[Januar 2021]
Die Istanbul Konvention ist ein Übereinkommen der Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt. Sie ist ein umfassender Menschenrechtsvertrag gegen geschlechtsspezifische Gewalt und beinhaltet Anforderungen in den Bereichen Prävention (Kapitel III), Beratung und Intervention (Kapitel IV), Schutzmaßnahmen sowie Sanktionen und Nachsorge bis hin zu Anforderungen an das Straf-, Zivil- und Ausländerrecht (Kapitel V, VI, VII). Die Maßnahmen richten sich an alle Frauen unabhängig von Nationalität, Hautfarbe, sozialer Herkunft, Geschlechtsidentität, Glaube, Alter oder Aufenthaltsstatus.
Am 01. Februar 2018 ist die Istanbul Konvention auch in Deutschland in Kraft getreten, sie wurde ratifiziert. Nach deutschem Recht ist dies nur möglich, wenn davon ausgegangen werden kann, dass die Voraussetzungen und Anforderungen zum Schutz vor Gewalt bereits bestehen bzw. erfüllt sind und gezielt Lücken im Hilfesystem geschlossen werden.
Die Istanbul-Konvention hat insbesondere für geflüchtete Frauen eine enorme Relevanz
Die Istanbul Konvention ist ein Meilenstein in der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Sie befasst sich nicht nur mit individuellen Gewalterfahrungen, sondern auch mit strukturellen Gewaltformen wie festgefahrenen geschlechtsspezifischen Rollenbildern. Bemerkenswert ist, dass Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt konkret als Verletzung der Menschenrechte angesehen werden und als Form der Diskriminierung. Der Konvention liegt ein Gewaltbegriff zugrunde, der Gewalt als alles definiert, was körperliche, sexuelle, psychische oder wirtschaftliche Leiden verursacht oder verursachen kann. Die Anforderungen und Verpflichtungen zur Verhütung von Gewalt richten sich an staatliche Stellen auf allen Ebenen – an den Bund, die Länder und die Kommunen.
In der feierlichen Einleitung der Konvention wird der Grundtenor folgendermaßen festgehalten:
- „unter Verurteilung aller Formen von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt;
- in Anerkennung der Tatsache, dass die Verwirklichung der rechtlichen und der tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern ein wesentliches Element der Verhütung von Gewalt gegen Frauen ist;
- in Anerkennung der Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen der Ausdruck historisch gewachsener ungleicher Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern ist, die zur Beherrschung und Diskriminierung der Frau durch den Mann und zur Verhinderung der vollständigen Gleichstellung der Frau geführt haben;
- in Anerkennung der Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen als geschlechtsspezifische Gewalt strukturellen Charakter hat, sowie der Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen einer der entscheidenden sozialen Mechanismen ist, durch den Frauen in eine untergeordnete Position gegenüber Männern gezwungen werden;
- mit großer Sorge feststellend, dass Frauen und Mädchen häufig schweren Formen von Gewalt wie häuslicher Gewalt, sexueller Belästigung, Vergewaltigung, Zwangsverheiratung, im Namen der sogenannten »Ehre« begangener Verbrechen und Genitalverstümmelung ausgesetzt sind, die eine schwere Verletzung der Menschenrechte von Frauen und Mädchen sowie ein Haupthindernis für das Erreichen der Gleichstellung von Frauen und Männern darstellen;
- in Anbetracht der fortdauernden Menschenrechtsverletzungen während bewaffneter Konflikte, welche die Zivilbevölkerung und insbesondere Frauen in Form von weit verbreiteter oder systematischer Vergewaltigung und sexueller Gewalt betreffen, sowie der höheren Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifischer Gewalt sowohl während als auch nach Konflikten;
- in der Erkenntnis, dass Frauen und Mädchen einer größeren Gefahr von geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt sind als Männer;
- in der Erkenntnis, dass häusliche Gewalt Frauen unverhältnismäßig stark betrifft und dass auch Männer Opfer häuslicher Gewalt sein können;
- in der Erkenntnis, dass Kinder Opfer häuslicher Gewalt sind, auch als Zeuginnen und Zeugen von Gewalt in der Familie;
- in dem Bestreben, ein Europa zu schaffen, das frei von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ist.“
Vorbehalte der Bundesregierung
Die deutsche Bundesregierung hat die Istanbul-Konvention nur unter Vorbehalt ratifiziert. Konkret hat sie einen Vorbehalt beim Artikel 59 Abs. 2 und 3. Der Artikel 59 Abs. 2 besagt, dass gewaltbetroffene Frauen einen eigenen Aufenthaltsstatus unabhängig von Familienverhältnissen erlangen sollen. Ferner sollen Abschiebungen ausgesetzt werden. Beides setzt die Bundesregierung unter Vorbehalt mit der Begründung, dass es dafür angeblich schon Regelungen gebe.
