Nachfolgend dokumentieren wir eine Ausarbeitung von Christiane Maurer, die den jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amts zu Irak (Stand 04/2024) unter besonderer Berücksichtigung der Lage der Êzîd:innen inhaltlich zusammenfasst und kommentiert, anschließend auch die Informationen zur spezifischen Lage der Êzîd:innen aus dem BAMF Länderreport 68 (340751 IRQ vom 01.04.2024) einbezieht. Gegenüber dem Lagebericht des AA von Oktober 2022 sind etliche Ergänzungen zur Lage der Êzîd:innen aufgenommen worden. Das Fazit von Frau Maurer:
Die dringendste Frage, wohin Êzîd:innen im Irak überhaupt gehen sollten, bleibt ungelöst und ungewiss. Wenn es in den Camps in der Autonomen Region Kurdistan im Irak (Kurdistan Region of Iraq – KR-I) bereits Wartelisten gibt und dort die Lage lt. BAMF Länderreport 68, bereits als prekär, extrem oder katastrophal beschrieben wird, kann dies, nach 10-jähriger andauernder Vertreibung und Verelendung, weder als innerländische Fluchtalternative noch als menschenwürdige Rückkehrmöglichkeit angesehen werden. Zumal die Situation in der KR-I, außerhalb der Camps, als noch schlechter dargestellt wird und die noch vorhanden Camps dazu noch geschlossen werden sollen.
Laut beiden Berichten ist eine Sicherung der elementarsten Grundbedürfnisse und eine sichere Rückkehrmöglichkeiten in die Heimatregion Shingal und in die umstrittenen Gebiete in der Provinz Ninawa, aus der die Êzîd:innen mehrheitlich stammen, derzeit ebenfalls nicht möglich.
Lt. beiden Berichten leiden religiöse Minderheiten im Zentralirak häufig unter weitreichender Diskriminierung und wären dem Schutz ihrer Gemeinschaft entrissen. Der irakische Staat kann den Schutz der Minderheiten dort nicht sicherstellen, so dass der Zentralirak als Rückkehr- bzw. Siedlungsalternative ebenfalls nicht in Frage kommt. Es ist für Êzîd:innen demnach faktisch somit ausgeschlossen, irgendwo im Irak ein menschenwürdiges Leben in Sicherheit aufbauen zu können, zumal Hilfsangebote von NGO`s rückläufig sind, die VN keinen humanitären Bedarfsplan mehr aufgelegt haben und bisher weder das Sindschar-Abkommen umgesetzt noch die Entschädigungszahlungen aufgenommen wurden. Die internationalen humanitären Unterstützungsmaßnahmen haben sich damit signifikant reduziert und werden nicht adäquat vom irakischen Staat kompensiert, sodass eine Verschlimmerung in noch größere Verelendung droht.
Der Lagebericht weist auf die Anerkennung des Völkermordes hin, welcher nun auch in den Auswirkungen auf die gesamte êzîdische Gemeinschaft, u.a. als kollektives anhaltendes Trauma, Berücksichtigung findet. Die Vulnerabilität, insbesondere von Frauen und Kindern, aber auch von Männern, wird hiermit aufgrund ihrer Erfahrungen der erlebten Massengräuel berücksichtigt. Es gibt weder von kurdischer noch irakischer Seite staatliche Anerkennung oder Hilfe zur Bewältigung oder soziale Integration und die wenigen psychologischen Unterstützungsmöglichkeiten durch NRO`s wurden dazu noch signifikant zurückgefahren. Ferner wird ausgeführt, dass das kollektive Trauma des Völkermords für Mitglieder der êzîdischen Gemeinschaft häufig ein Rückkehrhindernis darstellt, weil eine Rückkehr in die traditionellen Siedlungsgebiete und Orte des IS-Verbrechens in Sinjar, Erinnerungen heraufbeschwört und Angst vor einer Wiederholung der Gräuel besteht. Hieraus ergibt sich bereits der berechtigte Zweifel, ob es Völkermordüberlebenden zumutbar ist, an den ehemaligen Tatort und zu den teils noch dort vorhandenen Tätern und der weiterhin in Teilen der Mehrheitsbevölkerung vorhandenen Ideologie des IS, zurückkehren zu müssen. Wie im Bericht erwähnt, ist insbesondere in den zwischen der Zentralregierung in Bagdad und der kurdischen Regionalregierung umstrittenen Gebieten, also in dem ehemaligen êzîdischen Kerngebiet, ein Sicherheitsvakuum, wo Elemente vom sog. IS im Untergrund aktiv sind, entstanden. Hinzu kommt, dass im Bereich der Sicherheitskooperation zwischen Bagdad und Erbil im Kampf gegen den sog. IS, genau in diesen „umstrittenen êzîdischen Gebieten des erlebten Genozids“ eine nachhaltige Lösung weiterhin aussteht. Demnach ist dort eine Sicherheit für Êzîd:innen derzeit nicht gewährleistet und eine Rückkehr mit nicht tragbaren Risiken verbunden.
Gleichzeitig wird auf Wunsch des Irak die VN-Ermittlungen zu den Verbrechen des sog. IS im September eingestellt werden. Dies beraubt die êzîdische Gemeinschaft nochmals zusätzlich der einzigen Hoffnung auf echte Gerechtigkeit und es wird bezweifelt, dass der Irak ein wirkliches Interesse daran hat, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen aufzuklären und gerichtlich zu verfolgen, was das Vertrauen und den Glauben an eine sichere Zukunftsperspektive nochmals erschüttert.
Es wird abzuwarten sein, wie Entscheider, Gerichte und Behörden diese neuen Berichte werten werden. Insbesondere, wie sie die Frage beantworten werden, wohin Êzîd:innen im Irak überhaupt gehen und sich ein sicheres menschenwürdiges Leben aufbauen sollten.
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Zum Asyllagebericht Irak Stand 04/2024: Situation der Êzîd:innen im Irak
Als Reaktion auf den Vorstoß des sogenannten „Islamischen Staats« („sog. IS“) wurden 2014 viele bewaffnete Milizen im Irak mobilisiert. Sie stehen formal, oft jedoch nicht de-facto, unter Regierungskontrolle und erhalten z.T. staatliche Zahlungen. Gewalttaten gegen Zivilisten gehen nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen und den Vereinten Nationen (VN) auch von irakischen Sicherheitskräften und diesen Milizen aus. Einige dieser Milizen unterstehen keiner staatlichen Befehlskette und finanzieren sich in Teilen aus kriminellen Aktivitäten (Entführungen zum Zweck der Lösegelderpressung, für Schutzgelderpressung, illegale Wegezölle an Checkpoints, Drogenherstellung und -handel etc.).
Der sog. IS wurde 2017 in Irak in der Fläche besiegt. Trotzdem bleibt er als terroristische Organisation eine Gefahr und in der Lage, landesweit Anschläge zu verüben. Insbesondere in den zwischen der Zentralregierung in Bagdad und der kurdischen Regionalregierung in Erbil umstrittenen Gebieten ist ein Sicherheitsvakuum entstanden (Êzîdisches Kerngebiet Shingal/Ninawa). Dort sind Elemente vom sog. IS im Untergrund aktiv. Berichte über Anschläge durch die Terrororganisation gehören noch immer zum irakischen Alltag.
