20.3 Überstellungshaft

Im Rahmen des Dublin III-Verfahrens (siehe Kapitel 6.1) dürfen -nach einer Einzelfallprü­fung – Personen zur Sicherstellung von Überstellungsverfahren in Haft genommen werden, wenn eine erhebliche Fluchtgefahr besteht, die Haft verhältnismäßig ist und „weniger einschnei­dende Maßnahmen“ nicht wirksam sind.[1]

Bei der Frage, wann eine Fluchtgefahr besteht sind zunächst die Regelungen zu Abschiebungshaft anwendbar (siehe Kapitel 20.1).[2]  Minderjährige und Familien mit Minderjährigen  dürfen nur in besonderen Ausnahmefällen und nur so lange in Haft genommen werden dürfen, wie es unter Berücksichtigung des Kindeswohls angemessen ist. In der Regel dürfte eine Inhaftierung Minderjähriger unverhältnismäßig sein.[3]

a) Vermutung einer Fluchtgefahr

Diese Fluchtgefahr wird jetzt in bestimmten Konstellationen „widerleglich vermutet“. Das bedeutet, dass die Betroffenen darlegen müssen, dass trotz der genannten Umstände keine Fluchtgefahr besteht.[4]
Die im Gesetz genannten Konstellationen[5] liegen vor, wenn der Betroffene

  • die Ausländerbehörde über seine Identität täuscht; auch erhebliche Täuschungen in der Vergangenheit sind relevant, wenn sie im zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebung stehen und die Angabe nicht selbst berichtigt wurde (insbesondere bei Unterdrückung oder Vernichtung von Identitäts- oder Reisedokumenten oder das Vorgeben einer falschen Identität)
  • unentschuldigt nicht zu einer Anhörung oder einer ärztlichen Untersuchung kommt, obwohl er vorher darauf hingewiesen wurde, dass er in diesem Fall in Abschiebungshaft kommen kann
  • nach dem Ablauf der Ausreisefrist umzieht, ohne der Ausländerbehörde eine neue Anschrift mitzuteilen, obwohl er auf diese Verpflichtung hingewiesen wurde
  • sich trotz eines Einreise- und Aufenthaltsverbots in Deutschland aufhält, obwohl er keine Betretenserlaubnis hat[6]
  • sich bereits in der Vergangenheit der Abschiebung entzogen hat
  • ausdrücklich erklärt hat, dass er sich der Abschiebung entziehen will.

b) Konkrete Anhaltspunkte für eine Fluchtgefahr:

In bestimmten Konstellationen liegen nach dem AufenthG[7] konkrete Anhaltspunkte für eine Fluchtgefahr vor. Anders als bei der „widerlegbaren Vermutung (siehe a) darf aus diesen Sachverhalten (z.B. einer strafrechtlichen Verurteilung) aber nicht zwingend auf Fluchtgefahr geschlossen werden, sondern es müssen zunächst alle Umstände berücksichtigt werden. Konkrete Anhaltspunkte bestehen, wenn

  • der Betroffene die Ausländerbehörde in der Vergangenheit erheblich über seine Identität getäuscht hat und die Angabe nicht selbst berichtigt wurde (insbesondere bei Unterdrückung oder Vernichtung von Identitäts- oder Reisedokumenten oder das Vorgeben einer falschen Identität)
  • der Betroffene so viel Geld für seine Einreise nach Deutschland gezahlt hat, dass daraus geschlossen werden kann, dass er die Abschiebung verhindern wird, damit die Aufwendungen nicht vergeblich waren.
  • von dem Betroffenen eine „erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht“
  • der Betroffenen wiederholt wegen vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu mindestens einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden.
  • der Betroffene bestimmte Mitwirkungshandlungen bei der Passbeschaffung nicht erfüllt hat, obwohl er vorher darauf hingewiesen wurde, dass er in diesem Fall in Abschiebungshaft kommen kann
  • der Betroffene nach Ablauf der Ausreisefrist eine Wohnsitzauflage, die zur Sicherung und Durchsetzung der Ausreisepflicht verhängte wurde, nicht erfüllt oder wiederholt gegen bestimmte räumliche Beschränkungen[8] verstoßen hat
  • der Betroffene, der erlaubt eingereist und vollziehbar ausreisepflichtig geworden ist, dem behördlichen Zugriff entzogen ist, weil er keinen Aufenthaltsort hat, an dem er sich überwiegend aufhält.

Diese Ausweitung, insbesondere bzgl. der hohen Fluchtkosten als Anhaltspunkte für Fluchtgefahr, kann dazu führen, dass in sehr vielen Fällen ein Grund für Sicherungshaft in Betracht kommen kann.

Wichtig ist aber, dass die Ausländerbehörde die Voraussetzungen, die aus ihrer Sicht zu einer „widerleglichen“ Vermutung führen oder einen Anhaltspunkt für eine Fluchtgefahr darstellen, darlegen und beweisen muss.

Zusätzlich kann ein Anhaltspunkt für Fluchtgefahr vorliegen, wenn[9]

  • der Betroffene den anderen Mitgliedstaat vor dem Abschluss des Asylverfahrens verlassen hat und die Umstände konkret darauf hindeuten, dass er diesen Staat in absehbarer Zeit nicht aufsuchen will
  • der Betroffene zuvor mehrfach einen Asylantrag in anderen Mitgliedstaaten gestellt und den jeweiligen anderen Mitgliedstaat danach wieder verlassen hat, ohne den Ausgang des dort laufenden Verfahrens zur Zuständigkeitsbestimmung oder zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz abzuwarten.

Die Ausländerbehörde kann  Personen ohne vorherige richterliche Anordnung festhalten und vorläufig in Gewahrsam nehmen, wenn

  •  der dringende Verdacht für das Vorliegen einer Fluchtgefahr besteht
  •  die richterliche Entscheidung nicht vorher eingeholt werden kann und
  •  der begründete Verdacht vorliegt, dass sich der Betroffene der Anordnung der Überstellungshaft entziehen will.

Der Betroffene muss unverzüglich einem Richter vorgeführt werden. [10]

 

[1] Art. 28 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin –III- VO).

[2] §§ 2 Abs. 14 S. 1; 62 Abs. 3a und 3b AufenthG.

[3] Gesetzesbegründung, BR-Drs. Vom 18.04.2019, 179/19, S. 26.

[4] Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 19/10047 vom 10.05.2019, S. 39.

[5] § 62 Abs. 3a AufenthG.

[6] Vgl. §§ 11 Abs. 1 S. 2, Abs. 8 AufenthG.

[7] § 62 Abs. 3b AufenthG.

[8] Ein Verstoß gegen eine räumliche Beschränkung, die wegen einer bestimmten strafrechtlichen Verurteilung oder wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetzes verhängt wurde, stellt keinen Anhaltspunkt für Fluchtgefahr dar.

[9] § 2 Abs. 14 S. 2 AufenthG.

[10] § 2 Abs. 14 S. 3 ff AufenthG.

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