Der Landkreis Vechta hat am 14.10.2022 den kurdischen Geflüchteten Ü. überraschend in die Türkei abgeschoben, obwohl alle Bedingungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dem sog. Chancen-Aufenthaltsrecht vorlagen. Der Fall illustriert exemplarisch, dass in einigen niedersächsischen Amtsstuben weiterhin eine ausgeprägte Deichgrafenmentalität herrscht: Offenkundig sehen diese Ausländerbehörden in jeder erteilten Aufenthaltserlaubnis eine persönliche Niederlage. Während andernorts händeringend Fachkräfte gesucht werden, setzt der Landkreis Vechta mit seinem Vorgehen Maßstäbe für einen besonders schäbigen Umgang mit Menschen.
Ü. reiste am 20.12.2016 in Deutschland ein und hielt sich damit am 01.01.2022 fünf Jahre erlaubt, geduldet oder gestattet im Bundesgebiet auf, wie das Chancen-Aufenthaltsrecht es verlangt. Bereits am 20.05.2022 stellte Rechtsanwalt Dündar Kelloglu einen Antrag auf Duldung nach dem Chancenaufenthaltsrecht und berief sich dabei auf den sog. „Vorgriffserlass“ des Landes vom 02.05.2022, welcher aufgrund der zu erwartenden Rechtsänderung zum 01.01.2023 eine Aussetzung von Abschiebung von Geflüchteten anordnete, die die Bedingungen des Chancenaufenthaltsrechts erfüllen. Gegenüber dem Anwalt sagte die Ausländerbehörde am 23.06.2022 telefonisch die Erteilung der Duldung zu.
Hinter dem Rücken des Betroffenen und seines Anwalts bereitete die Ausländerbehörde dennoch die Abschiebung vor: Am 13.10.22 wurde Ü. überraschend festgenommen und am 14.10.22 in die Türkei abgeschoben. Zur Begründung führt der Landkreis Vechta an, Ü. habe sich nicht sofort nach Ablauf seines Visums am 16.03.2017 bei den Behörden als Asylsuchender gemeldet, sondern erst am 07.05.2017. Ü. habe sich insofern nicht seit dem 01.01.2017 „ununterbrochen“ erlaubt, geduldet oder gestattet im Bundesgebiet aufgehalten.
Richtig ist, dass im Rahmen der Vorgriffsregelung keine Regelung zur Beurteilung einer ggfs. unschädlichen Unterbrechung erlassen wurde. Zwar sieht das Chancen-Aufenthaltsrecht vor, dass kurzfristige Unterbrechungen bis zu drei Monaten unschädlich sind, jedoch gilt dies erst seit Inkrafttreten des §104c AufenthG zum 01.01.2023. Der Landkreis hätte aber die bereits damals geltenden Regelungen im Rahmen der Bleiberechtsregelungen als Maßstab heranziehen können und müssen. Unter Ziffer 2.2. der Anwendungshinweise des Landes zu § 25b AufenthG ist Folgendes geregelt:
„Ein ununterbrochener Aufenthalt im Bundesgebiet liegt vor, wenn der Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, Duldung oder Aufenthaltsgestattung zum Zeitpunkt der Entscheidung durchgängig seit mindestens sechs bzw. acht Jahren nachgewiesen werden kann. Das Vorliegen von Duldungsgründen ist ausreichend; Zeiten, in denen die Ausländerin oder der Ausländer faktisch geduldet war, sind anzurechnen. Kurzzeitige Unterbrechungen von bis zu drei Monaten des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis, Duldung oder Aufenthaltsgestattung bei gleichzeitigem Aufenthalt im Bundesgebiet sind unschädlich (s. auch Gesetzesbegründung BT-Drs. 18/4097, S. 43) und unterbrechen die geforderte Aufenthaltsdauer nicht, sofern die oder der Betroffene nicht untergetaucht war, um sich einer Abschiebung zu entziehen und der Aufenthaltsort der zuständigen Ausländerbehörde bekannt war.“
Weitere vom Landkreis Vechta vorgebrachte Begründungen für die Verweigerung eines Aufenthaltsrechts – wie z.B. der durch nichts begründete Zweifel an der Verfassungstreue des Mannes oder die Behauptung, der Mann habe falsche Absichten „vorgetäuscht“ – sind auch aus Sicht des Innenministeriums unhaltbar: Von einem Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung sei bereits dann auszugehen gewesen, wenn keine anderweitigen konkreten Erkenntnisse bzw. Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass sich der Betroffene nicht dazu bekennt. Die Vorlage eines Einbürgerungstestes oder Ähnliches waren nicht notwendig. Dies sei den Ausländerbehörden auch im Rahmen der Übersendung des o.g. Erlasses mitgeteilt worden. Aufgrund des im Vorgriffserlass fehlenden Absatzes zur Unschädlichkeit kurzfristiger Unterbrechungen sei die Abschiebung jedoch, so das Innenministerium mit Schreiben vom 20.04.2023, „rechtlich im Ergebnis nicht zu beanstanden“.
Damit bestätigt das niedersächsische Innenministerium, dass das Vorgehen des Landkreis Vechta nicht rechtswidrig war, wenn auch die geltende Praxis bei der Umsetzung von Bleiberechtsregelungen in Niedersachsen eigentlich ein anderes Vorgehen nahegelegt hätte: Warum hat der Landkreis Vechta nicht beim niedersächsischen Innenministerium als zuständiger Fachaufsichtsbehörde nachgefragt? Und warum wurde die Abschiebung hinter dem Rücken des Betroffenen und seines Anwaltes organisiert, die sich sicher wähnten, weil die Ausländerbehörde eine Duldung telefonisch zugesichert hatte? Der Landkreis Vechta praktiziert Abschreckungspolitik statt „Willkommenskultur“.
Unfassbar, einfach Abschreckungspolitik statt „Willkommenskultur“.
Wie geht es für den Herren Ü weiter?
Da bekomme ich das kotzen. Anscheinend alles AfD-Fans.