Offener Brief an die Bundesregierung und an die Landesregierungen – Prüfung einer politischen Bleiberechtsregelung für jesidische Überlebende des Genozids                                            

Sehr geehrte Bundesregierung, Minister und Ministerinnen,
Sehr geehrte Damen und Herren Staats- und Landesminister*innen,
Sehr geehrte Menschenrechtspolitiker*innen aller demokratischer Parteien,

hiermit möchte ich auf ein offensichtliches Unrecht und die Widersprüchlichkeit der aktuellen Asylpolitik hinweisen. Es gibt leider keine eindeutige politische oder rechtliche Bleiberechtsregelung für jesidische Überlebende des Genozids. Derzeit erlebe ich kaum nachvollziehbare asylrechtliche Entscheidungen zur Schutzgewährung, bis hin zu drohender Abschiebung. Je nach Bundesland gibt es einen Abschiebestopp für Jesiden in den Irak oder eben auch nicht.

Bei meinen Jesidischen Schützlingen persönlich, wie in der gesamten Community, herrscht derzeit große Angst und Schrecken. Es sind in den letzten Monaten bzw. Wochen 2 Sachen zusammengekommen. Einmal haben die grauenhaften Bilder des menschenverachtenden Überfalls der Hamas wohl an die eigenen erlebten Massaker durch den IS erinnert und gleichzeitig werden plötzlich wieder Jesiden an den Tatort im Irak abgeschoben.

Es ist völlig absurd und widersprüchlich, dass die Bundesregierung in diesem Jahr den Völkermord an den Jesiden anerkannt hat, ihnen aber gleichzeitig keinen Schutz mehr gewähren möchte. Ich finde es unsäglich, dass man ausgerechnet an dieser kleinen Gruppe der Überlebenden eines Genozids anscheinend nun, aufgrund des Drucks der rechten populistischen Kräfte, ein menschenunwürdiges Exempel stationieren möchte. Ich habe den Eindruck, dass in dieser traurigen Angelegenheit, gerade leider auch den demokratischen Parteien, jeder moralische Kompass verloren geht und Recht zu Unrecht wird. Gut integrierte Familien, die fast alle schon im Irak nahe Angehörige durch islamistischen Terror verloren hatten, werden nun in Deutschland wieder auseinandergerissen und retraumatisiert, weil ihren Liebsten plötzlich die Abschiebung droht.

Deshalb befinden sich seit ca. 3 Wochen einige verzweifelte Jesiden im Hungerstreik vor dem Bundestag und hoffen auf Unterstützung und Gehör durch die Politiker der demokratischen Parteien! Bitte lassen Sie es nicht zu, dass ausgerechnet die AfD nun die Angst und Unsicherheit der Jesiden missbraucht und sie zu eigenen populistischen Zwecken instrumentalisiert. Für mich war es schwer anzusehen, wie einige verzweifelte Jesid*innen im Bundestag regelrecht vorgeführt wurden, um es der AfD zu ermöglichen, gegen Muslime zu hetzen und die Gesellschaft weiter zu spalten. s. Redebeitrag des AfD Abgeordneten Martin Sichert.

Ein Teil meiner Schützlinge, wie z.B. die Geschwister Adiba und Shahab, hatten sich extra frei genommen und fuhren nach Berlin, um dort zu protestieren und die Hungernden zu unterstützen. Sie haben die sehr große und berechtigte Angst, dass demnächst ihre blinde Mutter (Barfe), der 15-Jährige elternlose Neffe (Max) und der jüngere Bruder (Fadel) wieder in das Grauen im Irak zurück müssen. Denn bei ihren 3 nächsten Familienangehörigen wurden die Asylanträge abgelehnt und die Abschiebung angeordnet.

Die kleine Minderheit der Jesiden ist aufgrund der Vorgeschichte zumeist leise und unauffällig und hat daher auch in Deutschland keine laute Stimme. Aber immerhin sind aus den Protesten nun 2 Petitionen mit ungefähr dem gleichen Inhalt entstanden.

Durch einen Zufall wurde ich 2015 auf das unsägliche Leid der Jesiden aufmerksam. Seitdem engagiere ich mich, zusammen mit anderen Helfern, ehrenamtlich für sie. Viele von ihnen waren aufgrund von lebenslanger Benachteiligung und extremster Verfolgung schwersttraumatisiert. Die Jesiden aus Shingal im Nordirak hatten schon vor den Massakern des IS isoliert von der muslimischen Mehrheitsbevölkerung gelebt und Verfolgung und Ausgrenzung erlitten. Deshalb gab es einen größeren Anteil an bildungsfern aufgewachsen Menschen. Zum Teil waren sie noch nicht einmal muttersprachlich alphabetisiert und hatten noch nie eine Schule besuchen können.

Aber fast allen Jesiden war gemein, dass sie den absoluten Willen mitbrachten, erstmalig ihre Chancen auf Bildung, Teilhabe und Integration im neuen Land zu nutzen. Mit einem kleinen engagierten Helferkreis haben wir vielen Jesiden mühsam erstmalig Lesen und Schreiben beigebracht und sie beim Deutschlernen unterstützt. Trotz der mitgebrachten schlechten Voraussetzungen, haben so gut wie Alle die Integrationskurse erfolgreich abschlossen. Mehrheitlich auf B1 Niveau, was man eher von gebildeten Flüchtlingen erwartet hätte.

Fast alle mir bekannten Jesiden arbeiten mittlerweile z.B. in Altenheimen, in Großküchen oder der Gastronomie, im Straßenbau oder auf Baustellen, als Lagermitarbeiter, bei DHL, die Jüngeren machen Schulabschlüsse, Ausbildungen, studieren, etc.

Da sich die Situation für die Jesiden im Irak, insbesondere in der Heimatregion bis heute nicht geändert hat, vegetieren die zurückgebliebenen Familienangehörigen zumeist als Binnenvertriebene, in Zelten und fernab der Heimat, auf kurdischem Boden dahin. Dies stellt lt. UNHCR ausdrücklich keine inländische Fluchtalternative dar. Die Vertriebenen sitzen mehrheitlich heute immer noch perspektivlos und traumatisiert in den Zelten, wo z.T. noch nicht einmal die Grundversorgung sichergestellt ist. Gleichzeitig können sie in die zerstörte, verminte und unsichere Heimatregion nicht zurück, was der Bundesregierung bekannt und unstrittig ist. Ebenso hat sich die Bedrohungslage durch das erneute Erstarken des IS und anderer islamistischer Gruppen während der letzten Jahre wieder erhöht, sodass die Angst vor einer Wiederholung der Massenverfolgung groß ist.