In der Autonomen Region Kurdistan im Irak (Kurdistan Region of Iraq – KR I) kommen zu den Sicherheitsrisiken regelmäßige Angriffe des türkischen Militärs hinzu, die sich gegen mutmaßliche PKK-Stellungen im Norden der autonomen Region richten. Zudem haben seit dem 7. Oktober und dem darauffolgenden Gaza-Krieg verschiedene Iran-nahe Milizen, die sich selbst unter den Namen als „Islamistischer Widerstand Irak“ (IRI) gruppieren, ihre Angriffe mit Raketen und Drohnen auf die Stützpunkte von internationalen und insbesondere US- Gruppen in Irak intensiviert.
Auch im Bereich der Sicherheitskooperation zwischen Bagdad und Erbil im Kampf gegen den sog. IS, insbesondere in den sogenannten „umstrittenen Gebieten“ (Êzîdisches Siedlungsgebiet), ist eine nachhaltige Lösung weiterhin ausstehend.
Das vom VN-Sicherheitsrat 2017 eingesetzte VN-Ermittlungsteam zu den Verbrechen des sog. IS (United Nations Investigative Team to Promote Accountability for Crimes Committed by Da’esh / ISIL“ UNITAD) untersucht diese, von forensischer Arbeit inkl. Exhumierungen im Nordirak bis hin zur Untersuchung der Finanzströme der Terrororganisation. Das Ermittlungsteam hat sich dabei in den vergangenen Jahren intensiv der Aufarbeitung der Verbrechen an der êzîdischen Gemeinschaft gewidmet. Das Mandat von UNITAD soll nun auf Wunsch der irakischen Regierung zum 17. September 2024 auslaufen. Als Grund gibt die irakische Regierung an, mit der Zusammenarbeit mit UNITAD unzufrieden zu sein, insbesondere, weil Ermittlungsergebnisse an Drittstaaten, jedoch nicht an IRQ übergeben werden (da in Irak für IS-Terrorismus die Todesstrafe verhängt wird). Vertreter: innen der êzîdischen Gemeinschaft und anderer Minderheiten kritisieren diese Entscheidung, handelt es sich doch bei UNITAD bislang um den einzigen (zwischen-)staatlichen Mechanismus zur rechtlichen Aufarbeitung.
Anmerkung: Hierzu äußerten 50 Organisationen ihre Besorgnis zur Einstellung der UN-Ermittlungen: Zitat: „Viele Überlebende und die unterzeichnenden Organisationen sehen in UNITAD die einzige Hoffnung auf echte Gerechtigkeit im Irak. Würde die Arbeit der Organisation so abrupt eingestellt, während noch kein einziges ISIL-Mitglied im Irak wegen schwerer Völkerrechtsverbrechen (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen) vor Gericht gestellt wurde, wäre dies eine Katastrophe für die Überlebenden, den Irak und die internationale Gemeinschaft. Es würde das Signal aussenden, dass Gerechtigkeit keine wirkliche Priorität hat, dass das Vertrauen der Überlebenden umsonst aufgebaut wurde und dass ihre Zeugenaussagen und ständigen Forderungen nach Gerechtigkeit vergebens waren. Quelle: https://www.yazda.org/concerns-about-the-non-renewal-of-unitads-mandate-in-iraq
Offiziell anerkannte Minderheiten, wie chaldäische und assyrische Christ:innen sowie Êzîd:innen, genießen in der Verfassung verbriefte Minderheitenrechte. Eine unmittelbare Diskriminierung und Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch den Staat findet nicht statt (was negative Einzelerfahrungen mit staatlichen Akteuren nicht ausschließt). Mitglieder der êzîdischen Gemeinschaft halten sich noch immer primär in der Region Kurdistan-Irak auf – einerseits, weil sie hier eine größere individuelle Sicherheit genießen, andererseits aber auch, weil sich die verbleibenden Camps für Binnenvertriebene insbesondere im Raum Erbil/Dohuk befinden. Angesichts mangelnder Zukunftsperspektiven, fortbestehender Sicherheitsvorfälle in den Ursprungsgemeinden und fehlender (sozialer) Infrastruktur in ihrem ursprünglichen Siedlungsgebiet Sinjar entscheiden sich viele Êzîd:innen noch immer für einen Verbleib in diesen Camps, in denen eine Mindestversorgung durch Hilfsorganisationen gewährleistet ist. Die Umsetzung einer angekündigten Schließung dieser Camps (s.u.) hätte möglicherweise weitreichende humanitäre, sicherheitliche und destabilisierende Folgen. Insbesondere außerhalb der RKI kommen Benachteiligungen und Diskriminierungen durch die Mehrheitsgesellschaft vor.
Seit dem territorialen Sieg über den sog. IS im Oktober 2017 werden Minderheiten nicht mehr systematisch vom sog. IS verfolgt. Dennoch berichten Angehörige von Minderheiten insbesondere in den sogenannten umstrittenen (êzîdischen) Gebieten von Unsicherheit, die aus der Präsenz verschiedener bewaffneter Gruppierungen resultiere – neben irakischen Streitkräften und Peschmerga vor allem schiitischen Milizen und die PKK, insbesondere in Sinjar. Auch von türkischen Luft- und insbesondere Drohnenangriffen geht weiterhin eine Bedrohung aus. Menschenrechtsverletzungen wie insbesondere Kinder- und Zwangsehen sind regelmäßig auch innerhalb der vorgenannten verfolgten Gruppen zu beobachten, die diese Ehen teils als Garantie für den Bestand ihrer Gemeinschaft im herausfordernden Umfeld Irak wahrnehmen, Die endogame, êzîdische Gemeinschaft nimmt beispielsweise die Kinder von êzîdischen Frauen, die aus Zwangsehen mit Kämpfern des sog. IS entstanden sind, nicht wieder in ihre Gemeinschaft auf. Die betroffenen êzîdischen Frauen stehen nach einer Rückkehr aus der IS-Gefangenschaft häufig vor der Wahl, entweder in êzîdische Gemeinschaft zurückzukehren oder bei ihren Kindern zu bleiben ohne staatliches soziales Netz oder Sicherungssystem. Den Betroffenen stehen damit i.d.R. nur Unterstützungsmaßnahmen von NROs zur Verfügung. Der Erhalt von Personenstandsdokumenten und damit der Zugang zu Sozialsystem und Bildungsmöglichkeiten bleibt insbesondere für Kinder ohne nachweisbare Vaterschaft eine Herausforderung.
In der RK I und den sog. umstrittenen Gebieten befinden sich noch 23 formelle Camps für Binnenvertriebene, die Stand heute laut einer Beschlusslage des Ministeriums für Migration und Vertreibung bis Ende Juli 2024 allerdings aufgelöst werden sollen. Ähnliche Deadlines in der Vergangenheit waren jedoch nicht umgesetzt worden. Gleichzeitig reduziert sich durch Zusammenlegung von Lagern deren Anzahl. So ist geplant, im Gouvernorat Erbil in den kommenden Monaten sechs Camps für Binnenvertriebene zu schließen. Die Umsetzung der geplanten Campschließung würde insb. Êzîd:innen treffen, die den Großteil der ca. 125.000 IDPs in den 15 Lagern um Duhok und Zako ausmachen. Eine Schließung von Camps und ein Umzug der Bewohner: innen in sogenannte „informal settlements“ stellt eine Verschlechterung ihrer Lebensumstände dar. In informellen Siedlungen werden den IDPs beispielsweise Leistungen, die in Camps von Regierungen (Erbil und Bagdad) bzw. NGOs gewährt werden, nicht zuteil (Nahrung, Wasser, Bildung, etc.). So teilte IOM mit, dass viele Familien aufgrund der besseren Versorgung freiwillig in den formellen Camps bleiben möchten. Außerdem kehren immer wieder Binnenvertriebene nach einer versuchten Rückkehr in ihre Heimatgemeinden abermals in die Lager zurück – es mangelt in den Heimatgemeinden an Basisversorgung, wirtschaftlichen Perspektiven und Sicherheit (insbesondere Sinjar).
