Sehr geehrte Frau Ministerin,
Ihre gestrige Presseerklärung, mit der Sie den „parteiübergreifenden Dialog über das Eindämmen irregulärer Migration“ mit der CDU-Spitze loben, hat uns verwundert: Mit der „Zurückweisung an den Binnengrenzen“ fordert die CDU etwas, das vom EUGH mehrfach, zuletzt 2023, für rechtswidrig erklärt wurde, siehe
Diese Rechtsprechung ist glasklar und eindeutig. „Ich wüsste nicht, wie man das rechtfertigen könnte“, sagt dazu Asylrechtsexperte Constantin Hruschka. „Einzelne Terrortaten von Syrern oder Afghanen rechtfertigten in keiner Weise eine kollektive Nichtannahme von Asylanträgen.“ Treffend hat Wiebke Judith von PRO ASYL das Vorhaben kommentiert: „Eine Orbanisierung der CDU, die EU-Recht ignoriert, wäre ein Geschenk für jene, die die EU in einen Verbund nationalistischer ‘Vaterländer’ verwandeln wollen. Das Asylrecht ist hierfür ein Einfallstor.“ Dennoch bringt es die SPD nicht fertig, diese Forderung schlicht zurückzuweisen. Stattdessen kündigt sie eine „rechtliche Prüfung“ an. Der Spiegel berichtet kryptisch:
Aus Teilnehmerkreisen hieß es dazu, bei Zurückweisungen gebe es hohe rechtliche Risiken. Zudem riskiere die Union mit diesen Forderungen die mühsam errungene europäische Asylreform, die ebenfalls Verschärfungen vorsieht. Wenn Deutschland die Einhaltung der Dublin-Regeln infrage stelle, die in Europa die Zuständigkeit für Asylverfahren klären, drohe eine Art Domino-Effekt. Andere Länder könnten Asylbewerber dann zur Weiterreise nach Deutschland ermutigen.
Wie weit sind wir gekommen, wenn auch die SPD völkerrechtswidrige Vorschläge der CDU für diskussionswürdig erklärt und von „konstruktiven Gesprächen“ redet? Merz hat heute erklärt, die Gespräche würden erst weitergeführt, wenn die Bundesregierung „Zurückweisungen an den Grenzen“ in die Tat umsetze. Ist der organisierte Völkerrechtsbruch jetzt eine Voraussetzung für Gespräche?
Daniel Thym beschreibt in einem am Wochenende erschienenen FAZ-Artikel eine Agenda zur Überwindung einer „expansiven Menschenrechtsjudikatur“, die die Freiheit der Staaten zunehmend beschränke. Der juristische Gutachter und Oberstratege der CDU/CSU beschreibt minuziös die Strategie, durch gezielte und kalkulierte Rechtsverletzungen den Geltungsbereich der Menschenrechte sukzessive einzuschränken und dabei darauf zu hoffen, dass der öffentliche Diskurs darüber mittelbar auch die Gerichte veranlasst, den Menschenrechten weniger Raum einzuräumen.
Aus der aktuellen Debatte wird deutlich, dass der Versuch eines Umbaus längst stattfindet: Die offensive Infragestellung auch der Rechtsprechung des EUGH oder des BVerfG zur Vergrößerung staatlicher Handlungs- und Regulationspotenz ist Teil dieser Strategie. Begründet werden die Forderungen nach einer Änderung der Grundgesetzes und nach einem „Faktischen Einwanderungsstopp“ (Merz) mit einer angeblich bestehenden „nationalen Notlage“: Es kämen zu viele Migranten ins Land, Deutschland sei überfordert. „Es reicht. Es ist jetzt genug. Jetzt müssen wir mal Konsequenzen ziehen gegenüber dieser irregulären, anhaltenden Migration nach Deutschland.“ Die illegale Einwanderung in Deutschland sei „aus dem Ruder“ gelaufen, dem Bundeskanzler „entgleitet mittlerweile das eigene Land„. FDP-Vorsitzender Lindner attestiert: „Die Leute haben die Schnauze voll davon, dass der Staat die Kontrolle über Migration verloren hat bei Einwanderung und Asyl nach Deutschland“
Wer Migration zum Problem erklärt und für steigende Zustimmung zu rechtsextremen Positionen Geflüchtete verantwortlich macht, gießt Öl ins Feuer und bereitet den Boden für Gewalt. Schon während der sog. „Baseballschlägerjahre“ vor 30 Jahren haben wir erleben müssen, wie politische Kampagnen gegen Geflüchtete und die Beklagung einer angeblich überforderten Regierung eine beispiellose Gewalt gegen Schutzsuchende legitimiert und freigesetzt hat. Das wollen wir nicht wieder erleben.
So dramatisch sich das Terrorattentat von Solingen darstellt – es ist sicher kein Grund für eine Instrumentalisierung zum Zwecke der Abwehr von Migrant*innen und Geflüchteten. Verbrechen mit Messern sind leider alltäglich, die Zahl der Delikte geht in die Tausende jährlich. „Es ist ein Problem der politischen Kultur geworden, dass zumindest bestimmte Parteien solche Delikte, die es auch schon vor 20 Jahren gab, instrumentalisieren und damit bestimmte Erklärungsmuster und Forderungen verbinden“, so der Kriminologe Dirk Baier. „Eine einzelne Tat wird dann sofort zum Versagen der jetzigen Politik hochstilisiert. Und das macht etwas mit den Menschen, gerade bei so schweren Taten, die enorm emotionalisieren. Dann werden Vorurteile, die in der Bevölkerung gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen bestehen, befeuert und davon abgeleitet, dass unsere Gesellschaft auf dem völlig falschen Weg wäre.“
1,3 Millionen Geflüchtete sind in den vergangenen Jahren allein aus Syrien und Afghanistan nach Deutschland geflohen. Eine erhebliche Anzahl von ihnen hat sich erfolgreich in die deutsche Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt integriert, zahlt Steuern und Sozialabgaben. Wer diese Menschen nun wegen eines fürchterlichen Anschlags zum Problem erklärt, vergiftet das gesellschaftliche Zusammenleben, fördert Rassismus und legt die Lunte für neue Brandanschläge. Wir appellieren an Sie, sich nicht in diese Strategie einbinden zu lassen, und das Grundgesetz sowie die im EU- und Völkerrecht kodifizierten Menschenrechte weiterhin zur Richtschnur Ihres Handelns zu machen.
Nachtrag: Siehe auch: Warum Zurückweisungen rechtlich umstritten sind, Tagesschau vom 06.09.2024
Ja so ist es bedauerlicherweise. Es wird immer schwieriger Ihre Position – der ich zustimme – zu erklären und zu verteidigen.
Vielen Dank für diese exakte Analyse auf kleinem Raum! Es ist nur zu hoffen, dass sich Sozialdemokrat:innen davon noch erreichen lassen.