Daher gab es in den letzten Jahren manchmal noch eine kleinere Zahl an jesidischen Flüchtlingen, die es zu ihren in Deutschland lebenden Angehörigen schafften. Durch die Unterstützung der bereits schon integrierten Angehörigen können sich die hinzugekommenen Familienmitglieder noch schneller integrieren und arbeiten oftmals schon nach kurzer Zeit.

Nun wird ihnen plötzlich, aus meiner Sicht grundlos, der Schutz verwehrt und Familien werden wieder auseinandergerissen und einzelne Angehörige willkürlich zurück in den Irak geschickt. Ich habe jetzt 9 Jahre lang viel Zeit und Engagement in diesen Langstrecken-Hindernislauf der Integration meiner Schützlinge investiert. Sie haben sich unglaublich angestrengt, alles hart erkämpfen müssen und es geschafft. Zusammen mit vielen anderen Ehrenamtlichen haben wir dieses “Wir schaffen das!“ besonders erfolgreich mit der Gruppe der Jesiden umgesetzt. Ausgerechnet diese Menschen, die schlimmste Verfolgung erlebt und einen Asylgrund haben und einen hohen Integrationswillen mitbringen und dankbar und friedlich sind, werden jetzt abgeschoben.

Für mich ist das unfassbar und gefühlt werden gerade 9 Jahre intensivsten Engagements zunichte gemacht. Von der Alphabetisierung, über die Traumabewältigung, bis hin in den Arbeitsmarkt haben wir uns gemeinsam durchgekämpft. Wenn jetzt auch nur einer meiner Schützlinge abgeschoben wird und die Jesiden keinerlei Unterstützung seitens der Politik erfahren, war es das endgültig für mich.  Dann gebe auch ich, wie leider schon viele mir bekannte Ehrenamtliche zuvor, endgültig frustriert auf. Genau wie die Jesiden, habe auch ich dann nicht mehr die Kraft zu kämpfen.

Besonders im Namen der jesidischen Gemeinschaft bitte ich um Ihre Hilfe!

Ich appelliere an die Bundesregierung und die Landesregierungen, sowie an alle Menschenrechtspolitiker, sich aktiv für ein Abschiebeverbot für Jesiden einzusetzen und ihnen Asyl und Schutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewähren. Ich bitte um Prüfung einer politischen Bleiberechtsregelung für jesidische Überlebende des Genozids.

Mein großer Dank gilt allen Menschen, die noch bereit sind, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten, für Gerechtigkeit und den Schutz der Schwächsten einzusetzen!

Mit freundlichen Grüßen
Christiane Maurer

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Anlagen: Kommentar und Auszug der Erkenntnismittel zur Situation der Jesiden im Irak

Überlebende eines Völkermordes sind im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) als Flüchtling anzuerkennen:
Bei der Schaffung des Art. 1 C Nr. 5 Satz 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) hatten die Signatarstaaten das Schicksal jüdischer Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland vor Augen (vgl. auch Marx, AsylG, 11. Aufl. 2022, § 73 Rn. 53; Salomons, ZAR 2005, 1, 2; Frei/Hinterberger/Hruschka in: Hruschka, GFK, 1. Aufl. 2022, Art. 1 Fn. 406; Hathaway/Foster, The law of refugee status, 2. Aufl. 2014, S. 493). Die Vorschrift erlaubt es dementsprechend, besonderen Verhältnissen eines Flüchtlings Rechnung zu tragen, insbesondere, wenn dieser ein besonders schwerwiegendes Verfolgungsschicksal erlitten hat und ihm deshalb eine Konfrontation mit dem Land der ehemaligen Verfolgung nicht zuzumuten ist, namentlich dann, wenn Retraumatisierungen nicht auszuschließen sind, was – zwar prinzipiell ausgehend von einer objektiven Beurteilung der Zumutbarkeit – eine besondere Berücksichtigung der individuellen Einschätzung der konkreten Situation des Flüchtlings und die Einbeziehung dessen subjektiver Sichtweise erlaubt und erfordert (zum Vorstehenden: Funke-Kaiser, GK-AsylG, 124. Aktualisierung, Stand: 12/2019, § 73 Rn. 35). Erforderlich ist eine umfassende und individuelle Prüfung der Zumutbarkeit der Rückkehr (Frei/Hinterberger/Hruschka in: Hruschka, GFK, 1. Aufl. 2022, Art. 1 Rn. 147).
Gleiches muss auch in Fällen gelten, wo an anderen Volksgruppen ein Völkermord verübt wurde.

Die Annahme, dass ein Jeside im Irak sicher an seinen Wohnort zurückkehren könne, entspricht nicht den tatsächlichen Verhältnissen, weil es faktisch gar kein sicheres Wohngebiet in der Ursprungsregion Shingal/Sinjar mehr gibt. Jesiden hatten und haben bis heute niemals mehr die Chance auf die Rückkehr in ein gewohntes menschenwürdiges, wenn auch ärmliches Leben, wie vor 2014. Geschweige denn etwas, was man ein Zuhause nennen könnte. Ein Zelt in einem Binnenvertriebenen-Lager entspricht gerade nicht einem vorherigen gewöhnlichen selbst gewählten Wohnort.

In diesem Zusammenhang weise ich auf die Position des UNHCR v. 3.6.2019 hin, welche sich seit dieser Zeit nicht geändert hat.

Zitat: “Der Direktor der Abteilung für internationalen Schutz des UNHCR hat mit Schreiben vom 17. Mai 2019 dem Außenministerium, dem Ministerium für Justiz und Sicherheit sowie den Migrationsbehörden die Position des UNHCR in Bezug auf irakische Staatsangehörige aus dem Bezirk Sinjar, die der Ethnie und Religion der Yeziden angehören und deren Asylanträge mit der Begründung abgelehnt wurden, dass ein Lager für Binnenvertriebene in der Region Kurdistan im Irak als ihr letzter Wohnsitz bestimmt wurde, dargelegt.