Laut Angaben der VN sind derzeit 2,3 Millionen Menschen in Irak auf humanitäre Unterstützung angewiesen, davon rund eine Million mit akutem Hilfebedarf. Die VN haben im Jahr 2023 keinen humanitären Bedarfsplan mehr aufgelegt. Die internationalen humanitären Unterstützungsmaßnahmen haben sich damit signifikant reduziert und werden nicht adäquat vom irakischen Staat kompensiert.
Hindernisse für die Rückkehr der Binnenvertriebenen sind v.a. mangelnde Sicherheit, die Kontaminierung durch Sprengfallen, die Bedrohung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure, die innergesellschaftlichen Spannungen, fehlende Unterkünfte und Basisversorgung und die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit. Hinzu kommt insbesondere in den zwischen Bagdad und Erbil umstrittenen Gebieten die Unsicherheit bezüglich des Verhaltens irakischer Sicherheitskräfte und der ihnen formell zugehörigen Popular Mobilisation Forces-Milizen (PMF-Milizen). Aber auch Aktivitäten des sog. IS tragen dazu bei. Gewichtigste Hindernisse für die Rückkehr der Binnenvertriebenen in ihre Heimatgemeinden sind laut IOM jedoch fehlende wirtschaftliche Perspektiven, fehlende Bildungsangebote und fehlende soziale Infrastruktur vor Ort.
Die Regierung engagiert sich zwar symbolisch stark in relevanten Bereichen wie wirtschaftlichen Reformen, Klimawandel oder der Lage von Minderheiten, konkrete Reformschritte blieben bisher jedoch aus.
Derzeit ist es staatlichen Stellen zudem nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen.
PMF-Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen, handeln eigenmächtig und weitgehend unkontrolliert. In Sinjar haben sich zudem mutmaßlich PKK-nahe Strukturen entwickelt. Diese Entwicklungen gehen nach Informationen von Menschenrechtsorganisationen sowie der VN einher mit Repressionen, mitunter auch extralegalen Tötungen sowie Vertreibungen von Angehörigen der jeweils anderen Konfession.
1.3 Minderheiten
In Irak kann es in der Vergangenheit immer wieder zu Versuchen gewaltsamer ethnisch-konfessioneller Säuberungen, zuletzt durch den Terror des sog. IS, aber auch im Zuge der Befreiung der von der Terrororganisation besetzten Gebiete 2014-2017. Das Misstrauen unter den verschiedenen ethnischen Gruppen ist groß, gerade in den ethnisch heterogenen Provinzen Kirkuk, Diyala, Teilen von Ninewa und Salah Al Din. Die arabisch-sunnitische Bevölkerung wird bis heute vielfach unter den Generalverdacht einer Zusammenarbeit mit den Terroristen des sog. IS gestellt. Der Diskriminierung und Gewalt beschuldigt werden dabei auch Angehörige der staatlichen Sicherheitskräfte, insbesondere der von der Regierung nur teilweise kontrollierbaren Milizen und, in der RK I, der kurdischen Peschmerga/des kurdischen Sicherheitsdienstes (Asayisch).
1.4 Religionsfreiheit
Gemäß Art. 2 Abs. ist der Islam die Staatsreligion und eine Hauptquelle der Gesetzgebung.
Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von irakischen Gesetzen aus der Zeit vor der Verfassungsänderung, vor allem das Strafgesetzbuch und das von der Scharia beeinflusste Personenstandsgesetz, die u.a. Frauen diskriminieren und sie nicht vor Gewalt schützen.
Mit der Einführung eines neuen Personalausweises im Jahr 2015 wurde der Eintrag zur Religionszugehörigkeit dauerhaft abgeschafft. Allerdings wurde auch wieder ein religiöse Minderheiten diskriminierender Passus aufgenommen: Art. 26 des Gesetzes zum Personalausweis stipuliert, dass Kinder eines zum Islam konvertierenden Elternteils automatisch auch als zum Islam konvertiert geführt werden. Darüber hinaus gilt, dass Kinder mit einem muslimischen Elternteil oder einem unbekannten Elternteil automatisch als muslimischen Glaubens registriert werden. Dies führt zu rechtlichen Schwierigkeiten und verstärkt soziale Ausgrenzung von Kindern aus IS Zwangsehen bzw. -Vergewaltigungen, was insbes. Êzîd:innen betrifft. In der Konsequenz können êzîdische Frauen, die mit Kindern aus Vergewaltigungen nach einer IS-Gefangenschaft zurückkehren, ihre Kinder nicht wie gesellschaftlich üblich registrieren denn dafür wären Namen und Personenstandsdokumente des Vaters erforderlich. Eine rechtlich zwar mögliche Registrierung mit „unbekanntem Vater“ würde zur sozialen Stigmatisierung von Frau und Kind führen. In der Konsequenz erhalten Mütter keinen Zugang zu Basisdienstleistungen für ihre Kinder.
Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung religiöser oder ethnischer Minderheiten durch staatliche Behörden findet nicht statt. Religiöse Minderheiten können im Alltag jedoch gesellschaftliche Diskriminierung erfahren. Übergriffe werden selten strafrechtlich angezeigt oder verfolgt. Die jüdische Gemeinde in Irak ist auf drei Personen geschrumpft. Auf ihre Vorsitzende wurde 2023 (erfolglos) ein Mordanschlag verübt. Die Gemeinde bemüht sich um geringstmögliche Visibilität.
Die Hauptsiedlungsgebiete der religiösen Minderheiten liegen im Nordirak in den Gebieten, die seit Juni 2014 teilweise unter der Kontrolle des sog. IS standen. Hier kam es zu gezielten Verfolgungen von Êzîd:innen, Mandäer:innen, Kaka:innen, Schabak:innen und Christ:innen. Es liegen zahlreiche Berichte über Zwangskonvertierungen, Versklavung und Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, Folter, Rekrutierung von Kindersoldaten, Massenmord und Massenvertreibungen vor. Auch nach der Befreiung der Gebiete wird die Rückkehr der Bevölkerung durch noch fehlenden Wiederaufbau, eine unzureichende Sicherheitslage, unklare Sicherheitsverantwortlichkeiten sowie durch die Anwesenheit unterschiedlicher Milizen zum Teil erheblich erschwert. In der RKI sind Minderheiten weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt. Hier haben viele Angehörige von Minderheiten aus anderen Landesteilen sowie Nachbarstaaten Zuflucht gefunden. Anfang 2025 wird ein Urteil des Obersten Gerichtshofes zu den 11 (von 111) für Minderheiten vorgesehenen Quotenplätze im kurdischen Regionalparlament erwartet. Mit dessen Abschaffung, wäre eine formale Repräsentation der Minderheiten nicht mehr gewährleistet.