Der Artikel 59 Abs. 3 verlangt eine Aufenhaltstitel-Verlängerung, wenn a) dies aus einer persönlichen Lager heraus (gesundheitliche oder familiäre Gründe) notwendig ist oder wenn b) die Anwesenheit der Frau im Rahmen von Ermittlungen oder Zeugenaussagen bei Strafverfahren erforderlich ist.
Auch hier sieht die Bundesregierung entgegen vieler Jurist*innen und Fachverbände keinen Änderungsbedarf in der Rechtslage.
Die besondere Gewaltbetroffenheit geflüchteter Frauen
Die Hauptherkunftsländer von geflüchteten Menschen in Deutschland – Syrien, Irak und Afghanistan – zeigen, dass sie zumeist aus Krisen- und Kriegsgebieten kommen. Knapp die Hälfte (48,5 %) aller in 2020 gestellten Erstanträge entfällt auf diese drei Staatsangehörigkeiten.
Flucht macht alle Menschen verletzlich – jedoch auf unterschiedliche Art und Weise.
Frauen flüchten genau wie Männer vor Repressionen, Krieg,Willkür, Gewalt und Armut. Doch eine Vielzahl der Frauen flieht auch vor geschlechtsspezifischer und sexualisierter Gewalt;
Sie fliehen vor Vergewaltigung als Strategie des Militärs, vor sexueller Ausbeutung, vor Repressionen und Übergriffen aufgrund ihrer gleichgeschlechtlichen Lebensweise, vor Genitalverstümmelung, vor Zwangsverheiratung und Zwangsverschleierung.
Aufgrund der europäischen Abschottungspolitik haben sich die Fluchtwege verlängert. Ferner berichtet der UNHCR von sogenanntem „survival sex“, wobei auf der Flucht sexuelle Dienstleistungen als „Bezahlung“ für Schlepper eingefordert werden, was häufig die einzige Möglichkeit zur Fortsetzung der Flucht bleibt.
Frauen sind also vor und während, aber auch nach der Flucht in erhöhtem Ausmaß betroffen von Gewalterfahrungen, sexualisierten Übergriffen, sexueller Ausbeutung, Menschenhandel und Zwangsprostitution und damit einhergehenden Traumatisierungen.
In Deutschland selbst leben viele geflüchtete Frauen in Sammelunterkünften, die strukturell konflikt- und gewaltfördernd sind. Unterkünfte sind geprägt von einem hohen Grad an Anonymität, mangelnder Privat- und Intimsphäre, fehlenden Schutz- und Rückzugsmöglichkeiten. Sie haben oft keine abschließbaren Sanitär- und Schlafräume. Dies und das gemeinsame Teilen von Zimmern und der sanitären Anlagen mit Fremden, oft ein hoher Lärmpegel, fehlende tagesstrukturierende Beschäftigung, eingeschränkte Rechte und die kontinuierliche Kontrolle auch der Privaträume durch das Personal sind Risikofaktoren für Gewalt. Studien haben gezeigt, dass vor allem geflüchtete Frauen unter den Bedingungen in Gemeinschaftsunterkünften leiden. Zusätzlich können Frauen und Kinder in Flüchtlingsunterkünften von häuslicher Gewalt betroffen sein.
Dazu kommen aufgrund der unsicheren aufenthaltsrechtlichen Situation und langen Asylverfahren Diskriminierungserfahrungen in Behörden und öffentlichen Institutionen, Perspektivlosigkeit, Existenzängste, Ohnmachtsgefühle und das Gefühl, das eigene Leben nicht mehr selbst gestalten zu können.
Die Konsequenzen dieser Lebenssituation sind oftmals erhöhter Stress, Aggression sowie Depression und sozialer Rückzug.
Darüber hinaus sind Frauen noch immer überdurchschnittlich häufig für die sogenannte Care Arbeit zuständig, d.h. sie sind für die Versorgung und das Wohlergehen der Familienmitglieder, Kinder wie Alte, zuständig. Das ist eine erhebliche Mehrbelastung, die oftmals auch an der gleichberechtigten Teilhabe am Arbeitsmarkt hindert. Dadurch entsteht zusätzlich eine finanzielle Abhängigkeit in Partnerschaften.
