst berichtigt wurde (insbesondere bei Unterdrückung oder Vernichtung von Identitäts- oder Reisedokumenten oder das Vorgeben einer falschen Identität)
  • unentschuldigt nicht zu einer Anhörung oder einer ärztlichen Untersuchung kommt, obwohl er vorher darauf hingewiesen wurde, dass er in diesem Fall in Abschiebungshaft kommen kann
  • nach dem Ablauf der Ausreisefrist umzieht, ohne der Ausländerbehörde eine neue Anschrift mitzuteilen, obwohl er auf diese Verpflichtung hingewiesen wurde
  • sich trotz eines Einreise- und Aufenthaltsverbots in Deutschland auf hält, obwohl er keine Betretenserlaubnis hat[11]
  • sich bereits in der Vergangenheit der Abschiebung entzogen hat
  • ausdrücklich erklärt hat, dass er sich der Abschiebung entziehen will.

b) Konkrete Anhaltspunkte für eine Fluchtgefahr:

In bestimmten Konstellationen liegen nach dem AufenthG[12] konkrete Anhaltspunkte für eine Fluchtgefahr vor. Anders als bei der „widerlegbaren Vermutung (siehe a) darf aus diesen Sachverhalten (z.B. einer strafrechtlichen Verurteilung)  aber nicht zwingend auf Fluchtgefahr geschlossen werden, sondern es müssen zunächst alle Umstände berücksichtigt werden. Konkrete Anhaltspunkte bestehen, wenn

  • der Betroffene die Ausländerbehörde in der Vergangenheit erheblich über seine Identität getäuscht hat und die Angabe nicht selbst berichtigt wurde (insbesondere bei Unterdrückung oder Vernichtung von Identitäts- oder Reisedokumenten oder das Vorgeben einer falschen Identität)
  • der Betroffene so viel Geld für seine Einreise nach Deutschland gezahlt hat, dass daraus geschlossen werden kann, dass er die Abschiebung verhindern wird, damit die Aufwendungen nicht vergeblich waren.
  • von dem Betroffenen eine „erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht“
  • der Betroffenen wiederholt wegen vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu mindestens einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden.
  • der Betroffene bestimmte Mitwirkungshandlungen bei der Passbeschaffung nicht erfüllt hat, obwohl er vorher darauf hingewiesen wurde, dass er in diesem Fall in Abschiebungshaft kommen kann
  • der Betroffene nach Ablauf der Ausreisefrist eine Wohnsitzauflage, die zur Sicherung und Durchsetzung der Ausreisepflicht verhängte wurde, nicht erfüllt oder wiederholt bestimmte räumliche Beschränkungen[13] verstoßen hat
  • der Betroffene, der erlaubt eingereist und vollziehbar ausreisepflichtig geworden ist, dem behördlichen Zugriff entzogen ist, weil er keinen Aufenthaltsort hat, an dem er sich überwiegend aufhält.

Diese Ausweitung, insbesondere bzgl. der hohen Fluchtkosten als Anhaltspunkte für Fluchtgefahr, kann dazu führen, dass in sehr vielen Fällen ein Grund für Sicherungshaft in Betracht kommen kann.

Wichtig ist aber, dass die Ausländerbehörde die Voraussetzungen, die aus ihrer Sicht  zu einer „widerleglichen Vermutung führen oder einen Anhaltspunkt für eine Fluchtgefahr darstellen, darlegen und beweisen muss.

Nach dem Nds. Rückführungserlass[14] sind außerdem zwingende Voraussetzungen für die Anordnung von Abschiebungshaft, dass