In diesem Schreiben hat UNHCR folgende Position dargelegt:

UNHCR betrachtet Binnenvertriebenenlager in der Region Kurdistan im Irak (KR-J), nicht als Orte der dauerhaften Besiedlung/des gewöhnlichen Aufenthalts („normaler Wohnsitz Heimat“) oder Orte, die interne Fluchtalternativen darstellen. Diese Analyse ist nicht nur für die KR-J einzigartig. Sie gilt für IDP-Camps in allen von Konflikten betroffenen Ländern. In den UNHCR-Richtlinien zum internationalen Schutz Nr. 12 stellen wir Folgendes fest:

Die Präsenz von Binnenvertriebenen, einschließlich derjenigen, die internationale Hilfe erhalten, in einem Teil des Landes, ist nicht unbedingt ein Beweis für die Angemessenheit einer vorgeschlagenen Binnenflucht- oder Umsiedlungsalternative in „diesem Teil des Landes.“ Binnenvertriebene genießen oft keine Grundrechte und können mit wirtschaftlicher Not oder Existenz unterhalb eines angemessenen Existenzminimums konfrontiert sein, was ein Beweis für die Unangemessenheit der vorgeschlagenen Binnenflucht- oder Umsiedlungsalternative wäre. Es ist notwendig, die Fähigkeit der kommunalen Behörden, Schutz vor Schäden zu bieten, sowie die Frage, ob die Menschenrechte, insbesondere die unveräußerlichen Rechte und Freiheiten, respektiert werden, zu prüfen. Darüber hinaus kann in einigen Situationen interne Vertreibung das Ergebnis einer ethnischen Säuberungspolitik oder ähnlichem sein, unter Verstoß gegen die Verbote der Zwangsüberstellung und willkürlichen Vertreibung im Rahmen des Humanitären Völkerrechts im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten. Unter solchen Umständen sollte nicht davon ausgegangen werden, dass eine interne Flucht- oder Umsiedlungsalternative besteht.

Wir unterstreichen in diesem Zusammenhang auch das schwere und anhaltende Trauma, das viele Yeziden im Irak infolge ihrer Verfolgung erlebt haben, darunter viele Kinder. UNHCR erinnert an die Forderung, dass bei jedem Umgang mit Kindern das Wohl des Kindes vorrangig berücksichtigt werden muss.

Darüber hinaus betont UNHCR, wie wichtig es ist, die persönlichen Umstände zu bewerten, einschließlich des Vorliegens eines psychologischen Traumas, das gegen jede Erwägung einer Umsiedlung in ihrem Herkunftsland sprechen kann. Solche Traumata und Erfahrungen in der Vergangenheit sind entscheidende Elemente, die bei der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz von einem Mitglied dieser Gruppe berücksichtigt werden müssen.“

Seit dem menschenverachtenden Angriff der palästinensischen Terrororganisation Hamas auf israelisches Staatsgebiet am 07. Oktober 2023 hat sich die Sicherheitslage im Irak, insbesondere für die jesidische Minderheit, nochmals verstärkt.

Obwohl sich viele Jesiden durch die Gräueltaten der Hamas an eigene Erlebnisse erinnert fühlen und starkes Mitgefühl für die Opfer haben, können sie dies im Irak nicht öffentlich äußern. Der Irak hatte bereits 2022 einstimmig ein Gesetz erlassen, welches jeglichen Kontakt zu Israelis unter Todesstrafe stellt.

Weiterhin äußert sich Iraks oberster schiitischen Geistlicher, Großayatollah Ali Sistani: “Die Widerstandsfront sagt, die Operation „Al-Aqsa-Sturm“ sei eine legitime, natürliche Reaktion auf die zunehmenden Gräueltaten und Verstöße Israels gegen die Palästinenser.“ Ebenso hat Ali Sistani alle Muslime auf der ganzen Welt aufgefordert, dem palästinensischen Volk angesichts der unerbittlichen Angriffe des israelischen Regimes auf den Gazastreifen zu helfen.

Ebenso ruft der letzte Wahlsieger und einflussreiche schiitische Geistliche, Muqtada al-Sadr zu Pro-Palästinensischen Demonstrationen auf, denen bereits viele Zehntausende folgen und israelische Fahnen verbrennen.

Diverse Pro-iranische Milizen feiern im Irak den Triumph des Hamas-Kriegszuges. Zitat: “Mit Genugtuung beobachten auch die pro-iranische Milizen im Irak den Hamas -Kriegszug. Er sei ein Moment des Triumphs – und habe die Annäherungen zwischen einigen arabischen Staaten und Israel aufgehalten.“

Die gesamte volatile Sicherheitslage im Irak sowie die Bedrohung durch den IS hat sich während der letzten Jahre für die Jesiden wieder deutlich verschärft.

Hierzu möchte ich die Bundesregierung aus der Beantwortung der “Kleinen Anfrage der Fraktion der CDU/CSU – Drucksache 20/341 –“   wie folgt zitieren: “Vor dem Hintergrund zunehmender besorgniserregender Nachrichten über ein Wiedererstarken des IS vor allem im Irak (vgl. u. a. https://www.monde-diplomatique.fr/2021/12/PERPIGNA_IBAN/64139) ist der gemeinsame Kampf gegen den internationalen Terrorismus in der Region nicht beendet, sondern dringender denn je.“

Der Bericht, auf den sich die Bundesregierung bezieht, “En Irak, le retour de Daech“ des Autors Laurent Perpigna, erschien in der Dezember Ausgabe 2021 bei Le Monde diplomatique. Der Einfachheit halber, verweise ich auf den entsprechenden deutschsprachigen Bericht “Angriff bei Nacht“ (vgl. https://monde-diplomatique.de/artikel/!5818263) Es wird die aktuelle sehr komplexe und stark anwachsende Bedrohungslage durch den IS im Irak analysiert und prognostiziert. Ein düsteres Bild mit folgendem Fazit: “Der IS scheint sogar wieder in der Lage zu sein, eine Stadt zu erobern. Gerade erleben wir den Übergang in eine neue Phase, von gezielten Einzelangriffen hin zu territorialer Kontrolle.“

Zum Jahresende 2021, nachdem die USA ihren Rückzug bekanntgaben, nahm die Anschlagzahl durch den IS nochmals deutlich zu. Allein in Irakisch-Kurdistan verübte ISIS im Jahr 2021 257 Terroranschläge, bei denen 387 Menschen starben, 518 verletzt und 37 entführt wurden.  In dieser und auch anderen Analysen wird die begründete Befürchtung geäußert, dass sich die Geschichte wiederholen könnte und der IS einen erneuten rasanten Aufstieg wie nach dem US Truppenabzug 2011 erleben könnte.
Zur Veranschaulichung möge man sich die aus dem Vorjahr genannten 257 Terroranschläge einmal beispielhaft anhand des flächenmäßig noch etwas größeren Niedersachsens vorstellen.