Doch für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wird nur sehr langsam deutlich, dass in der Flüchtlings- und Integrationspolitik Frauen mit ihren spezifischen Bedürfnissen bislang nicht systematisch mitgedacht wurden. So zeigen aktuelle Studien, dass geflüchtete Frauen deutlich weniger an Integrationsmaßnahmen teilnehmen, schwerer Fuß fassen auf dem Arbeitsmarkt und weniger Kontakt zur hier lang ansässigen Bevölkerung haben. Die Abkehr von einer »Integrationspolitik« hin zu einer Abschreckungs- und Abschiebepolitik führt zu enormen Verunsicherungen, Stigmatisierungen und Isolation. Die strukturelle und individuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen wird dadurch befördert.
Überprüfung der Umsetzung der Istanbul Konvention in Deutschland: das GREVIO-Komitee
Um die derzeitige Praxis des Gewaltschutzes für Frauen und Mädchen kritisch zu überprüfen, hat der Europarat das sogenannte GREVIO-Komitee eingesetzt. Dieses Komitee soll die Umsetzung der Konvention überprüfen und Berichte dazu verfassen. Die Bundesregierung ist dazu verpflichtet, in diesem Zuge einen Staatenbericht zu verfassen, in dem die Strukturen und Institutionen zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen aufgelistet werden. Zivilgesellschaftliche Organisationen haben die Möglichkeit, sogenannte Schattenberichte zu verfassen, um auch die Sicht aus der Praxis für die Überprüfung darzustellen. Dem sind unterschiedliche Frauenverbände nachgekommen, unter anderem der Dachverband der Migrant*innenselbstorganisationen DaMigra.
Um insbesondere die Situation geflüchteter Frauen stärker in die Evaluation der Umsetzung in Deutschland einzubeziehen, wird ein Zusammenschluss von Landesflüchtlingsräten aus verschiedenen Bundesländern für das GREVIO-Komitee diesbezüglich einen gesonderten Bericht („Schattenbericht“) ausarbeiten.
Der Schattenbericht der Landesflüchtlingsräte
Insgesamt drei Vertreter*innen der Flüchtlingsräte Bayern, Brandburg und Niedersachsen haben im Frühjahr 2020 eine bundesweite Abfrage per Fragebogen gestartet. Angeschrieben wurden Migrant*innenselbstorganisationen, Flüchtlingsberatungsstellen, Frauenberatungsstellen, Frauenhäuser, Gewaltinterventionsstellen und Gleichstellungsbeauftragte.
Mit den Rückläufern des Fragebogens und der Praxiserfahrung als Basis wird derzeit an der Fertigstellung des Schattenberichts gearbeitet. Er beinhaltet eine Darstellung der Lebenssituation von geflüchteten Frauen und Mädchen während des Asylverfahrens, der oftmals prekären Unterbringungssituation sowie Bedarfslagen in Beratungskontexten und zur Gesundheitsversorgung. Ferner wird der Bericht zu den unterschiedlichen Themenbereichen Handlungsempfehlungen und Forderungen beinhalten.
Der Bericht wird noch im Frühjahr 2021 erscheinen.
Aussicht
→ Die Lebenssituation und die besonderen Bedarfe geflüchteter Frauen und Mädchen müssen in den Fokus politischer und behördlicher Handelns geraten.
→ Auf niedersächsischer Ebene wird im Rahmen des Projekts AMBA III eine spezifisch auf die Situation vor Ort bezogener Forderungskatalog mit Standards und Handlungserfordernissen derzeit erarbeitet.
→ Eine Ausweitung der Vernetzung des Hilfenetzwerks ist erforderlich, um bessere Weiterleitungen zu gewährleisten.
→ Eine Ausweitung der finanzierten Sprachmittlung wäre wünschenswert.
→ Gezielte Aufklärungsmaterialien für geflüchtete Frauen und Beratungsinstitutionen sollten erstellt werden.
Wichtige Links
Die Istanbul-Konvention im Wortlaut
Die Istanbul-Konvention in einfacher Sprache
Der Schattenbericht von DaMigra
DaMigra erklärt hier die Vorbehalte der Bundesrepublik
Kontakt
Laura Müller
Projekt AMBA
Telefon: 0511 98 24 60 35
lm(at)nds-fluerat.org
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