Der von uns intensiv begleitete Fall des tschetschenischen Flüchtlings A. macht deutlich, dass Abschiebeverbote nicht einmal mehr in extremen Krankheitsfällen geltend gemacht werden können. Es folgt eine Falldarstellung, verbunden mit der Frage: Kennt die deutsche Abschiebepolitik noch irgendein Maß? Ist ein Ausländer noch Mensch?
A. ist 32 Jahre alt. Seinen 32. Geburtstag verbringt er im Abschiebegefängnis. Ob er weiß, wo genau er sich befindet, ist allerdings zweifelhaft. Denn A. ist kognitiv stark eingeschränkt, seit er im Februar 2018 mit seinem Fahrrad von einem LKW erfasst worden ist. Er erleidet ein Schädelhirntrauma und eine Hirnblutung, liegt einen Monat lang im Koma. Mehrfach muss er operiert werden. In der Zeit stirbt seine 5 Monate alte Tochter an einem Herzfehler. A. hat noch drei kleine Söhne, zwei davon sprechen nicht. Sie sollen auf eine spezielle Sprachförderschule. Seine Frau N. kümmert sich zuhause um die Kinder. Die Familie erhält Unterstützung von nahen Verwandten, die hier in Deutschland leben.
Für A. folgt eine sehr lange Rehabilitationsphase, in der er psychiatrisch, neurologisch und schmerztherapeutisch behandelt wird. Doch sein Zustand bessert sich kaum. Bei ihm wird ein sogenanntes „Organisches Psychosyndrom nach Schädelhirntrauma“ diagnostiziert. Die Symptome äußern sich in Sinnestäuschungen, Denk- und Gedächtnisstörungen, Orientierungsstörungen, Schlaflosigkeit. Seine Psychiaterin schreibt: „Nach einer ausführlichen fachpsychiatrischen Untersuchung zeigte sich bei dem Proband ein klinisches Bild eines Postkontusionellen Syndroms mit Beeinträchtigungen des Gedächtnisses für neue und alte Erinnerungen, Störungen des Auffassungsvermögens und der Konzentrationsfähigkeit, Einschränkungen der Kritik- und Urteilsfähigkeit oder auch Störungen in der Einordnung von Zeit und Raumschwere, wodurch er derzeit in seinem Alltag erheblich beeinträchtigt ist.“ Wenn die Symptome behandelt würden und ein stabiles Umfeld gesichert sei, könnten sie sich zurückbilden. Wenn die Symptome hingegen unbehandelt blieben und ein stabiles Umfeld nicht gewährleistet sei, könnten sie in eine chronische Form übergehen und zu anhaltender Wesensänderung, Demenz und zum Wachkoma führen. Die behandelnde Psychiaterin äußert zudem den dringenden Verdacht auf eine paranoid-halluzinatorische Schizophrenie.
Die Psychiaterin sowie alle seine anderen behandelnden Ärzt:innen bescheinigen eine Reiseunfähigkeit, zuletzt im Oktober 2019. Dennoch wird A. Ende November unerwartet in seinem Zuhause festgenommen. Obwohl er als nicht transportfähig gilt, da die Erschütterungen von Auto, Bahn oder Flugzeug die Schmerzen in seinem Kopf verstärken, wird er in einer mehstündigen Autofahrt aus dem Norden Deutschlands in die Abschiebungshaft Langenhagen bei Hannover gebracht. Der Ausländerbehörde des Landkreis Wesermarsch liegen nach Aussagen der Familie sämtliche Atteste und Gutachten vor, auch die unzähligen Seiten, die seinen Aufenthalt in der Neurochirurgie belegen und seine gravierenden Verletzungen detailliert darlegen. Dennoch schreibt die Ausländerbehörde im Haftbeschluss: „Es bestehen … keine Bedenken gegen die Haft- und Reisefähigkeit des Betroffenen, auch wenn er angab, aufgrund eines Unfalls gesundheitliche Probleme zu haben.“ Aus dem amtsärztlichen Zeugnis von Ende November ergäbe sich, dass der Betroffene trotz der bei ihm bestehenden psychiatrischen Erkrankungen „reisefähig“ sei. Eine Untersuchung hat unserem Kenntnisstand nach jedoch nicht stattgefunden.
A. kommt in das Abschiebegefängnis ohne ein Telefon. Er kann keinen Kontakt zu seiner Familie aufnehmen, er ist völlig isoliert, er spricht nur Russisch. In dieser Situation erfährt der Flüchtlingsrat von dem Fall. Als die Beraterin vom Flüchtlingsrat ihn besucht, wirkt er sehr verlangsamt, klagt über Schmerzen, vergisst nach einer Minute wieder den Inhalt des Gespräches, wiederholt sich, ist sich nicht darüber im Klaren, wo er sich befindet. Er wirkt desorientiert, verwirrt, hilfsbedürftig.
Wir organisieren daraufhin einen Psychiater, der A. am nächsten Tag in der Haftanstalt besucht. Das Gutachten, das der Psychiater noch in der darauffolgenden Nacht verfasst, dokumentiert auf 12 Seiten den Verlauf des Gespräches und bestätigt im Wesentlichen die Diagnose der vorherigen Fachärzt:innen. Fazit: Eine Fortführung der neurologisch-psychiatrischen Behandlung im bestehenden Umfeld in Deutschland sei dringend geboten. Der Wechsel in ein komplett neues Umfeld sei eine erhebliche Stressbelastung. Allein der Flug stelle eine so erhebliche Reizüberflutung dar, dass A. dies wahrscheinlich nur unter Sedierung aushalten würde – dies wiederum könne mit seiner neurologischen Vorgeschichte erhebliche Risiken mit sich bringen.
Die von uns beauftragte Anwältin stellt beim BAMF einen Antrag, das Verfahren wieder aufzugreifen. Sie spricht auch mit der Ausländerbehörde. Gleichzeitig stellt sie einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht, das Verfahren hinsichtlich eines Abschiebeverbotes zu prüfen und die Abschiebung bis dahin auszusetzen. Die medizinische Versorgung in Tschetschenien ist mehreren Gutachten zufolge äußerst mangelhaft. Es fehlt an qualifizierten Ärzt:innen und Pflegekräften, an Medikamenten, an medizinischer Ausrüstung, kurz: an allem. Die Eltern von A. leben zwar in Tschetschenien, doch seine Mutter sitzt im Rollstuhl und wird vom Vater und der Tochter gepflegt. Zusammen beziehen sie eine Rente von 200 € im Monat.
Das Verwaltungsgericht ist nur schwer zu erreichen, es gibt keinen wirklichen Notfalldienst, es ist bereits Freitag und die Abschiebung soll Montag im Morgengrauen erfolgen. Samstag endlich folgt die Entscheidung des Richters: Negativ. Es sei für das Gericht nicht deutlich geworden, dass eine Abschiebung in die Russische Föderation für den Betroffenen eine Gefahr für Leib und Leben darstelle. Eine zeitgleich eingereichte Verfassungsbeschwerde wird am nächsten Tag ebenfalls negativ beschieden.
Am Montagmorgen wird A. – in Handschellen – zum Flughafen gebracht und ohne seine Familie abgeschoben. Um 7 Uhr früh geht der Flieger, wenige Stunden später landet er in Moskau. Ohne Geld, ohne Telefon, ohne ausreichende kognitive Orientierung. Seitdem fehlt von A. jede Spur. Bis heute ist er nicht in Tschetschenien angekommen.
Presse
Flüchtlingsrat: Landkreis schiebt Tschetschenen ab – trotz schwerer Erkrankung, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 30. Januar 2020