40.555 – zum Gedenken der Toten an den europäischen Außengrenzen

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Datum/Zeit
30.11.2020 - 20.12.2020
Ganztägig Uhr

Veranstaltungsort
Weißekreuzplatz Hannover
Weißekreuzplatz
Hannover


40.555 ist eine aktuelle Installation von Wolf Böwig, die ganz in der Tradition des „say their names“ einen Klage- und Erinnerungsort für jene 40.555 Menschen schafft, die an den europäischen Außengrenzen ihr Leben lassen mussten. Dabei wird die Liste ihrer Namen mit Worten des Historikers Habbo Knoch collagiert, der am Beispiel  der jugoslawischen Tragödie in Bürgerkrieg, Re-Nationalisierung und Flüchtlingsabwehr das Panoptikum der Entmenschlichung eröffnet, deren Opfer 40.555 gedenkt.

Die Installation 40.555 wird auf dem Weißekreuzplatz in Hannover in Kooperation mit der Seebrücke Hannover realisiert und steht in Begleitung der Ausstellung „Signum Mortis“, die vom 05.-20.12. an den Fenstern des Pavillons in Hannover zu sehen ein wird. Wolf Böwig wird an den Sonntagen 06./13. und 20.12. von 14 – 16h  Führungen anbieten, bei denen die geltenden Hygienemaßnahmen beachtet werden. Anmeldung hierzu bitte unter: wboewig@gmx.de

verletzt


Wer leidet, blickt auch zurück. Doch auf sich selbst zurückgeworfen, kann man im Vergangenen nur ankern. In den heißen Räumen von Konflikten und Krisen wird Zeit gestaut und geschmolzen. Gründe verstummen. Was dafür gehalten wird, übertönt alles andere. Krieg stößt Menschen auch noch aus jener Geschichte aus, als deren Teil sie verletzt werden.
Ihre eigenen Erfahrungen bleiben gleichwohl verwoben mit den Generationen zuvor. Ohnmacht, Schicksal, Spielball, immer wieder dieses Gefühl: Im Südsudan ringen die ehedem Versklavten um ihre Unabhängigkeit, bevor sie in einem Bürgerkrieg über sich herfallen.

Der südöstliche Balkan ist voller Episoden von Entwurzelten, die ihre Heimat für den nationalen Gedanken aufgeben mussten. Wie so oft: Im Kampf um die Freiheit ist sie selbst nicht gefunden worden. Oder sie erstarrt im grellen Blitzlicht alter Verwundungen. Gewalt gemeinsam zu erleben, zerstört jedes Vertrauen, das eigene Leben gestalten zu können. Ihre Folgen schwären. Staaten scheitern, wenn nicht alle wissen: Warum?

vertrieben

Jugoslawien „wirbt und lockt“, hieß es 1962: Auf zum Urlaub hinter den „Eisernen Vorhang“. Kroatiens Adria war aus der Vorkriegszeit vertraut und nun so günstig wie blau. Drei Jahrzehnte später zerfällt Jugoslawien im grauen und blutigen Bürgerkrieg. Aus einem Staat werden sieben Einheiten mit voller Souveränität und eigenen Grenzen. Was durch das lange Zusammenleben verblasst war, wird nun wieder von Radikalen bedeutsam gemacht. Bekenntnis und Identität sind mehr Folge als Ursache des Konflikts.

Wer zur anderen Nation gehört, lebt gefährlich, wird stigmatisiert, vertrieben. Jeder sechste Jugoslawe ist zeitweilig auf der Flucht. Den Weg in die neuen Gemeinschaften planiert Gewalt auf allen Seiten. Vor allem Serbien mit seinen Milizen ist fast jedes Mittel recht, um seine Macht zu behaupten. Danach dauerten die „Säuberungen“ vielerorts an. Die Zerstörungen haben sich eingeschrieben, in den Raum, in die Häuser, in die Köpfe, verquickt mit auf neu gemachter Geschichte, die den Konflikt schürt und am Leben hält. Während die Habsburger Idylle rasch wieder attraktiv geworden ist, vibriert in den neuen Ländern der Nationalismus weiter.