Anmerkung: Wobei die êzîdische Bevölkerung mit einem einzigen Sitz ohnehin niemals repräsentiert war bzw. ist.
1.7 Handlungen gegen Kinder
Laut UNICEF benötigen weiterhin 1,3 Millionen Kinder humanitäre Unterstützung. Über 800.000 Kinder unter 5 Jahren gelten als unterernährt. Kinderarbeit ist in Irak untersagt; dennoch arbeiten geschätzt eine halbe Million Kinder. Die Armut begünstigt darüber hinaus Entführungen und Kinderhandel. Kinderehen sind – obwohl gesetzlich verboten – vor allem in ärmeren Schichten weit verbreitet.
Sehr viele Kinder und Jugendliche sind durch Gewaltakte gegen sie selbst oder gegen Familienmitglieder stark betroffen. Es gibt Berichte, nach denen eine Vielzahl an Kindern vom sog. IS als Kindersoldaten eingesetzt wurde und von dessen Umerziehungskampagnen traumatisiert ist. Die Sicherheitslage, die Einquartierung von Binnenvertriebenen und die große Zahl zerstörter Schulen verhindern mancherorts den Schulbesuch, besonders in ländlichen Gebieten.
1.8 Geschlechtsspezifische Verfolgung
Art. 41 bestimmt jedoch, dass Iraker Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Viele Frauen kritisieren diesen Artikel als Grundlage für eine Re-Islamisierung des Personenstandsrechts und damit eine Verschlechterung der Stellung der Frau. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsangehörigkeitsrecht. Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. Frauen sind im Alltag Diskriminierung ausgesetzt, die ihre gleichberechtigte Teilnahme am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben im Irak verhindert. Die prekäre Sicherheitslage in Teilen der irakischen Gesellschaft und insbesondere unter Binnenvertriebenen hat negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen.
Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken, Frauen wird überproportional der Zugang zu Bildung und Teilnahme am Arbeitsmarkt verwehrt.
Viele Frauen und Mädchen sind auch durch Flucht und Verfolgung besonders gefährdet. NROs berichten über Zwangsprostitution irakischer Mädchen und Frauen im Land und in der Nahost- und Golfregion. Im Zuge des Vormarschs des sog. IS auf Sinjar sollen im Jahr 2014 über 5.000 êzîdische Frauen und Mädchen verschleppt worden sein, von denen Hunderte später als „Trophäen“ an IS-Kämpfer gegeben oder nach Syrien „verkauft“ wurden. Diese Frauen wurden nach Niederlage des IS und wiedererlangter Freiheit oftmals von ihren Familien aus Gründen der Tradition verstoßen oder sie wurden gezwungen, die aus den Zwangsehen entstandenen Kinder zu verstoßen. Um den besonderen Bedarf an traumatologischer und psychologischer Betreuung zu decken wurde an der Universität Dohuk ein eigenes Traumazentrum mit einem Studiengang zur traumatologischen Betreuung gegründet.
Anmerkung: der enorme Bedarf an traumatologischer Betreuung kann derzeit jedoch noch nicht einmal im Ansatz gedeckt werden. Siehe hierzu ADrs. 20(17)16 Deutscher Bundestag, Stellungnahme von Prof. Jan Ilhan Kizilhan v. 20.06.2022. Quelle: https://www.bundestag.de/resource/blob/899614/d8cd0f1b7a1b3da9da32adc4efd7aae9/SV-Kizilhan.pdf
2. Repressionen Dritter
Neben die staatliche tritt die Repression durch nichtstaatliche Akteure, vor der Regierung und Staat die Bürger nicht schützen können. Auch wenn das „Kalifat“ des sog, IS in Irak territorial besiegt ist, bleibt die Terrororganisation weiterhin.
Auch die im Kampf gegen den sog. IS mobilisierten, mehrheitlich schiitischen und zum Teil von Iran unterstützten PMF-Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen je nach Einsatzort und gegebenen lokalen Strukturen eine erhebliche Bedrohung dar. Die PMF-Milizen finanzieren sich auch durch Schutzgelderpressung oder Schmuggel. Durch die teilweise Einbindung der PMF-Milizen in staatliche Strukturen (formaler Oberbefehl des Premierministers, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren.
Die Terrormiliz des sog. IS ist zwar zurückgedrängt aber weiterhin – wenn auch im „Verborgenen“ -aktiv, insbesondere in den Gegenden um Kirkuk, Mosul, Tal Afar (Ninewa) und in der Provinz Diyala. Sie hat einen Strategiewechsel vorgenommen und setzt auf eine asymmetrische Kriegsführung aus dem Untergrund mit kleineren Anschlägen, wie zum Beispiel Sprengfallen am Straßenrand, die gezündet werden, sobald irakische Sicherheitskräfte vorbeifahren. Nach einem Rückgang der Anschlagszahlen des sog. IS im Jahr 2023 ist seit Anfang 2024 wieder eine verstärkte Aktivität des sog. IS nachzuvollziehen, einschließlich in Bagdad.
Die Türkei führt regelmäßig Luftangriffe auf PKK-Stellungen in Nordirak durch.
Trotz der verfassungsrechtlichen Gleichberechtigung leiden religiöse Minderheiten im Zentralirak häufig unter weitreichender Diskriminierung. Der irakische Staat kann den Schutz der Minderheiten nicht sicherstellen.
Anmerkung: Aufgrund dieser Aussage sollte eine interne Fluchtalternative oder Abschiebung im Zentralirak für Êzîd:innen unmöglich sein!
Im Zuge des Vormarsches des sog. IS seit Mitte 2014 kam es zu kollektiven Vertreibungen (Êzîd:innen, Christ: innen, Schabak:innen, Turkmen:innen) sowie einem Völkermord an den Êzîd:innen (vgl. B T-Beschluss vom 19.1.23, BT-Drs. 20/5228). Im Zuge der Rückeroberung von durch den sog. IS besetzten Gebieten waren besonders in den zwischen der RK I und der Zentralregierung umstrittenen Gebieten (Provinz Kirkuk, Teile von Ninewa, Salah Al Din und Diyala) Tendenzen zur gewaltsamen ethnisch-konfessionellen Homogenisierung festzustellen. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen im Irak (UNAMI) und Amnesty International haben dokumentiert, wie angestammte Bevölkerungsgruppen vertrieben bzw. Binnenvertriebene an der Rückkehr gehindert wurden.
Êzîd:innen
Die Zahl der monotheistisch-synkretistischen Êzîd:innen in Irak lag nach eigenen Angaben vor 2014 bei etwa 450.000 bis 500.000. Die Mehrzahl siedelte im Norden Iraks, v. a. im Gebiet um die Städte Sinjar (zwischen Tigris und syrischer Grenze), Schekhan (Provinz Ninewa) und in der Provinz Dohuk. Die größte êzîdische Diaspora weltweit lebt in Deutschland.