Dann demonstrierte der IS erst im Januar 2022 seine neue Stärke durch die bisher schwersten Angriffe im Irak und Syrien mit hohen Todesraten. Diverse Quellen gehen davon aus, dass der IS zukünftig noch mehr Zulauf erhalten und gefährlicher werden könnte. Vgl. IntelBrief: Islamic State Attacks in Syria and Iraq Demonstrate a Building Momentum

Bis heute erleben die Jesiden sich ständig wiederholende Gräuel und waren dem immer ohne staatlichen Schutz ausgeliefert.

Die Fallstudie des Yale Genocide Studies Programs ”Before It’s Too Late – A Report Concerning the Ongoing Genocide and Persecution Endured by the Yazidis in Iraq, and Their Need for Immediate Protection” stellt detailliert die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholungsgefahr der Massen-Gräuel dar.

Diese Studie bietet eine Einschätzung des Verfolgungsrisikos, dem Jesiden im Irak nach der militärischen „Niederlage“ des ISIS-Kalifats und dem Verlust der territorialen Kontrolle ausgesetzt sind. Es wird auch analysiert, ob der Grad der Verfolgung mit einem ernsthaften Risiko zukünftiger Gräueltaten gegen die Jesiden korreliert. Das “Persecution Prevention Project“ (PPP) identifizierte zehn Grundrechte, die einer Person aus diskriminierenden Gründen verweigert wurden. Zu diesen Rechten gehörten beispielsweise das Recht auf Religionsfreiheit, das Recht auf Bewegungsfreiheit und Schutz vor erzwungener Vertreibung.

Der Bericht fasst eine Reihe von Beispielen zusammen, bei denen Jesiden die Rechte aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen verweigert wurden. Wichtig ist, dass der Bericht hervorhebt, dass die Tatsache, dass ISIS die Kontrolle über bestimmte Gebiete im Irak verloren hat, aber die Fähigkeit und Bereitschaft, Angriffe auf jesidische Gemeinschaften auszuführen, nicht beseitigt ist. Das bedeutet, dass die Verfolgung andauert. Anhaltende Verfolgungsmuster korrelieren mit einem ernsthaften Risiko zukünftiger Massengräueltaten. Diese Analyse erfolgt unter Bezugnahme auf Risikofaktoren, die im „Forschungsrahmen für die Analyse von Gräueltaten“ dargelegt sind.

Vier relevante Risikofaktoren werden zusätzlich zu zwei besonderen Risikofaktoren im Zusammenhang mit Völkermord berücksichtigt. Der Bericht enthüllt ein Kontinuum von Gewalt und Verfolgung, das sich über Jahrzehnte erstreckt, bis heute andauert und durch ein anhaltendes Klima der Straflosigkeit noch verstärkt wird. Selbst dort, wo ISIS in Gebieten des Irak die Kontrolle verloren hat, fand der Bericht keine Anzeichen dafür, dass die gegen Jesiden gerichtete völkermörderische Ideologie nachgelassen hat. Eine Betrachtung der etablierten Indikatoren deutet stark auf ein ernstes und anhaltendes Risiko hin, dass die Jesiden erneut Opfer von Gräueltaten, einschließlich Völkermord, im Irak werden.

In diesem Bericht wird davon ausgegangen, dass Verfolgung vorliegt, wenn eine Person aus Gründen, die mit diskriminierenden Gründen wie Religion, ethnischer Zugehörigkeit und/oder Geschlecht zusammenhängen, eines oder mehrerer Grundrechte schwer beraubt wurde. Diese spezifischen Grundrechte, die in diesem Bericht berücksichtigt wurden, sind:

Das Recht auf Religionsfreiheit
Das Recht auf Leben und Sicherheit
Das Recht auf Gesundheit und Rehabilitation
Das Recht auf Selbstbestimmung und politische Repräsentation
Das Recht auf Schutz des Gesetzes und Rechenschaftspflicht
Das Recht auf Freizügigkeit und den Schutz vor Vertreibung
Das Recht auf Anerkennung als Person vor dem Gesetz
Das Recht auf Bildung
Das Recht auf Wohnraum
Das Recht auf Beschäftigung bzw. Arbeit

Zu jedem der vorgenannten Rechte erfolgt eine umfassende Einzelanalyse. Es wird anhand einer Vielzahl von Beispielen hinreichend dokumentiert und ausgewertet, dass den Jesiden diese Rechte nicht gewährt werden. Weder vor den Übergriffen des IS 2014 noch danach und bis heute nicht.

Das Risiko künftiger Massengräueltaten wurde anhand der nachfolgenden Risikofaktoren bewertet, die im „Analyserahmen für Massen-Gräuelverbrechen“ festgelegt sind, der von dem UN-Sonderberater für die Prävention von Völkermorden entwickelt wurde.

Hier wird der Frage nachgegangen, ob der Grad der Verfolgung und das Ausmaß der Verwundbarkeit so groß ist, dass die ernsthafte Gefahr besteht, dass Massen-Gräueltaten gegen die Jesiden im Irak begangen werden.

Es werden die nachfolgenden einzelnen Risikofaktoren beschrieben und analysiert:

  • Situationen bewaffneter Konflikte oder anderer Formen der Instabilität
  • Nachweis schwerer Verletzungen der internationalen Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts
  • Schwäche staatlicher Strukturen und die Fähigkeit, weitere Massen-Gräueltaten zu begehen

Besondere Risikofaktoren für Völkermord: Spannungen zwischen Gruppen oder Diskriminierungsmuster gegen zu schützende Gruppen und Anzeichen für die Absicht, eine zu schützende Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören

Auch hier erfolgt zu jedem der vorgenannten Risikofaktoren eine umfassende Einzelanalyse anhand diverser Beispiele. Die Auswertung ergibt, dass die Jesiden einem ernsten und anhaltenden Risiko ausgesetzt sind, dass sich das Grauen wiederholt.