gestrandet

Nur der Schlaf ist den Geflüchteten geblieben. Eine unsichere Zuflucht, denn Grenzen entscheiden über ihr Schicksal. Kriege zerstören Leben, Zäune Hoffnungen. So werden Lampedusa, Idomeni oder Moria zu den neuen Zeitworten des Unmenschlichen. Ihre Bilder aber bleiben steril. Wie im Frühjahr 2016 aus Idomeni, einem Dorf zwischen Griechenland und dem nördlichen Mazedonien. Mehr als zehntausend Menschen stranden hier. Die Geflüchteten verwandeln ihre Leiber in Zeichen des Protests. Europäische Flüchtlingspolitik und nationale Souveränitätsansprüche überlagern einander. Seit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien ist das südöstliche Europa ein Flickenteppich umstrittener, offener und geschlossener Grenzen.

Einer der schwelenden Konflikte: der Kosovo, stets bedroht von serbischen Ansprüchen und selbst auf eine völlige Albanisierung des Landes bedacht. Auch die Europäische Union will Europa abschotten, zusammen mit den untereinander verfeindeten Staaten der Region. Schutzwall statt Balkanroute ist die Devise. Recht wird gebeugt und gebrochen, Worte wie „Push Back“ und „Hot Spot“ verschleiern die Gewalt nicht einmal mehr.

getötet

Wo unsere Reisen meist enden, jenseits der Strände des Balkans, des Mittelmeeres oder des vorderen Asiens, werden Räume seit Jahrzehnten durch Krieg, Gewalt und die Erinnerung daran bestimmt. Jeder Konflikt steht für sich, und doch hängen sie alle und viele im Einzelnen miteinander zusammen.

Ordnungen sind seit 1990 zusammengebrochen oder haben nie bestanden, von Jugoslawien bis zum Jemen, von Melilla bis zum Chaiber-Pass. Jahrelange Bürgerkriege und wiederkehrende Gemetzel, politische Gewalt und humanitäre Flucht stehen im Schatten der vergangenen kolonialen Imperien europäischer Großmächte. Erniedrigung wird mit Stolz begegnet, der sich im Hass beweist. Gefühle machen blind für die eigene Verantwortung. Kroaten leugnen, in Jasenovac systematisch Serben umgebracht zu haben. Nationalisten verehren Mörder vor großem Publikum wie Helden. Paschtunen beiderseits der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan leben eine Kultur, die Macht durch Kraft verherrlicht. Was sich unschwer ergänzen ließe. Eine neue Barbarei? Dagegen spricht eine Zahl: 40.555.
So viele Tote werden der europäischen Flüchtlingspolitik zugeschrieben. Die meisten lebten kaum weiter als einen Steinwurf von den Stränden entfernt. Wir sind Teil des Ganzen.

ausgelöscht

Ihre Gesichter sind nicht zu erkennen. Als ob die Täter noch in der Dokumentation ihrer Opfer die Oberhand behalten hätten. Fast ohne Schutz, gleichsam nackt, sind Staatenlose wie die Rohingya in Myanmar oder Geflüchtete auf den griechischen Inseln ohne Heimat und Ziel der staatlichen Gewalt ausgesetzt.
In den Bildern lebt der Schrecken über ihre Kälte weiter. Alles ist von Zerstörung, Willkür und Macht durchdrungen, weil System und Furor sich vereint haben. Ideologien und Vorurteile, die Gruppen stigmatisieren, sind nur ein Baustein. Menschen werden markiert, um sie unsichtbar zu machen. Sie werden verwaltet, um sie loszuwerden. Zugriff. Die Klaviatur der Rechtfertigungen, an deren Ende die Gewalt kaum mehr Grenzen kennt, ist erschreckend nah an unserem Alltag. Es ginge, so heißt es, um die innere Sicherheit, um die Souveränität des Staates, um das Wohl der Gesellschaft. Was bedeutet: das Antlitz des einzelnen Menschen, ein Ausdruck seiner Würde, nicht mehr zu sehen. Aber das war der Kern einer Vision: Jeder Mensch sei frei und gleich an Rechten.
Texte: Habbo Knoch

Diese Veranstaltung findet in Kooperation mit der Seebrücke Hannover statt und wird gefördert von der Landeshauptstadt Hannover

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