Das Vorrücken des sog. IS in Sinjar löste eine Fluchtwelle von etwa 200.000 Personen aus. Die IS-Propaganda bezeichnet Êzîd:innen als Apostaten und Teufelsanbeter. Mehrere êzîdische Pilgerstätten wurden zerstört. Gewalttaten und Verbrechen wie gezielte Tötungen, Massaker an Êzîd:innen, Verschleppungen sowie Vergewaltigungen und Verstümmelungen êzîdischer Frauen wurden von UNAMI und OHCHR untersucht und dokumentiert. Aus Sicht des Investigationsmechanismus der VN, UNITAD, handelt es sich bei den Verbrechen gegen die êzîdische Gemeinschaft um einen Völkermord. Dieser Einschätzung folgte auch der Deutsche Bundestag mit seinem Beschluss vom 19.1.2023 zur Anerkennung der Verbrechen des sog. IS gegen die êzîdische Gemeinschaft als Völkermord. Die Êzîd:innen stellen noch einen Großteil der Binnenvertriebenen in den Binnenvertriebenenlagern in der Provinz Dohuk. Die volatile Sicherheitslage und die schlechte Versorgungslage in den Herkunftsgebieten (u.a. kein fließendes Trinkwasser, keine geregelte Stromversorgung, zerstörte Gebäude, Mangel an öffentlichen Dienstleistungen) aber auch der vielfach mit Minen und Sprengfallen kontaminierte Grund und Boden hält viele Binnenvertriebene von einer Rückkehr ab. Zudem gibt es kaum Möglichkeiten, ein Einkommen zu sichern. Vielen Êzîd:innen fehlt es für eine Rückkehr zudem an Vertrauen, dass sich ähnliche Gräueltaten nicht wiederholen werden.
Die Anzahl der Selbstmorde von Überlebenden und anderen sind in den letzten Monaten laut Aussagen von zwei NGOs, von denen eine seit 2022 an einem Suizidpräventionsprojekt und die andere seit vielen Jahren insbesondere mit êzîdischen Überlebenden arbeitet, offenbar angestiegen. Da das Thema allerdings nach wie vor ein Tabuthema ist, fehlt es an offiziellen Statistiken hierzu. Fehlende Hoffnung, fehlende Perspektiven und Ungewissheiten aufgrund der oben genannten Gründe, die eine Rückkehr nach Sinjar verhindern, könnten als relevante Faktoren angenommen werden. Ebenso werden prekäre wirtschaftliche Bedingungen und fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten von den beiden NGOs genannt. Hinzu kommt Traumatisierung aufgrund der IS-Verbrechen, die zwar Überlebende aus der IS-Gefangenschaft besonders hart trifft, aber sich auf die gesamte Gemeinschaft mit ihren Flucht-, Angst- und Verlusterlebnissen auswirkt. Gleichzeitig wurden Angebote psychologische Betreuung (MHPSS), die in den Camps von den Vereinten Nationen oder anderen implementierenden Organisationen (NGOs) umgesetzt werden, aufgrund des signifikanten Mittelrückgangs erheblich reduziert. Staatliche Unterstützungsangebote gibt es nicht. Die für den 31.7.24 von der zentralirakischen Regierung geplanten Camp-Schließungen mit auslaufender Versorgung und Betreuungsangeboten haben die Situation und Ängste signifikant verschärft. Auch in Fällen von häuslicher und/oder sexueller Gewalt hätten laut irakischen Menschenrechtler:innen einige Betroffene nur den Selbstmord als einziger Ausweg gesehen.
Zum Verbleib zahlreicher Entführungsopfer gibt es noch immer keine gesicherten Erkenntnisse. Das Religionsministerium der RK I zählte mit Stand Februar 2024 6.417 Fälle von Entführungen, davon sollen ca. 2.575 überlebt haben, das Schicksal von ca. 2.640 Entführungsopfern bleibt weiterhin ungewiss. Bisher wurden in Sinjar ca. 70 Massengräber entdeckt, darüber hinaus Dutzende Einzelgräber. Die Zahl der verwaisten Kinder beläuft sich bisher auf über 2.700 (Voll- und Halbwaisen). Die Schicksale êzîdischer Frauen sind z.T. besonders erschütternd. Tausende vom sog. IS verschleppte êzîdische Frauen und Mädchen wurden versklavt, Kämpfern als „Kriegstrophäe“ geschenkt oder nach Syrien „verkauft“. Problematisch ist die Situation von Jesidinnen, die von IS-Kämpfern vergewaltigt wurden und Kinder bekamen, von denen sie sich nicht trennen wollten. Einer Rückkehr in ihre Familien zusammen mit diesen Kindern steht der im êzîdischen Glauben und in der Tradition verankerten Normen- und Werte begründenden Praxis der êzîdischen Gemeinschaft entgegen. Ein Versuch des geistigen Rats, eine Rückkehr zu ermöglichen, scheitert nach wie vor am Widerstand der êzîdischen Gemeinschaft. Auch steht das irakische Abstammungsrecht, gemäß dem sich die Abstammung ausschließlich nach dem Vater richtet und Personenstandsdokumente nur bei Nachweis über die Vaterschaft ausgestellt werden können (die Kinder somit keine Êzîd:innen, sondern Muslime sind), dem entgegen und verursacht betroffenen Individuen Probleme bei der Erlangung notwendiger Personenstandsdokumente (IDs, etc.). Viele dieser Frauen halten sich derzeit im Raum Dohuk auf, manche von ihnen versteckt, was die adäquate medizinische und psychologische Betreuung, den Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt zusätzlich erschwert. Zahlreiche Jesidinnen sind noch immer entführt, Angebote für ihren „Rückkauft durch die êzîdische Gemeinde erfolgten u.a. auch aus der Türkei. Das am 01.03.2021 durch das irakische Parlament verabschiedete Entschädigungsgesetz für‘ IS-Opfer (Yazidi Survivor’s Law), welches für weibliche und minderjährige Überlebende von IS-Verbrechen finanzielle Entschädigungen sowie Anerkennung und Rehabilitationsmaßnahmen vorsieht, wird seit Oktober 2022 schleppend umgesetzt.
Ergänzende Anmerkung: Bis Februar 2024 hat noch immer keine einzige Person eine Entschädigungszahlung erhalten, sagte Richter Ammar Mohammed, Leiter des Tel Afar Compensation Committee, welches das Sinjar Compensation Sub-Office beaufsichtigt, gegenüber Human Rights Watch. Quelle: Human Rights Watch v. 13.5.24 “Iraq: Looming Camp Closures in Kurdistan – Displaced Sinjar Residents Imperiled as Compensation, Reconstruction Stalls” Quelle: https://www.hrw.org/news/2024/05/13/iraq-looming-camp-closures-kurdistan
Von einer systematischen Gruppenverfolgung der Êzîd:innen in Irak – wie zu Zeiten der Terrorherrschaft und des Völkermords durch den sog. IS zwischen 2014 und 2017 an der Gemeinschaft – kann gegenwärtig nicht ausgegangen werden. Die irakische Regierung und die kurdische Regionalregierung haben sich dezidiert dazu bekannt, die Lage für Êzîd:innen verbessern bzw. Schutz bieten zu wollen, auch wenn dieser Anspruch in der Realität nicht in allen individuellen Fällen eingelöst werden kann.