Zu den Lebensbedingungen der Binnenvertriebenen in der Region Irakisch Kurdistan und den sich aktuell noch verschlechternden Zuständen der dortigen Camps verweisen wir auf den REACH Situationsbericht “In-camp internally displaced person (IDP) camp profiling (28 October 2021)“

In diesem Bericht wird anschaulich dargestellt, dass sich die ohnehin schon sehr angespannte Lage, im Vergleich zu früheren Berichten, insgesamt in nahezu allen lebensnotwendigen Bereichen nochmals deutlich verschlechtert hat. Einige Beispiele hieraus:

  • Die Ernährungssicherheit hat sich verschlechtert. Insgesamt gaben 10% aller Befragten Haushalte an, dass sie in den letzten 30 Tagen aufgrund des Mangels an Ressourcen nichts zu essen hatten. Bei dem Camp mit dem höchsten Anteil dieser Meldung lag die Quote der Menschen, die nicht zu essen hatten, bei 48 % (AAF-Camp). In der Region Dohuk, Camp Bersive 2 hatten 29 % der Befragten nichts zu essen.
  • Die Einkommensmöglichkeiten haben sich für alle Binnenvertriebenen in der Region deutlich verschlechtert. Die schlechtesten Bedingungen herrschen in den Camps, wo die meisten von Frauen geführten Haushalten vorhanden sind.
    Reguläre Beschäftigung: Khazer M1 (7%), Hasansham U2 (6%) und U3 (1%);
    Unregelmäßige Beschäftigung: Khazer M1 (25%), Hasansham U2 (20%) und U3 (19%).
    Insgesamt berichteten 44% der IDP-Haushalte über Probleme mit der Wasserqualität.
  • Brände in den Lagern sind relativ häufig und Feuer wurde in fast allen Camps als die höchste Gefährdung angesehen. Im Bereich Dohuk lag die Quote bei fast allen Camps bei 75 – 100 %.
  • Gesundheitsversorgung:
    In der Region Dohuk gaben 89 % an, Probleme beim Zugang zur Gesundheitsversorgung zu haben. In der Region Erbil gaben dies 88 % an. Als Hauptproblem wurden zu hohe Kosten genannt (83%).
  • Die Situation bei den Unterkünften und der Instandhaltung in den Camps hat sich verschlechtert. Vor allem auch in der Region Dohuk. Insgesamt gaben 72% der befragten Binnenvertriebenen an, dass sie Verbesserungen an ihrer Unterkunft benötigen. Der Mangel an Schutz vor Witterungseinflüssen wird am häufigsten genannt.
  • Seither hat sich die Lage nochmals verschärft und bereits seit Dezember 2021 wurden erhebliche Finanzierungslücken und damit verbundene Versorgungsmängel auf nahezu allen relevanten Ebenen (Ernährung, Sicherheit, Gesundheitsversorgung, Wasser-Sanitär-Hygiene und Kinderschutz) prognostiziert. Es besteht eine ständige Unsicherheit hinsichtlich der elementarsten Grundversorgung und es wurde bereits befürchtet, dass die allernötigste Nahrungsmittelversorgung in allen noch verbleibenden 26 Flüchtlingslagern bereits ab März 2022 komplett zusammenbrechen könnte. Quelle: OCHA Iraq: Humanitarian Snapshot – January 2022

Dass die absolute Mehrheit der Yeziden und Christen, die 2014 den Genozid durch den IS überlebte, trotzdem und immer noch lieber seitdem als Binnenvertriebene unter den geschilderten prekären und zunehmend schlechteren Umständen ausharrt und auch in der Zukunft keine Rückkehrperspektive sieht, spricht für sich selbst und hat andauernde Gründe. Es hat eine lange Tradition im islamisch geprägten Irak die Jesiden zu vernachlässigen, zu diskriminieren, zu vertreiben und ihnen Grundrechte wie Sicherheit und Schutz vorzuenthalten und sie so jeglicher Teilhabe zu berauben. Die Ninive-Ebene, insbesondere das vormals von Yeziden bewohnte Sinjar-Gebiet, ist eines der unsichersten und zerstörtesten Gebiete mit der schlechtesten Sicherheit und dem geringsten Wiederaufbau. Von den wenigen Rückkehrern, wurden viele erneut vertrieben oder finden keine ausreichende Lebensgrundlage vor. Trotz fließender internationaler Gelder, schafft es weder die irakische Zentralregierung noch die KRG, nach nunmehr 9 Jahren, immer noch nicht für einen Wiederaufbau oder Sicherheit in der Region Sinjar zu sorgen, um überhaupt eine funktionierende Rückkehrperspektive zu ermöglichen.

Die Studie der Forschungsorganisation Social Inquiry “Return as Social Interaction: Networks and Perceptions Among Yezidi and Christian IDPs from Ninewa Governorate” befasst sich mit dieser Problematik.

Die Studie erhebt Daten über das Rückkehrverhalten von Yeziden und Christen, die seit 2014 in andauernder Vertreibung in IDP Camps leben und ursprünglich aus den Bezirken Sinjar und Hamdaniya stammen. Es geht um Zielgebiete des Safe Return-Programms von HAI, welche eine Rückkehr in einzelne Orten dort unterstützt und ist daher nicht anwendbar oder verfügbar für die Vielzahl der Vertriebenen, die keinerlei Unterstützung an den Ursprungsorten erhalten.

Selbst unter diesem Aspekt kam es am Ende dieser Studie zu dem Ergebnis, dass lediglich 28% versuchten an ihre Herkunftsorte zurückzukehren, während der Rest in den IDP Camps weiterhin ausharrt. Die breite Mehrheit gab an, dass sie kurz- bis mittelfristig weiterhin in den Camps bleiben wolle und es vorziehe, längerfristig ins Ausland zu flüchten.

Weiterhin geht es um Gründe, die die Teilnehmer dafür angaben, warum ihre Rückkehrversuche scheiterten. Sie reichen von mangelnder Sicherheit, der Unmöglichkeit neue Lebensgrundlagen zu finden, schlechten Lebensbedingungen aufgrund von Hauszerstörung und mangelnder Wiederherstellung von grundlegenden nicht vorhandenen Dienstleistungen und Infrastrukturen an ihrem Herkunftsort.

