Abschiebung von zwei Minderjährigen durch den Landkreis Wesermarsch
Fachliche Stellungnahme zur Antwort von Innenminister Schünemann vom 17.03.2011
Am 17.03.2011 hat sich Innenminister Schünemann in einer Antwort auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ina Korter und Filiz Polat (GRÜNE) zur versuchten Abschiebung zweier Minderjähriger in den Kosovo durch den Landkreis Wesermarsch geäußert. Die Darstellung des Innenministers weicht in einigen Punkten von den Tatsachen ab.
Die Jugendlichen haben sich nach ihrer Ankunft nicht beim Jugendamt in Hildesheim gemeldet, sondern sind beim Flüchtlingsrat Niedersachsen zur Beratung erschienen. Vom Flüchtlingsrat wurde dann Kontakt zum Jugendamt des Landkreises Wesermarsch aufgenommen. Dem Fachdienstleiter des Jugendamtes wurde die Situation der unbegleiteten Minderjährigen geschildert. Dieser sicherte daraufhin die Inobhutnahme der Jugendlichen durch seine Behörde zu. Das Jugendamt Hildesheim wurde vom Flüchtlingsrat Niedersachsen darüber informiert, dass die Jugendlichen nach Rücksprache mit dem Landkreis Wesermarsch am nächsten Tag beim dortigen Jugendamt vorsprechen würden.
Anders als von Herrn Schünemann dargestellt, hat die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII aber nicht „umgehend“ stattgefunden. Gemäß § 42 Abs. 2 SGB VIII hat das Jugendamt im Rahmen der Inobhutnahme „die Situation, die zur Inobhutnahme geführt hat, zusammen mit dem Kind oder dem Jugendlichen zu klären und Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung aufzuzeigen.“
Vom Jugendamt des Landkreises Wesermarsch wurden die Jugendlichen bei ihrer Vorsprache am nächsten Tag dagegen direkt zur Ausländerbehörde geschickt, wo ein Sachbearbeiter sie von der Polizei in Gewahrsam nehmen ließ. Ein weiteres Gespräch des Jugendamtes mit dem Cousin der Brüder fand erst statt, nachdem ein Rechtsanwalt die Freilassung der Jugendlichen erwirkt hatte. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde auch über die Regelung der Vormundschaft gesprochen.
Eingesetzt wurden allerdings nicht, wie sonst üblich, die Verwandten, sondern ein Amtsvormund vom JA Wesermarsch, dessen Tätigkeit sich auf die formelle Übernahme der Amtsvormundschaft beschränkte. Ein persönlicher Besuch durch den Vormund fand bis zum Tag der geplanten Abschiebung nicht statt, eine erforderliche Vollmacht für den Rechtsanwalt wurde nicht erteilt.
Aufgabe des Jugendamtes ist es, gemäß §1 Abs.3.3 SGB VIII „Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl (zu) schützen“. Dieser Auftrag erstreckt sich ersichtlich auf alle Kinder und Jugendliche und nicht ausschließlich auf Deutsche. Im Rahmen der – sofortigen – Inobhutnahme nach §42 SGB VIII hat das Jugendamt u.a. für eine geeignete Unterbringung zu sorgen und den Jugendhilfebedarf zu klären. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bis 16 Jahren werden üblicherweise bei geeigneten Verwandten oder in Jugendhilfeeinrichtungen untergebracht. Eine übergangslose Überstellung an das Ausländeramt mit anschließender polizeilicher Ingewahrsamnahme stellt in unseren Augen einen Verstoß gegen diesen gesetzlichen Auftrag, gar eine Kindeswohlgefährdung dar.
Auch der Darstellung des niedersächsischen Innenministeriums, ein Verstoß gegen die Rückführungsrichtlinie sei nicht erkennbar, können wir nicht folgen.
In Art. 10 Abs. 1 der EU – Rückführungsrichtlinie ist geregelt, dass „vor der Ausstellung einer Rückkehrentscheidung (…) Unterstützung durch geeignete Stellen, bei denen es sich nicht um die für die Vollstreckung von Rückkehrentscheidungen zuständigen Behörden handelt, unter gebührender Berücksichtigung des Kindeswohls gewährt“ wird.
Im vorliegenden Fall wurde aber weder seitens des Jugendamtes die notwendige Unterstützung geleistet, noch wurde der Vormund der Jugendlichen von der Ausländerbehörde über die bevorstehende Abschiebung informiert.
Nach Art. 10 Abs. 2 der EU – Rückführungsrichtlinie müssen die Behörden sich vor der Abschiebung vergewissern, dass die Minderjährigen einem Mitglied ihrer Familie, einem offiziellen Vormund oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung übergeben werden.
Die diesbezügliche Darstellung des Innenministers sowie der Ausländerbehörde, die Jugendlichen hätten im Kosovo eine „große Verwandtschaft“, zu der sie zurückkehren könnten, ist eine Verzerrung der Tatsachen. Die beiden Minderjährigen haben zwar in der Tat eine Tante im Kosovo, diese lebt aber mit ihrem Mann und ihren 9 Kindern in einem kleinen, baufälligen Haus und hat keinerlei Einkommen. Die Familie hat also weder Platz noch Geld, um zwei zusätzliche Kinder aufzunehmen.
Edda Rommel
Landeskoordinatorin für Niedersachsen vom BfV-UMF und Referentin des Kinder- und Jugendprojektes
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