  • die freiwillige Ausreise nicht gesichert ist oder „aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine Überwachung der Ausreise erforderlich erscheint“
  • die Abschiebung möglich ist, d. h. es dürfen insbesondere keine zielstaatsbezogenen
    Abschiebungshindernisse oder inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisse entgegenstehen (vgl. Kapitel 11.1)
  • der Zweck der Sicherungshaft nicht durch ein milderes, ebenfalls ausreichendes Mittel erreicht werden kann
  • dem Betroffene bzw. seinem Rechtsanwalt/anwältin eine Rückkehrentscheidung (z. B. Bescheid des Bundesamtes) in einer ihm verständlichen Sprache zugestellt oder bekanntgegeben wurde
  • konkrete Anhaltspunkte bestehen, dass eine Abschiebung auch tatsächlich innerhalb der beantragten Haftzeit vorhersehbar vollzogen werden kann und
  • die Abschiebung innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzung besteht nicht, wenn
    – der Ausreisepflichtige es zu vertreten hat, dass die Abschiebung nicht durchgeführt werden kann[15] oder
    – wenn von dem Ausreisepflichtige eine „erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht“.[16]

Eine besondere Form der Abschiebungshaft ist die “Vorbereitungshaft”. Sie wird verhängt, wenn eine Ausweisung (z.B. wegen Straffälligkeit) oder eine Abschiebungsanordnung[17] in Vorbereitung ist, die endgültige Entscheidung darüber aber noch aussteht und die Abschiebung ohne Haft wesentlich erschwert oder unmöglich würde.[18]

Wenn Flüchtlinge im Abschiebungsgefängnis sind, sind sie aber in der Regel nicht in Vorbereitungshaft, sondern in “Sicherungshaft”, das heißt, allein zu dem Zweck, die Abschiebung zu sichern. Die oben aufgezählten Haftgründe zeigen: Wenn die Behörden vermuten, dass Sie sich einer Abschiebung entziehen oder mit Tricks eine Abschiebung verhindern wollen, steigt das Risiko einer Inhaftierung.Bleiben Sie deshalb möglichst mit der Ausländerbehörde im Kontakt und sichern Sie zu, dass Sie sich einer eventuellen Abschiebung nicht entziehen werden.

62 Abs. 5 AufenthG ermächtigt die Ausländerbehörde, Personen ohne vorherige richterliche Anordnung festhalten und vorläufig in Gewahrsam nehmen, wenn

  • der dringende Verdacht für das Vorliegen der Voraussetzungen für die Sicherungshaft bestehen,
  • die richterliche Entscheidung über die Anordnung der Abschiebungshaft nicht vorher eingeholt werden kann und
  • der begründete Verdacht vorliegt, dass sich der Ausländer der Anordnung der Sicherungshaft entziehen will.

Der Betroffene muss aber unverzüglich dem Richter zur Entscheidung über die Anordnung der Sicherungshaft vorgeführt werden.

  • Wenn Sie festgenommen und dann dem Amtsgericht zur Haftentscheidung vorgeführt werden, versuchen Sie zu begründen, warum keiner der oben genannten gesetzlichen Haftgründe vorliegt oder welche Gründe gegen die Inhaftierung sprechen.
  • Sie dürfen einen Rechtsanwalt oder eine Rechtsanwältin hinzuziehen und eine/n Dolmetscher/in verlangen. Auch die Unterstützung durch eine nicht-anwaltliche Vertrauensperson ist erlaubt,[19] dann müssen Sie aber alle Ausführungen und Anträge vor dem Gericht selbst machen. Auf den Rechtsanwalt oder die Vertrauensperson muss das Gericht warten, gleichzeitig muss es aber auch schnell entscheiden. Wenn der Rechtsanwalt nicht sofort kommen kann, ist es deshalb unter Umständen sinnvoll, darum zu bitten, dass nur eine vorläufige Entscheidung für die Inhaftierung ergeht und das Hauptsacheverfahren um ein oder zwei Tage verschoben wird. Hat das Gericht die Haft erst einmal angeordnet, ist es schwieriger, die Haftentlassung zu erreichen. Wenn Sie verheiratet sind, muss das Gericht auch Ihren in Deutschland anwesenden Ehegatten anhören.[20]
  • Gegen den Haftbeschluss des Amtsgerichts können Sie innerhalb von einem Monat Beschwerde beim Landgericht einlegen.[21] Da die Amtsgerichte häufig nicht sorgfältig prüfen, ob die Voraussetzungen der Abschiebungshaft vorliegen, ist es in der Regel sinnvoll, das zu tun. Haben Sie keine Unterstützung durch eine Anwältin oder einen Anwalt, können auch Sie selbst, Ehepartner/in, Eltern, Vormund oder eine Vertrauensperson (Gefängnispfarrer/in, Besucher/in, Verwandte/r) eine Haftbeschwerde einreichen.[22] Gegen die Entscheidung des Landgerichts können Sie nur ggf. Rechtsbeschwerde einlegen.[23] Am besten lassen Sie sich von einem Rechtsanwalt oder einer Rechtsanwältin vertreten.
  • Darüber hinaus können Sie zu jeder Zeit beim Amtsgericht die Aufhebung der Freiheitsentziehung [24] Ein solcher Antrag ist dann sinnvoll, wenn sich neue Tatsachen oder Perspektiven ergeben haben, zum Beispiel eine Erkrankung oder eine Änderung im laufenden Asylverfahren oder eine Eheschließung.