Betroffene tätigten folgende Aussagen hinsichtlich ihres gescheiterten Rückkehrversuches in den Ursprungsort:

  • „Wir sind zurückgekehrt, aber wir haben festgestellt, dass es keine Arbeit gibt, kein Leben, und unser Haus kaputt ist. Wir können es nicht reparieren, also kamen wir wieder nach Sitak zurück.“ (Binnenvertriebene in Tasluja, Gouvernement Sulaimaniya, aus Khanisur, Distrikt Sinjar)
  • „Wir kehrten zurück und versuchten, dort ein neues Haus zu mieten, aber wir sahen, dass es keine Arbeit gibt und meine Söhne dort keine Arbeit finden konnten, also kamen wir zurück.“ (Binnenvertriebene in Ainkawa, Gouvernement Erbil, aus dem Hamdaniya Center, Bezirk Hamdaniya)
  • „Es war sehr schwierig, zurückzukehren. Wir sind wegen des Versagens bei der Erbringung von Dienstleistungen wieder vertrieben worden.“ (Binnenvertriebene im Lager Shariya, Gouvernement Dohuk, aus Hatin, Distrikt Sinjar)
  • „Eine Woche nach unserer Rückkehr kehrten wir aufgrund der Schwierigkeiten, dort zu leben, und der Unsicherheit, die wir fühlten, in die Vertreibung zurück.“ (Binnenvertriebene im Lager Kabarto, Gouvernement Dohuk, aus Hardan, Bezirk Sinjar)
  • „Wir kamen zurück [zur erneuten Vertreibung], weil das Familienoberhaupt krank ist und Ärzte in der Gegend, aus der wir kommen, nicht verfügbar waren.“ (Binnenvertriebener in Bajid Kandala, Gouvernement Dohuk, aus Borek, Distrikt Sinjar)

Auf die Frage nach den drei Bedingungen, die nach Meinung der Studienteilnehmer am wichtigsten sind, um an einem Ort leben zu können, wählten 80 % den Punkt “Körperliche Sicherheit“. Dies ist bei weitem die vorrangig genannte Voraussetzung. Die körperliche Unversehrtheit wählten alle Befragten entweder als erstes, zweites oder drittwichtigstes Bedürfnis. Es folgen wirtschaftliches Wohlergehen und Gerechtigkeit für Menschenrechtsverletzungen. Sicherheit ist die grundlegende Voraussetzung und der Punkt, der im Zeitverlauf der Studie spürbare Schwankungen in Richtung Verschlechterung gezeigt hat. Dies wird damit begründet, dass es wahrscheinlich sehr stark mit der sich entwickelnden und volatilen politischen Lage und Sicherheitsdynamiken an den Herkunftsorten (insbesondere im Bezirk Sinjar) zusammenhängt, die weiterhin stattfinden.

Ein konsistentes Ergebnis über alle analysierten Wellen hinweg ist, dass IDP-Teilnehmer ihre Fluchtorte im Allgemeinen über alle Wertungskriterien hinweg immer noch besser bewerten als ihre Herkunftsorte. Die Teilnehmer bewerten körperliche Sicherheit, Wohlbefinden und Dienstleistungen sowie Gerechtigkeit bzw. Schutz vor Menschenrechtsverletzungen als die Bedingungen, die sie an einem Ort am meisten schätzen, um dort zu leben. Diese haben auch die schlechtesten Werte unter den IDP-Teilnehmern an ihren Herkunftsorten, unabhängig von ihrer jesidischen oder christlichen Identitätsgruppe.

Für die individuell Betroffenen scheint es häufig unlösbar zu sein, zu einer Entscheidung zu kommen, wo und wie sie leben sollen und was sie inmitten der Unsicherheit für tatsächlich machbar halten. Die Komplexität der Probleme und generelle Instabilität des Irak in nahezu allen relevanten Bereichen macht es für die verfolgte Minderheit weiterhin schwierig, zu entscheiden, ob es überhaupt jemals möglich sein könnte, nach Hause zurückzukehren.

Jüngste Forschungen über Binnenvertriebene im Irak, die durch den IS vertrieben wurden, zeigen, dass selbst scheinbar „einfache“ wirtschaftliche Entscheidungen im Zusammenhang mit Vertreibung alles andere als einfach sind. Binnenvertriebene müssen Entscheidungen treffen, indem sie ihre eigenen aktuellen meist schon prekären Lebensumstände, denen in ihren Herkunftsorten und dem Potenzial dort überhaupt leben zu können, gegeneinander abwägen. Zu diesen Faktoren gehören wirtschaftliche Aussichten, die Unterkunftsmöglichkeit, die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen und Infrastruktur, die Sicherheit, Fragen des sozialen Zusammenhalts und schließlich die Rechtssicherheit, der Wiedergutmachung und der Garantien für eine Nichtwiederholung der Ereignisse und Verstöße, die zu ihrer andauernden Vertreibung geführt haben.

Die Ankündigung vom Oktober 2020, alle Lager für Binnenvertriebene bis Ende des Jahres zu schließen, beschleunigte die Rückkehr sunnitisch arabischer Familien in den Bezirk Sinjar.

Der Bezirk Sinjar war mit historischer Marginalisierung und Entwicklungsvernachlässigung konfrontiert und als solches ist die Zerbrechlichkeit älter als der IS-Konflikt. Daten aus dem Jahr 2012 zeigen, dass dieses Gebiet im Vergleich zum Rest des Irak eine der höchsten Raten von Unsicherheit, Armut und wahrgenommener Korruption und Willkür aufwies.

Der Bezirk Sinjar weist im Vergleich zu anderen konfliktbetroffenen Gebieten insgesamt die schwierigsten Lebensbedingungen auf, insbesondere in Bezug auf die Zerstörung von Wohngebieten, den Zugang zu Arbeitsplätzen, den Wiederaufbau der Landwirtschaft und / oder Unternehmen, den Wiederaufbau des öffentlichen Sektors und die öffentliche Wasser- und Stromversorgung.

Die Situation ist in den meisten Teilen der Region Sinjar besonders schlimm, wobei der Zugang zur primären Gesundheitsversorgung fehlt, es nur schlechte öffentliche Wasser- und Stromversorgung gibt, die Infrastruktur und Wohnhäuser weitestgehend zerstört sind.

