75 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Zukunft des Asylrechts

von Kai Weber

Am 10. Dezember 2023 wurde die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ (AEMR) 75 Jahre alt. Weder in Berlin noch in Hannover gab es dazu einen Staatsakt. Der Bundespräsident oder der Bundeskanzler sahen sich nicht aufgerufen, aus diesem Anlass eine Ansprache zu halten. Immerhin würdigte der Bundestag den Jahrestag in einer Plenardebatte am 13. Dezember 2023. Im „Haus der Religionen“ gab es eine traditionell schon seit vielen Jahren ausgetragene Feierstunde gemeinsam mit amnesty international. Insgesamt aber blieben die politischen Würdigungen zurückhaltend. Auch die Medien hielten sich mit Berichten zurück. Offensichtlich stehen die Menschenrechte derzeit nicht hoch im Kurs.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 ist ein wunderbarer Text, der die Grundidee der Menschenrechte verkündet und ausdifferenziert: Jeder Mensch hat ein Anrecht auf ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit. Die Menschenrechte garantieren unsere Freiheiten auch gegenüber dem Staat. Sie sind weder von Vorleistungen abhängig noch von der Staatsangehörigkeit. Der Staat hat die Menschenrechte zu achten, staatlichen Gestaltungs- und Regelungsinteressen werden damit Grenzen gesetzt.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vermittelt keine einklagbaren Rechte, sie hat insofern „nur“ deklaratorische Bedeutung, aber sie ist Anstoß und Grundlage dafür, dass Menschenrechte in den nachfolgenden völkerrechtlichen Verträgen und in nationalen Verfassungen – wie z.B. auch dem Grundgesetz – als individuelle einklagbare Rechte festgeschrieben wurden. Artikel 14 AEMR bestimmt:

„Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen“.

Mit diesem Satz unterstreicht die Weltgemeinschaft 1948 – noch unter dem Eindruck der Gräueltaten des Faschismus – das Recht, Asyl zu suchen, „da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen …“, wie es in der Präambel heißt. Menschen haben das Recht auf Schutzsuche. Sie als „irregulär“ oder „illegal“ zu diffamieren, wird ihrer Lage nicht gerecht. „Irregulär“ und völkerrechtswidrig sind nicht die Schutzsuchenden, sondern die zunehmenden Versuche der europäischen Staaten, eine Inanspruchnahme des Rechts auf Asyl an den Grenzen zu verhindern.

Als „illegale Einwanderer“ wurden während der Zeit des deutschen Faschismus auch viele Verfolgte des Naziregimes diffamiert. Millionen von Menschen wurden verfolgt und in den Todesfabriken der Faschisten ermordet, Hunderttausende hätten gerettet werden können, wenn es so etwas wie eine organisierte Rettungspolitik im europäischen und außereuropäischen Ausland gegeben hätte. Bekanntlich schlossen die meisten Staaten ihre Grenzen gegenüber Flüchtlingen bis auf einen Spalt und überließen die Verfolgten ihren Häschern.

Auch wem die Flucht gelang, konnte sich nicht sicher fühlen. Hannah Ahrendt hat das Verlorensein von Geflüchteten in einer Welt, in der Geflüchtete rechtlos gestellt sind, treffend beschrieben:

Dass es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben, wissen wir erst, seitdem Millionen von Menschen aufgetaucht sind, die dieses Recht verloren haben und zufolge der neuen globalen Organisation der Welt nicht imstande sind, es wiederzugewinnen.1

Es sind diese historischen Erfahrungen, die auf nationaler Ebene (Grundgesetz), aber auch auf internationaler Ebene dazu geführt haben, dass das Recht auf Asyl abgesichert wurde. Neben anderen, hier nicht weiter ausgeführten Konventionen (z.B. der Anti-Folter-Konvention) sind vor allem zu nennen:

  • Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951 bzw. 1967, Stand heute unterschrieben von 145 Mitgliedsstaaten: Nach Art. 33 Abs. 1 GFK verpflichten sich die vertragschließenden Staaten zum so genannten Non-Refoulement-Gebot: Sie verpflichten sich, keinen Flüchtling in ein Land abzuschieben oder zurückzuweisen, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Inzwischen ist anerkannt, dass das (soziale) Geschlecht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe darstellen kann. Aber nur wer die Grenze erreicht hat, kann einen Asylantrag stellen. Garantiert sein muss zumindest ein angemessenes und faires Verfahren
  • Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK): Sie ist das Kernstück des Menschenrechtsschutzes in Europa. Die EMRK trat 1953 in Kraft und gilt heute für mehr als 830 Millionen Menschen in 47 Staaten. Wo sie gilt, garantiert sie allen Menschen bürgerliche und politische Menschenrechte und den Schutz vor einer menschenrechtswidrigen Behandlung.

Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg (EGMR) spricht auch Geflüchteten immer wieder Rechte zu, wo sie in der Praxis verletzt werden. So stufte er 2023 der EGMR die Lebensbedingungen einer asylsuchenden, schwangeren Frau in einem Lager auf der griechischen Insel Samos als „unmenschliche und erniedrigende Behandlung“ ein und stellte eine Verletzung von Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) fest. Solche Urteile, aufwändig juristisch erkämpft in Einzelfällen, sind ein Fingerzeig: Praktisch verzeichnen wir an den Grenzen der Europäischen Union schon seit Jahren unzählige Menschenrechtsverletzungen gegenüber Schutzsuchenden:

  • Seit 2016 organisieren Italien und die EU zusammen mit der von Warlords kontrollierten libyschen Küstenwache so genannte Pullbacks: Behörden aus der EU melden gesichtete Flüchtlingsboote an die libysche Küstenwache, diese bringt die Boote auf und schafft die Flüchtlinge zurück. In Libyen verschwinden viele von ihnen in berüchtigten Foltergefängnissen, deren schauerliche Existenz schon lange bekannt ist. Bereits 2017 wurde öffentlich, dass das Auswärtige Amt intern von „KZ-ähnlichen Verhältnissen“ sprach.
  • Pushbacks und Gewalt sind in Griechenland entsetzlicher Alltag – ob an der Landgrenze oder auf den griechischen Inseln in der Ägäis: Flüchtlinge werden mit roher Gewalt illegal abgeschoben, auf das offene Meer zurückgeschleppt und ausgesetzt. Als der türkische Ministerpräsident Erdogan im Frühjahr 2020 für tausende Flüchtende die Grenzen nach Griechenland öffnete, rüstete Athen die Grenzabriegelung mit EU-Unterstützung massiv auf und setzte das Asylrecht kurzerhand außer Kraft. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen lobte Griechenland als „unser europäischer Schutzschild“.
  • Ungarn gibt sich keinerlei Mühe, verbrecherische Pushbacks zu verbergen. Stolz werden die illegalen Zurückweisungen in offiziellen Statistiken aufgeführt. 2021 waren es über 46.000, 2022 über 150.000.
  • Seit Jahren gibt es Berichte über gewaltsame und systematische Pushbacks unter der Regie des kroatischen Innenministeriums unter dem Namen »Operation Korridor«.
  • Aus Bulgarien gibt es Videoaufnahmen, die Schüsse der Grenzpolizei auf Flüchtlinge dokumentieren. Allein im Zeitraum von Juli 2020 bis November 2021 wurden über 3.700 Pushbacks an der serbisch-rumänischen Grenze mit Erfahrungsberichten dokumentiert.
  • Litauen und Polen beschlossen im Sommer bzw. Herbst 2021 neue Gesetze, die eine Abriegelung der Grenzen und automatische Inhaftierung von Menschen erlauben, die die Grenze ohne Einreiseerlaubnis überquert haben. Tausende Menschen wurden monatelang willkürlich in heruntergekommenen Haftzentren unter Militärführung festgehalten.