Sicherungshaft darf nicht angeordnet werden, wenn

  • keiner der gesetzlichen Haftgründe vorliegt,
  • die Abschiebung aus Gründen, die Sie nicht zu vertreten haben, nicht innerhalb von drei Monaten organisiert werden kann (zum Beispiel weil noch Papiere fehlen, die nicht so schnell besorgt werden können)[25]
  • Sie aufgrund einer Erkrankung nicht haftfähig sind.

Ein Asylantrag führt nicht automatisch zur Haftentlassung.[26]

 

[1] § 62 Abs. 1 AufenthG.

[2] Gesetzesbegründung, BR-Drs. Vom 18.04.2019, 179/19, S. 26.

[3] § 62 Abs. 3 S. 3 AufenthG.

[4] § 62 Abs. 3 S. 4 AufenthG.

[5] Nds. Innenministerium, Rückführungserlass vom 24.08.2016, S. 16, vgl. http://www.nds-fluerat.org/infomaterial/erlasse-des-niederschsichen-ministeriums/.

[6] Nds. Innenministerium, Rückführungserlass vom 24.08.2016, S. 12 f, vgl. http://www.nds-fluerat.org/infomaterial/erlasse-des-niederschsichen-ministeriums/.

[7]  § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 AufenthG. Ansonsten liegt ein Grund für  Abschiebungshaft vor, wenn jemand wegen einer unerlaubten Einreise vollziehbar ausreisepflichtig ist oder eine Abschiebungsanordnung nach § 58a ergangen ist, die nicht  direkt vollzogen werden kann (§ 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG.

[8] § 62 Abs. 3 S. 2 AufenthG.

[9] Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 19/10047 vom 10.05.2019, S. 39.

[10] § 62 Abs. 3a AufenthG.

[11] Vgl. §§ 11 Abs. 1 S. 2, Abs. 8 AufenthG.

[12] § 62 Abs. 3b AufenthG.

[13] Ein Verstoß gegen eine räumliche Beschränkung, die wegen einer bestimmten strafrechtlichen Verurteilung oder wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetzes verhängt wurde, stellt keinen Anhaltspunkt für Fluchtgefahr dar.

[14] Nds. Innenministerium, Rückführungserlass vom 24.08.2016, S. 14, vgl. http://www.nds-fluerat.org/infomaterial/erlasse-des-niederschsichen-ministeriums/.

[15] § 62 Abs. 3 S. 3 AufenthG.

[16] § 62 Abs. 4 S. 3 AufenthG.

[17] Eine Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG erfolgt „zur Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr“.

[18] § 62 Abs. 2 AufenthG.

[19] § 418 Abs. 3 Nr. 3 FamFG.

[20] § 418 Abs. 3 Nr. 1 FamFG.

[21] §§ 58 Abs. 1; 63 Abs. 1 FamFG.

[22] § 429 Abs. 2 FamFG.

[23] § 70 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 FamFG.

[24] § 426 Abs. 2 S. 1 FamFG.

[25] § 62 Abs. 3 S. 4 AufenthG.

[26] § 14 Abs. 3 AsylG.

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