Die Unterbezirke Sinjar Stadt, Sinuni, Qayrawan, Hamdaniya und Bartella umfassen einen Teil der Gebiete, die zwischen der irakischen Bundesregierung und der Regionalregierung Kurdistans (KRG) umstritten sind. Ihr umstrittener Status ist ein anhaltender Streitpunkt, der sowohl die Sicherheitslage beeinträchtigt, als auch den Wiederaufbau blockiert. Die lokalen Behörden und die darin enthaltenen Gemeinschaften sind auch in Bezug auf ihre Unterstützung für die eine Seite, die andere oder keine Seite gespalten. Diese Dynamik setzt sich im Gefolge des Sinjar-Abkommens vom Oktober 2020 fort, dass von den Regierungen von Bagdad und Erbil ausgehandelt wurde, um Fragen der Regierungsführung, der Sicherheitsvorsorge und der Rückkehr unter anderem in dem Bezirk zu lösen, in dem die Bewohner unterschiedliche Ansichten darüber haben, was, wenn überhaupt, eine Veränderung mit sich bringen wird. Zumal diese politische Vereinbarung ohne Beteiligung der ursprünglichen jesidischen Bewohner oder deren Vertreter im Bezirks Sinjar stattfanden. Darüber hinaus haben anerkannte nationale Minderheiten im Allgemeinen keine angemessene politische Vertretung in den Regierungen von Bagdad und Erbil, wobei die lokalen Verwaltungen und der öffentliche Sektor zwischen den verschiedenen dort ansässigen ethno-religiösen Gemeinschaften umstritten sind.

Der Bezirk Sinjar erlebte nach 2003 und während des IS-Konflikts ein hohes Maß an Unsicherheit sowie extremistische Gewalt. In der Folgezeit sind die Sicherheitsbedenken angesichts der unterschiedlichen Konfliktdynamik besonders lokal begrenzt und verschieden.  Probleme beziehen sich in der Regel mehr auf die zugrundeliegenden politischen Dimensionen und die allgemeine existenzielle Unsicherheit / Fragilität dieser jeweiligen Kontexte für ihre Bevölkerung. Im Bezirk Sinjar sind die Verbreitung von diversen Sicherheitsakteuren und anderen bewaffneten Gruppen, die derzeit vorhanden sind (und das Potenzial für Zusammenstöße zwischen ihnen), für die Bevölkerung von großer Bedeutung. Ebenso, wie die Besorgnis über Racheangriffe, ethno-religiöse Konflikte, IS-Angriffe, das Potenzial für Zwangsrekrutierung in bewaffnete Gruppen und Episoden von Brandstiftung. Diese Bedenken werden durch grenzüberschreitende Bewegungen bewaffneter Gruppen aus dem benachbarten Syrien und daraus resultierenden Vergeltungsluftangriffen noch verstärkt.

Die türkischen Luftangriffe gegen bewaffnete Gruppen im Bezirk Sinjar und im Gouvernement Dohuk nehmen seit 2020 und bis heute immer weiter zu. Die größere Präsenz türkischer Akteure, die aufgrund ihrer militärischen Präsenz in diesen Gebieten tätig sind, ist sowohl in Sinjar als auch in Dohuk zu einem Grund zur Besorgnis für Anwohner und lokale Behörden geworden.

Die jesidische und sunnitisch-arabische Bevölkerung im Bezirk Sinjar hatte historisch sozioökonomische und kulturelle Beziehungen aufrechterhalten. Diese sind nun aufgrund der Massengewalt und extremen Übergriffe des Konflikts vollständig abgeschnitten, wobei die Interaktion auf Gemeindeebene zwischen diesen Gruppen seit der Rückeroberung des Bezirks nicht mehr existiert. Die sunnitisch-arabische Bevölkerung wurde angesichts der verschiedenen verantwortlichen Sicherheitskonfigurationen effektiv daran gehindert, in einen Großteil des Bezirks zurückzukehren, wobei während und nach militärischen Aktionen Vergeltungsmaßnahmen gegen diese Bevölkerung ergriffen wurden. Eine Verschiebung der Sicherheitsakteure im Jahr 2018 und die Schließung von Lagern für Binnenvertriebene im Jahr 2020 ermöglichten es einigen sunnitisch-arabischen Familien, in Dörfer rund um Sinuni zurückzukehren, jedoch sind ihre Bewegungen im Allgemeinen in der Region und im gesamten Bezirk erheblich eingeschränkt. Es ist also keine Überraschung, dass die Sorge um Rache und die Spannungen in den Gemeinden überwiegen.

In den Unterbezirken Hamdaniya Stadt und Bartella bestehen auf Gemeindeebene angespannte Beziehungen zwischen Christen und Schabaks, den beiden vorherrschenden Gruppen in der Region. Dies ist weniger auf den IS-Konflikt zurückzuführen, in dem beide Gemeinschaften ins Visier genommen wurden, sondern auf Veränderungen nach 2003, als Schabak-Gemeinschaften infolge sektiererischer Gewalt in die mehrheitlich christlichen Unterbezirke von Mossul City und den umliegenden arabischen Gemischtdörfern zogen.

Diese Bewegung wird von einigen als ein von der Regierung geplanter, politischer Versuch der „Schiitierung“ christlicher Gebiete und von anderen als „natürliche“ Tendenz jeder Zielgruppe angesehen, die vor Gewalt flieht und sicherere, besser geeignete Gebiete zum Leben sucht.

Angesichts des Ausmaßes der Vergehen an den Jesiden, die bisher in diesen Gebieten stattgefunden haben, ist es nicht verwunderlich, dass diese Bevölkerungsgruppe nach wie vor tiefsitzende Befürchtungen hat. Für Gemeinden in und aus dem Bezirk Sinjar beziehen sich diese am stärksten auf das, was während und nach dem IS-Konflikt geschah. Zu ihren Forderungen für die jesidischen Gemeinschaften gehören die Aufklärung der Aufenthaltsorte der verbleibenden vermissten jesidischen Frauen und Kinder, die Exhumierung aller Massengräber und eine internationale gerichtliche Untersuchung der Ereignisse von 2014.

Alle Prozesse, mit denen diese Probleme angegangen werden könnten, müssten auch die zugrundeliegenden und wachsenden internen politischen, sicherheitspolitischen und sozialen Anliegen angehen. Aufgrund der Sensibilität für diese Themen sind die Bemühungen in dieser Richtung noch im Entstehen begriffen und bisher faktisch nicht angegangen worden.