Dies ist die politische Ausgangslage, auf deren Grundlage die Europäische Kommission sich mit dem Europäischen Rat sowie dem EU-Parlament am 20. Dezember 2023 auf eine Reform des Europäisches Asylsystems (GEAS) geeinigt hat, das Haftlager an den Grenzen, stark eingeschränkte Rechtschutzmöglichkeiten, ein verschärftes Dublin-Zuständigkeitsregime mit vollständigem Entzug von Sozialleistungen im „falschen Land“ und die Möglichkeit einer Zurückweisung von Asylsuchenden in angeblich „sichere Drittstaaten“ vorsieht.

Vordergründig geschieht dies, ohne die Genfer Flüchtlingskonvention oder die EMRK formell anzutasten. Faktisch wird für Schutzsuchende der Zugang zum Asylsystem der Europäischen Union in der Praxis drastisch erschwert oder sogar gänzlich versperrt. Anstatt illegalen Zurückweisungen, die mit dem Völkerrecht brechen, endlich einen Riegel vorzuschieben, sollen diese durch die neuen Regelungen legitimiert werden. PRO ASYL kritisiert die vereinbarte Durchführung von Asylverfahren in geschlossenen Einrichtungen an den europäischen Außengrenzen als „dystopische Vision eines Europas der Haftlager“. Die Deutsche Bischofskonferenz kommentiert:

„Das Vorhaben, unschuldige Menschen – auch Familien mit kleinen Kindern – in haftähnlichen Lagern an den EU-Außengrenzen zu internieren, ist verantwortungslos. Statt auf Abschreckung und Abschiebung zu setzen, statt Menschen der Perspektivlosigkeit und Not auszuliefern, müssen wir in der Europäischen Union endlich einen gemeinsamen Raum des Schutzes und der Solidarität schaffen. Der Umgang mit Geflüchteten ist eine Frage der Würde, auch unserer eigenen. In einer Welt, in der mehr als 110 Millionen Menschen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, kann unsere Antwort nicht Abweisung lauten.“

Gravierende Folgen für den internationalen Flüchtlingsschutz hat auch das im Rahmen von GEAS beschlossene Konzept der „sicheren Drittstaaten“. Die entscheidende Frage dabei ist: Wann kann ein Staat tatsächlich als „sicher“ gelten? Für Deutschland legt Art. 16a Abs. 2 GG fest, dass ein sicherer Drittstaat die GFK sowie die EMRK ratifiziert haben muss:

„(2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist.“

Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags kritisiert in einer Stellungnahme, mit Inkrafttreten von GEAS

könnten auch Staaten, die die GFK nicht oder nur mit geografischem Vorbehalt ratifiziert haben, als „sichere Drittstaaten“ eingestuft werden. Diese Staaten wären nicht verpflichtet die GFK einzuhalten und so bestünde das Risiko, dass Flüchtlingen im Aufnahmestaat weniger Rechte zustünden als im ausweisenden Staat. Letztlich wird dies aber auch immer von den nationalen Regelungen im Aufnahmestaat abhängen.“

Auch UNHCR verlangt, dass Schutzsuchende in Übereinstimmung mit den Rechten der GFK und mit internationalen Menschenrechtsstandards behandelt werden, und warnt vor einer völkerrechtswidrigen Auslagerung von Asylverfahren: „Menschen dieses Recht zu verweigern oder Asylsuchende in Drittländer auszulagern, verstößt gegen das Völkerrecht. Es sind Akte der Grausamkeit“, so Grandi und Pope im Spiegel.