Anmerkung: Hierzu gibt es weder einen konkreten Plan beider Regierungen unter êzîdischer Beteiligung, noch hat sich in den letzten 10 Jahren eine Verbesserung ergeben und leere Versprechungen gab es in der Vergangenheit genug. Beispielhaft nicht umgesetzt oder gescheitert sind bisher das Sinjar-Abkommen oder wie zuvor ausgeführt die „Yazidi Survivors‘ Law“.
21.03.2024: Die Denkfabrik Chatham House titelt: “Responding to instability in Iraq’s Sinjar district“ und beleuchtet das Scheitern des Sinjar-Abkommens und die komplexe und gefährliche Gemengelage, welche eine Rückkehr unmöglich macht. Warum das Sindschar-Abkommen bisher nicht umgesetzt wurde und auch weiterhin scheitern wird, wird ausführlich dokumentiert. Derzeit ist eine sichere Rückkehr für Êzîd:innen nicht denkbar. Quelle: https://www.chathamhouse.org/2024/03/responding-instability-iraqs-sinjar-district/01-introduction
Abrufbar unter: https://www.chathamhouse.org/sites/default/files/2024-03/2024-03-19-instability-in-sinjar-saleem-and-mansour_0.pdf
Ebenso das Fazit des Middle East Brief: “Die Bemühungen zur Umsetzung des Sindschar-Abkommens sind nicht nur gescheitert, sondern haben sogar zu neuen Vertreibungswellen und die weitere Militarisierung Sindschars geführt. Im Mai 2022 startete die irakische Armee eine Militäroperation zur Durchsetzung des Abkommens. Im Ergebnis starben dabei ein Dutzend êzîdische Kämpfer und weitere 3.000 Êzîd:innen wurden erneut vertrieben. Quelle: https://www.brandeis.edu/crown/publications/middle-east-briefs/pdfs/101-200/meb151.pdf
So können Minderheiten einschließlich Êzîd:innen im Alltag dennoch Opfer von Diskriminierung werden. Im Haushalt 2023 wurde erstmals ein Wiederaufbaufonds für die Region Sinjar eingerichtet, aus dem u.a. Gesundheitsinfrastruktur finanziert werden soll. Ungeachtet dessen bleiben die Zukunftsperspektiven in Sinjar angesichts herausfordernder Lebensbedingungen, der Präsenz von nicht-staatlichen Milizen sowie einer mangelnden Umsetzung des sog. Sinjar-Abkommens schwierig. Auch das kollektive Trauma des Völkermords stellt für Mitglieder der Gemeinschaft häufig ein Rückkehrhindernis dar, zumal in die traditionellen Siedlungsgebiete und Orte des IS-Verbrechens in Sinjar. Die geplante Schließung von IDP Camps in der RK I bis zum 30. Juli 2024 und damit verbundene Umsiedlung in „informelle Camps“ mit mutmaßlich schlechterer Versorgung würde die Lage der mehrheitlich in Camps lebenden Êzîd:innen zusätzlich verschärfen.
3. Ausweichmöglichkeiten
Bei einigen Binnenvertriebenen kommt es, da eine Rückkehr in ihre (Ursprungsgemeinden nicht möglich ist, zum sogenannte „secondary or third displacement“ sie verbleiben häufig in informellen Camps für Binnenvertriebene. (Dies betrifft gerade auch die Êzîd:innen seit 10 Jahren)
1. Situation für Rückkehrende
1.1 Grundversorgung
Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht durchgehend und auch nicht in allen Landesteilen gewähren.
Gründe für Nichtrückkehr u.a. Mangel an Infrastruktur und staatlichen Dienstleistungen, die volatile Sicherheitslage, die Kontaminierung durch Minen und Sprengfallen und die Bedrohung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure (Milizen) sowie bestehende innergesellschaftliche Spannungen. Dies betrifft insbesondere die vom sog. IS verfolgten Êzîd:innen, von denen aber viele u.a. aus o.g. Gründen, insbes. wegen der volatilen Sicherheitslage, nicht in ihre traditionellen Siedlungsgebiete, v.a. im Sinjar, zurückkehren. Die Heimatgemeinden sind für die Aufnahme der Rückkehrer größtenteils nicht vorbereitet. Rückkehrer: innen sehen sich in ihren Heimatgemeinden oft Widerstand der Bevölkerung ausgesetzt. Die Sicherheit von Rückkehrer:innen aus dem Ausland ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig u. a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort.
1.3 Medizinische Versorgung
Die medizinische Versorgungssituation bleibt angespannt. Korruption ist verbreitet. Die große Zahl von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen belastet das Gesundheitssystem zusätzlich.
Anmerkung: Wegen dem oben angeführten kollektiven Trauma des Völkermordes und steigender Selbstmordraten weisen diverse Organisationen seit langem auf das Fehlen adäquater gesundheitlicher Unterstützung hin:
IOM vom 14.05.24 “Mental Health and Psychosocial Support Needs Assessment in West Ninewa (Baaj, Qairawan, Sinjar and Sinuni)“ Quelle: https://reliefweb.int/report/iraq/mental-health-and-psychosocial-support-needs-assessment-west-ninewa-baaj-qairawan-sinjar-and-sinuni
01.05.2024 International Journal for Equity in Health. Titel: Assessing the mental health needs of Yazidi adolescents and young adults in an Iraqi Kurdi IDP Camp: a focus group study” Quelle: https://equityhealthj.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12939-024-02182-8
20.04.24 World Report, The Lancet, Titel: “Yazidis in Iraq facing an uncertain future” Baghdad has ordered the closure of camps where many Yazidis live, but health systems are unlikely to be able to cope. By Sharmila Devi. Quelle: https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(24)00805-5/abstract
Zusammenfassung und Kommentierung zur Situation der Jesid:innen Irak/Kurdistan anhand 340751 IRQ 01.04.2024 BAMF Länderreport 68. Irak. Die Autonome Region Kurdistan
1.3. Umstrittene Gebiete (Sinjar, Ninawa Hauptsiedlungsgebiet der Êzîd:innen)
Nach dem Rückzug der kurdische Behörden verbleibt nun eine größere Zahl an Kreisen, in denen der irakische Staat nur begrenzt Autorität ausüben kann und in dem stark überproportional Minderheiten wie Shabak, Êzîd:innen, Assyrer und Turkmenen leben.21 Das Machtvakuum in diesen Regionen hat zu einer starken Präsenz der schiitischen Milizen geführt, die ihrerseits den demographischen Wandel zusätzlich beschleunigen.22 Die relativ schwachen staatlichen Strukturen machten zudem viele umstrittene Gebiete zu geeigneten Rückzugsorten für IS-Anhänger und, aufgrund der schwachen Sicherheitsstrukturen, auch deutlich anfälliger für Angriffe.23
Mit dem Wiedererstarken des IS in den umstrittenen Gebieten nahmen auch die Angriffe auf die irakische Infrastruktur wieder zu.
2.1. Gesundheitssystem in der K-RI
Seit dem Beginn des syrischen Bürgerkrieges 2011, und nochmals verstärkt seit dem Beginn des IS-Krieges im Irak 2014, wurde das Gesundheitssystem stark überlastet, da die Einwohnerzahl der KR-I sprunghaft durch internationale Flüchtlinge und IDPs sowie die Kosten des Krieges ansprang.68 Die zuvor getätigten Investitionen ins Gesundheitswesen reichten nicht aus, um diese zusätzliche Nachfrage zu kompensieren.