Ein weiteres Problem der Jesiden für eine nachhaltige Rückkehrperspektive bzw. überhaupt adäquate Lebensgrundlagen im islamisch geprägten Irak vorzufinden, liegt an der mangelnden sozialen Integrationsmöglichkeit und den andauernden sektiererischen Spannungsfeldern. vgl. Bericht Mercy Corps “Towards Durable Solutions to Displacement – Understanding Social Acceptance of Returnees in Post-ISIS Iraq”

Seit die irakische Regierung 2017 den Sieg über den Islamischen Staat (ISIS) verkündete, wird angeblich eine Rückkehr von Binnenvertriebenen (IDPs) in ihre Heimatgebiete angestrebt, obwohl vielfach die Voraussetzungen hierfür fehlen, was zu neuem Elend und teil wiederholter Vertreibung führt. Zahlreiche Barrieren bleiben bestehen und als Folge davon sind fast 1,2 Millionen Binnenvertriebene, worin die größte Gruppe die Jesiden darstellen, noch nicht zurückgekehrt. Während einige der Hindernisse für die nachhaltige Rückkehr und Wiedereingliederung von Binnenvertriebenen mit mangelnder Sicherheit und humanitären Bedürfnissen zusammenhängen, ist die mangelnde soziale Akzeptanz von Rückkehrern weiterhin ein sehr großes Hindernis. Einzelpersonen und Gemeinschaften haben sich geweigert, Rückkehrer aufzunehmen oder mit ihnen zusammenzuleben, die sie – zu Recht oder zu Unrecht – als Unterstützer des IS oder als Komplizen seiner Gräueltaten wahrnehmen. Dies ist eine besondere Herausforderung für die ethnischen und religiösen Minderheiten im Irak, die von ISIS systematisch verfolgt wurden.

Diese Probleme drohen die Vertreibungskrise im Irak weiter zu verlängern, die Spannungen zwischen den Gruppen wieder zu verschärfen und Racheanschläge und weitere Kämpfe auszulösen. Das Verständnis der Faktoren, die die soziale Akzeptanz von Rückkehrern fördern, ist daher nicht nur für die Beendigung der Vertreibung, sondern auch für den Aufbau des sozialen Zusammenhalts, die Förderung der Aussöhnung und die Verhinderung künftiger Konflikte im Irak von entscheidender Bedeutung. Leider ist dieses Problem bisher weder von der irakischen noch der kurdischen Regierung angegangen worden.

Der von der irakischen und kurdischen Regierung zugelassene Vernichtungsfeldzug des IS gegen die Jesiden und die Zeit danach, wo der IS von Teilen der sunnitischen Nachbarn willkommen geheißen und unterstützt wurde, sorgt für ein anhaltendes Gefühl der Ohnmacht und Opferrolle. Dies führt dazu, dass Jesiden weiterhin große Befürchtungen davor haben, mit sunnitischen Rückkehrern zusammen zu leben und dass sich die Geschichte wiederholen könnte. Von den befragten jesidischen Männern gaben 38 % an, sich ein Zusammenleben mit sunnitischen Rückkehrern vorstellen zu können. Insbesondere bei befragten jesidischen Frauen sind die Befürchtungen jedoch immens. Lt. Umfrage akzeptierten lediglich 9 % der jesidischen Frauen sunnitische Rückkehrer, zu groß ist die Angst. Selbst unter dem Aspekt, wenn sie ein inklusives Opferbild, d.h. wenn sie zu der kleinen Gruppe gehörten, die mit Sunniten gemeinsam vertrieben wurden und mit diesen interagierten, stieg die Akzeptanzquote trotzdem nur auf 15 %. Dies verdeutlicht das Ausmaß der anhaltenden Traumatisierung, vor allem bei den Jesidinnen und das fortbestehende Misstrauen, was angesichts der grauenvollen Ereignisse nicht verwundert. Für die schwer verfolgte Bevölkerungsgruppe der Jesiden ist es schwierig, in einem stark polarisierten sektiererischen Umfeld weiterhin als sehr reduzierte Minderheit mit Sunniten zusammenzuleben. Ob, wann und wie eine soziale Wiedereingliederung und friedliche Koexistenz der Jesiden innerhalb der muslimischen Gesamtbevölkerung und islamischer Gesetzgebung jemals gelingen sollte, bleibt ungewiss. Denn bisher hat weder die irakische noch kurdische Regierung wahrnehmbare Anstrengungen hierzu unternommen. Die im Irak am schwersten verfolgte Bevölkerungsgruppe der Jesiden ist und bleibt marginalisiert.

Zur Lage des Gesundheitssystems verweise ich auf den Bericht der Konrad Adenauer Stiftung: “Medicine Under Fire – How Corruption Erodes Healthcare in Iraq“

Bei den Krankenhausbränden im April und Juli 2021 in Nasiriya und Bagdad kamen Hunderte ums Leben, was ein medizinisches System, das bereits unter dem Gewicht der COVID-19-Pandemie zusammengebrochen war, nochmals verschlimmerte. Als Ursache für die mangelhafte Versorgung wird die allgegenwärtige Korruption im Gesundheitssektor identifiziert und beschrieben. Gerade vulnerable dauerhaft an den Rand gedrängte Vertriebene haben aufgrund der Mittellosigkeit häufig gar keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Die unter der Überschrift “Krankenhausvermeidung als Überlebensstrategie“ zusammengefassten Berichte von kranken und hilfesuchenden Menschen schildern eindrücklich das katastrophale Alltagsgeschehen.

Das ursprünglich von den Jesiden besiedelte Ninewa-Gebiet hat eine der höchsten Verseuchung durch explosive Kriegsreste weltweit. Diese stellen auf lange Sicht eine ständige Bedrohung für die Zivilbevölkerung dar. Auch die Kontamination mit Blindgängern kann zu Tod, Verletzungen oder dauerhaften Beeinträchtigungen von Menschen führen. Zudem beeinträchtigen Blindgänger den sicheren Zugang zu Dienstleistungen, auf die die Zivilbevölkerung angewiesen ist, wie z. B. Gesundheitsversorgung, Bildung, Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, Verkehr und Telekommunikation und schränkt die Bewegungsfreiheit und die Rückkehr der vertriebenen Bevölkerung ein. Zu dieser Aussage kommt der Bericht “No safe recovery: Die Auswirkungen der Verseuchung durch explosive Kriegsreste auf die betroffene Bevölkerung im Irak“ von Handicap International Deutschland.

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