Pro Asyl kommt zu dem Schluss:

„Mit der Europäischen Einigung können zukünftig deutlich mehr außereuropäische Drittstaaten als sicher eingestuft werden, um Flüchtlinge in diese Länder abzuschieben. Weder muss in dem Drittstaat die Genfer Flüchtlingskonvention gelten, noch muss das ganze Land sicher sein. Wenn es eine entsprechende Vereinbarung zwischen Drittstaat und EU gibt, soll die Sicherheit schlicht angenommen werden können. Dadurch wird die Möglichkeit eröffnet, dass Mitgliedstaaten sich weitgehend aus dem Flüchtlingsschutz zurückziehen, indem sie Nachbarländer oder andere Staaten entlang der Fluchtrouten als »sicher« einstufen. Diese Vorgehensweise wird dazu führen, dass Menschen, die nach Europa geflohen sind, ohne Prüfung ihrer tatsächlichen Fluchtgründe in diese Länder abgeschoben werden.“

Selbst linke Sozialdemokraten, grüne Ministerpräsidenten und ehemals linke Bundestagsabgeordnete zeigen sich inzwischen „offen“ für Drittstaatskonzepte, die eine Externalisierung von Asylverfahren ins Ausland vorsehen. Doch die öffentliche Debatte ist damit noch lange nicht abgeschlossen. Zunehmend und lautstark fordern immer mehr Politiker:innen unverhohlen eine Änderung oder Abschaffung des Asylrechts:

Thorsten Frei, immerhin innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU – Faktion, steht mit seiner Forderung, Schutzsuchende an den Grenzen zurückzuweisen und das Asylrecht abzuschaffen, längst nicht mehr alleine: Der CDU-Landesverband Baden-Württemberg stellte sich hinter ihn, auch CDU-Chef Merz gab ihm Rückendeckung. Jens Spahn will „irreguläre Migrationsbewegungen“ gegebenenfalls „mit physischer Gewalt“ aufhalten. Nach dem Entwurf eines neuen Grundsatzprogramms der CDU sollen Asylsuchende in einen sicheren Drittstaat überführt werden und dort ein Verfahren durchlaufen. „Im Falle eines positiven Ausgangs wird der sichere Drittstaat dem Antragsteller vor Ort Schutz gewähren.“ Eine „Koalition der Willigen“ innerhalb der EU solle dann jährlich ein Kontingent schutzbedürftiger Menschen aus dem Ausland aufnehmen.

Solche kategorischen Forderungen nach einer Abschaffung des Asylrechts sind mittlerweile nicht auf die Union beschränkt: Auch der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident und ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel Gabriel empfielt, sich von bisherigen Verpflichtungen des Grundgesetzes und des Völkerrechts zu verabschieden: „Unsere Regeln aus dem 20. Jahrhundert passen nicht zu den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“, so Gabriel.

Wer auf diese Weise die Axt an die Verfassung legt und die menschenrechtlichen Errungenschaften in Frage stellt, will eine andere Republik. Die historischen Erfahrungen und Traditionen, die nach dem zweiten Weltkrieg zur Etablierung eines Internationalen Flüchtlingsrechts geführt haben, werden negiert und mit Füßen getreten.

„Tradition ist die Weitergabe des Feuers, nicht die Anbetung der Asche,“ formulierte der französische Politiker und Pazifist Jean Jaurès. Menschenrechte waren und sind umkämpft, und sie sind heute mehr denn je gefährdet. Die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention werden bereits heute an vielen Orten in Europa verletzt. Es ist unsere Verantwortung, dafür zu sorgen, dass sie nicht unter die Räder kommen.

26.000 Menschen sind in den vergangenen zehn Jahren bei dem Versuch, nach Europa zu fliehen, im Mittelmeer ertrunken – ein Binnenmeer, das wie kein anderes engmaschig von Satelliten, Drohnen, Radar und Aufklärungsflugzeugen überwacht wird. Niemand müsste hier sterben, doch Europa überlässt die Flüchtlinge im Mittelmehr ihrem Schicksal, kriminalisiert die Seenotrettung  und schottet sich ab. Am Ende dieses Jahres ist mehr denn je das Bekenntnis zu den Menschenrechten gefragt: Für eine organisierte Rettungspolitik und ein Asylrecht, das einklagbar ist und den Menschen ihre Würde nicht nimmt.
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1Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (s. Anm. 28), S. 462

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