Ergänzende Anmerkung zur spezifischen êzîdischen Situation:
Außerhalb der K-RI, in den umstrittenen Gebieten des êzîdischen Hauptsiedlungsgebietes, ist gar kein funktionierendes grundversorgendes Gesundheitssystem vorhanden. Insbesondere für die oftmals traumatisierten Êzîd:innen gibt es weder in der K-RI noch irgendwo sonst im Irak adäquate Behandlungsmöglichkeiten. Siehe:
ADrs. 20(17)16 Deutscher Bundestag, Stellungnahme von Prof. Jan Ilhan Kizilhan v. 20.06.2022. Quelle: https://www.bundestag.de/resource/blob/899614/d8cd0f1b7a1b3da9da32adc4efd7aae9/SV-Kizilhan.pdf
IOM vom 14.05.24 “Mental Health and Psychosocial Support Needs Assessment in West Ninewa (Baaj, Qairawan, Sinjar and Sinuni)“ Quelle: https://reliefweb.int/report/iraq/mental-health-and-psychosocial-support-needs-assessment-west-ninewa-baaj-qairawan-sinjar-and-sinuni
01.05.2024 International Journal for Equity in Health. Titel: Assessing the mental health needs of Yazidi adolescents and young adults in an Iraqi Kurdi IDP Camp: a focus group study” Quelle: https://equityhealthj.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12939-024-02182-8
20.04.24 World Report, The Lancet, Titel: “Yazidis in Iraq facing an uncertain future” Baghdad has ordered the closure of camps where many Yazidis live, but health systems are unlikely to be able to cope. By Sharmila Devi. Quelle: https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(24)00805-5/abstract
2.2. Nahrungsmittelversorgung in der K-RI
Neben verschiedenen sozialen Leistungen der kurdischen Regionalregierung ist das irakische Public Distribution System (PDS), das den Bezug von Nahrungsmittelhilfen durch den irakischen Staat erlaubt, auch in der KR-I verfügbar und hilft hier vor allem, die Vulnerabilität von intern Vertriebenen (IDPs) zu senken.72 Es stellt monatlich eine bestimmte Menge an Weizenmehl, Reis, Zucker und Speiseöl zur Verfügung, die einen erheblichen Teil des Kalorienbedarfes einer Person (abhängig vom Verbrauch etwa 70%) abdecken. Das PDS ist dadurch wie auch ansonsten in Irak der größte einzelne Faktor an sozialer Unterstützung für die Bevölkerung. Allein existenzsichernd ist es allerdings nicht und bei der Registrierung der Bezugskarte an neuen Wohnorten kann es zu Problemen kommen. Die Versorgungssituation ist auch aufgrund des hohen Anteils an IDPs und Geflüchteten in der Region unter dauerhafter Beobachtung der Behörden und internationaler Organisationen.73
Ergänzende Anmerkung: Außerhalb der K-RI, in den umstrittenen Gebieten des êzîdischen Hauptsiedlungsgebietes, ist es um die Ernährungssicherheit weitaus schlechter bestellt. Weitere Ausführungen hierzu siehe unter 4.3. Êzîd:innen.
2.3. Waisenkinder in der K-RI
Die Situation von Waisenkindern ist je nach rechtlicher, ethnischer und religiöser Zugehörigkeit sowie nach den Ursachen für die Verwaisung in Irak generell und auch in Kurdistan im Speziellen sehr unterschiedlich. Insgesamt gilt in diesem Bereich wie in praktisch allen sozialen Belangen, dass die Auswirkungen von diversen Kriegen und Wirtschaftskrisen der letzten Jahrzehnte den irakischen Staat stark geschwächt haben und regelmäßig nicht die benötigten Ressourcen zur Verfügung stehen, um die sozialen Bedürfnisse gerade von marginalisierten Gruppen ohne Beziehungen und Fürsprecher zur Verfügung zu stellen.
Ein besonderer Fall ist der von êzîdischen Kindern nach dem Völkermord von 2014. Der erhebliche Blutzoll, gerade unter männlichen Êzîd:innen, die das Hauptziel des IS waren, und die massive Verarmung der êzîdischen Bevölkerung durch die weitgehende Zerstörung der Siedlungen in ihrem traditionellen Siedlungsgebiet haben die sowieso ökonomisch randständige Minderheit überfordert und lang anhaltenden Schaden angerichtet. In vielen solchen Familienverbänden existieren nicht mehr genug Versorger, die überhaupt noch Kinder aufnehmen könnten, zumal viele Êzîd:innen nach wie vor in IDP-Camps leben und der Zugang zum legalen Arbeitsmarkt innerhalb Kurdistans oft eingeschränkt und von Diskriminierungen geprägt ist. Waisenhäuser, auch von NGOs betriebene, existieren zwar; sie versorgen aber nur geringe Zahlen an Kindern.85
2.4. Körperliche Beeinträchtigungen
Obwohl somit eine theoretisch bedeutende Anzahl an rechtlichen Schutzmaßnahmen existiert, erfahren behinderte oder versehrte Menschen sowohl in Kurdistan als auch in Gesamtirak weiterhin umfangreiche Diskriminierung und werden sozial regelmäßig stigmatisiert und eher durch die Familie als durch die benötigten Einrichtungen versorgt, die zudem über zu wenig geschultes Personal verfügen.95
3.1. Türkische Militäroperationen
Seit 2019 hat es in etwa jährlich eine Reihe größerer türkischer Militärinterventionen im nördlichen Irak, v.a. in den Provinzen Dohuk und Ninawa durchgeführt, sowie auf irakischem Gebiet eine große Zahl von Außenposten und einige Militärbasen errichtet.
Unter internationalen Beobachtern ist die Vermutung, dass die türkische Regierung mit mindestens stillschweigender Duldung der kurdischen Regionalregierung agiert, weit verbreitet, zumal die Türkei so seit Jahren das Gewaltmonopol der KR-I unterläuft97 und ihr diverse kriminelle Handlungen gegen die Zivilbevölkerung vorgeworfen werden.98 Zudem unterhält das türkische Militär inzwischen eine große Zahl von Basen und Stützpunkten auf dem Boden der KR-I sowie des angrenzenden Ninawa und baut Infrastruktur zu deren Versorgung aus. Eine dauerhafte Präsenz von 5.000 bis 10.000 türkischen Truppen wird derzeit vermutet.99 Die am weitesten vorgeschobene Basis ist dabei Zilkan, das auf einer Anhöhe in der Ninawa-Ebene ca. 50km südlich der KR-I liegt. Die seit Jahren aufrecht erhaltene Präsenz, die weitgehende Entvölkerung vieler Dörfer in der Grenzregion und die weitgehende Bewegungsfreiheit der türkischen Streitkräfte unterminieren allerdings sowohl die Legitimität der KR-I in der Region als auch deren Gewaltmonopol.
Die Krallenoperationen haben zu erheblichen Verlusten sowohl bei der PKK als auch bei den türkischen Streitkräften und Zivilisten geführt; es ist über die Jahre eine deutliche Bereitschaft zur Eskalation festzustellen, zumal die Operationen militärisch erfolgreich waren und die Kapazitäten der PKK erheblich geschwächt haben.
4. Ethnische und religiöse Gruppen in der KR-I
4.3. Êzîd:innen
Mehr als 200.000 Êzîd:innen gelten weiterhin als vertrieben, die meisten von ihnen leben in der KR-I.163 Die Rückkehr in ihre Herkunftsregionen (v.a. Sinjar/Shingal) wird Berichten zufolge v.a. durch die instabile Sicherheitslage dort verhindert164, zudem bewertet die Internationale Organisation für Migration (IOM) die Lebensbedingungen der Rückkehrer in den Bezirken Tal Afar und Sinjar als besonders schwierig165. Das Gesetz für überlebende Êzîd:innen („Yazidi Survivors‘ Law“)166, welches wirtschaftliche Unterstützung für die Opfer des IS-Terrors167 vorsieht, kommt bislang nicht vollständig zum Tragen.168
Anmerkung: s. Quelle weiter unten; lt. Human Rights Watch: „Bis Februar 2024 hat noch immer keine einzige Person eine Entschädigungszahlung erhalten, sagte Richter Ammar Mohammed, Leiter des Tel Afar Compensation Committee, welches das Sinjar Compensation Sub-Office beaufsichtigt, gegenüber Human Rights Watch.“
Ein großer Teil der êzîdischen Bevölkerung ist ab 2014 nach KR-I geflohen, die meisten von ihnen nach Dohuk.169 Viele der vertriebenen Êzîd:innen leben dort bis heute unter teilweise schwierigen Bedingungen, sowohl innerhalb als auch außerhalb offizieller Flüchtlingslager.170 In der KR-I gibt es aktuell (Stand: Januar 2024) 23 offizielle Flüchtlingscamps.171 Stand 2019 (verlässliche Zahlen aus jüngerer Zeit liegen nicht vor) leben êzîdische Binnenflüchtlinge mehrheitlich außerhalb von Flüchtlingslagern172 und weisen eine mehr als doppelt so hohe Arbeitslosigkeit auf als andere Gruppen von Binnenflüchtlingen173. Die humanitären Bedingungen in den kurdischen Flüchtlingslagern sind teilweise prekär, v.a. im Bereich der Frischwasserversorgung, Kanalisation, medizinischen Versorgung und Müllentsorgung. Insbesondere in den Lagern in den Bezirken Sulaimaniyya (Provinz Sulaimaniyya), Zakho und Sumail (beide Provinz Dohuk) werden die humanitären Bedingungen als „extrem“ oder „katastrophal“ beschrieben.174 Brände kommen regelmäßig vor, aufgrund der dichten Besiedelung und der Stoffzelte breiten diese sich oftmals rasch aus, was bereits zu Todesopfern geführt hat.175 Die Lage für Binnenvertriebene ist außerhalb der Flüchtlingslager teilweise schlechter, sodass Wartelisten für die Aufnahme in Camps geführt werden.176 Die Behausungen außerhalb der Camps sind z.T. ähnlich unzureichend wie in den Camps, rd. 20 % der êzîdischen Binnenvertriebenen lebten 2019 in einer solchen Unterkunft.177 Binnenvertriebene, welche außerhalb von Flüchtlingslagern leben, haben zudem teilweise schlechteren Zugang zu Lebensmitteln, rd. 15 % von ihnen berichten von Hunger aufgrund unzureichender Nahrungsmittelversorgung.178
Ein Hauptgrund dafür ist die sehr begrenzte Unterstützung für Binnenflüchtlinge außerhalb von Camps, oftmals erhalten sie lediglich die allgemeinen Leistungen des öffentlichen Verteilungssystems (PublicDistribution System, PDS);179 hinzu kommen die höheren Lebenshaltungskosten180. Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, die insbesondere Binnenflüchtlinge ohne Ausweispapiere treffen, erschweren den Zugang zu medizinischer (Notfall-)versorgung und Arbeit.181
ergänzende Anmerkung:
Human Rights Watch v. 13.5.24 “Iraq: Looming Camp Closures in Kurdistan – Displaced Sinjar Residents Imperiled as Compensation, Reconstruction Stalls“: Human Rights Watch befürchtet, dass sich die ohnehin schon prekäre Lage der Êzîd:innen aufgrund der angekündigten Camp-Schließungen zu einer humanitären Katastrophe ausweiten wird. Achtzig Prozent der öffentlichen Infrastruktur und 70 Prozent der Häuser in der Stadt Sindschar, der größten Stadt des Bezirks, wurden während des IS Konflikts zwischen 2014 und 2017 zerstört. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge bleiben etwa 183.000 Menschen aus Sindschar weiterhin vertrieben, darunter 85 Prozent der êzîdischen Bevölkerung des Bezirks. Ein nennenswerter Wiederaufbau hat bis heute nicht stattgefunden. HRW stellte bereits 2023 fest, dass die Haupthindernisse für die Rückkehr der Sinjaris darin bestehen, dass die Regierung keine Entschädigung für den Verlust ihres Eigentums und ihrer Lebensgrundlagen leistet, der verzögerte Wiederaufbau, eine instabile Sicherheitslage sowie mangelnde Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht für Verbrechen und Missbräuche gegen die ehemalige êzîdische Bevölkerung.
Bis Februar 2024 hat noch immer keine einzige Person eine Entschädigungszahlung erhalten, sagte Richter Ammar Mohammed, Leiter des Tel Afar Compensation Committee, welches das Sinjar Compensation Sub-Office beaufsichtigt, gegenüber Human Rights Watch. Es sind keine funktionierenden Krankenhäuser oder Schulen vorhanden, keine Infrastruktur, keine grundlegenden Dienstleistungen erhältlich, noch nicht einmal eine ausreichende Ernährungssicherheit ist vorhanden. Quelle: https://www.hrw.org/news/2024/05/13/iraq-looming-camp-closures-kurdistan
Êzîd:innen werden von den kurdischen Behörden offiziell als kurdisch betrachtet. In Fällen, in denen sich êzîdische Personen selbst als nicht-kurdisch bezeichnen, kann es zu Diskriminierung von Behörden und Amtsträgern in der KR-I kommen.182
Ergänzende Anmerkung: Wobei es gewiss sein dürfte, dass der Großteil der binnenvertriebenen Shingal-Êzîd:innen, nach dem 2014 erlebten Rückzug bzw. gefühltem Verrat durch die kurdischen Peshmerga, sich nicht den sunnitischen Kurden zugehörig fühlt. Eine freie Meinungsäußerung hierzu wäre, wie im Bericht angeführt, ohnehin mit Repressalien verbunden.
Als Folge der z.T. unzureichenden Versorgungslage ist ein erheblicher Teil der zunächst binnenvertriebenen Êzîd:innen ins Ausland abgewandert.183
7.2. Kinder
Dennoch kommt Kinderarbeit in ganz Irak vor und ist einer Studie von UNICEF zufolge in der KR-I sogar weiter verbreitet als im restlichen Irak.282 Dies hängt vermutlich auch mit dem prozentual hohen Anteil an Geflüchteten und Vertriebenen in der KR-I zusammen, da Kinder aus diesen Familien besonders häufig von Kinderarbeit betroffen sind.283
Kinderehen
Einer der Hauptgründe für das Verheiraten junger Mädchen sind finanzielle Nöte der Kernfamilie296, Mädchen aus Flüchtlingshaushalten sind deshalb in der KR-I häufiger betroffen als Mädchen heimischer Familien.297
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