Der Flüchtlingsrat fordert die niedersächsische Landesregierung auf, Menschen aus Afghanistan aufzunehmen und verlässliche Bleibeperspektiven für in Niedersachsen lebende Afghan:innen zu schaffen.
Seitdem die Taliban die Macht ergriffen haben, hat sich die Gefahrenlage für die Menschen in Afghanistan weiter verschärft – wie die nachfolgenden Zuschriften an den Flüchtlingsrat Niedersachsen exemplarisch zeigen.
„Meine Tante arbeitete als Apothekerin in einer Klinik, die von westlichen Streitkräften betrieben wurde. Wie Sie sicher wissen, werden Familien mit Verbindungen zu westlichen Streitkräften ins Visier genommen. Die Taliban haben in ganz Afghanistan mit Hausdurchsuchungen begonnen. Die gesamte Familie versteckt sich, da sie bedroht ist, von den Taliban umgebracht zu werden.“
„Weil ein anderer Mann aus der Queer Community zu den Taliban übergegangen ist, hat mein Freund nun große Angst, dass er verraten wird. Liebesbeziehungen unter Männern werden von den Taliban mit dem Tode bestraft. Ich mache mir große Sorgen, wenn ich mehrere Tage nichts von ihm höre.“
Die Maßnahmen, die bislang durch die Bundesregierung ergriffen wurden, um dem Menschen in Afghanistan zu helfen, sind bei weitem nicht ausreichend – wie nachfolgenden Zuschriften beispielhaft verdeutlichen.
„Wir sind eine Gruppe von ehemaligen Bundeswehrmitarbeitern, die in Afghanistan leben. Nach den Regelungen der Bundesregierung haben nur diejenigen eine Chance auf Evakuierung, deren Arbeitsverhältnis ab 2013 bestand. Diese Unterscheidung machen die Taliban aber nicht. Unsere Frage an die Bundesregierung lautet nun, ob das Leben derer, die vor 2013 bei den deutschen Streitkräften gearbeitet haben, weniger wert ist als das Leben derer, die nach 2013 gearbeitet haben?“
„I have worked in diverse areas of governmental work in Afghanistan. Since graduating from the University I have worked in the fields if Human rights and women’s right. From the start of 2020 I have been working as military judge. I have been in the public eye after being a guest on various TV programs as part of my job. These public appearances have been followed by the Taliban.“
Zugleich ist es auch dringend notwendig, in Deutschland lebenden Afghan:innen und ihren Angehörigen endlich eine verlässliche Perspektive zu bieten. Für viele bedeutet die Machtübernahme der Taliban, dass eine Rückkehr nach Afghanistan auf absehbare Zeit ausgeschlossen ist, was ihre prekäre Situation weiter zuspitzt.
„Ich bin 2015 mit meinem Mann nach Deutschland geflohen und unser Asylantrag wurde abgelehnt. Jetzt haben wir eine Duldung. Ich bin traumatisiert und befinde mich in Behandlung. Mein Arzt sagt, dass ich keinen Stress haben darf, weil das meine Gesundheit sehr stark beeinträchtigt, aber das ist nicht möglich. Ich denke immer, wie lange wir noch ohne Bleibeperspektive warten müssen. Das Warten, die Angst und die Hoffnungslosigkeit machen mich krank und kränker.“
„Meine Ehefrau lebt in Afghanistan. Ich habe eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland. Schon vor einem Jahr haben wir einen Termin bei der Botschaft in Neu-Delhi gebucht, damit sie dort ihren Antrag auf ein Visum zum Familiennachzug stellen kann. Wir warten immer noch auf diesen Termin. Als ich bei der Botschaft nachfragte, sagte man mir, das wären die üblichen Wartezeiten, wir sollen uns gedulden.“
Um das Leid und das Elend, denen Afghan:innen derzeit ausgesetzt sind, zumindest zu lindern, fordert der Flüchtlingsrat Niedersachsen von der Landesregierung:
1. Landesaufnahmeprogramm nach § 23 Abs. 1 AufenthG
Niedersachsen sollte ein eigenes Landesaufnahmeprogramm für Afghan:innen auflegen.
2. Ausnahmsloser Abschiebungsstopp
Niedersachsen sollte ausnahmslos davon absehen, Menschen nach Afghanistan abzuschieben.
3. Aufenthaltserlaubnisse für alle Afghan:innen
Niedersachsen sollte allen Afghan:innen, die lediglich geduldet werden, eine Aufenthaltserlaubnis erteilen.
4. Mitwirkungspflichten aussetzen und Reiseausweise für Ausländer:innen ausstellen
Niedersachsen sollte bei Afghan:innen gänzlich von der Mitwirkungspflicht zur Passbeschaffung absehen und ihnen einen Reiseausweis für Ausländer:innen (§ 5 AufenthV) ausstellen – wie dies auch bei Syrer:innen lange Zeit der Fall war.
5. Aufhebung und Aussetzung aller Sanktionen
Niedersachsen sollte sämtliche Sanktionen wie Arbeitsverbote und Leistungskürzungen gegen über Afghan:innen aufheben und bis auf Weiteres keine Sanktionen mehr gegen sie anordnen.
6. Familiennachzug zu afghanischen Staatsangehörigen erleichtern
Niedersachsen sollte beim Familiennachzug von afghanischen Angehörigen sowohl von der Verpflichtung zur Lebensunterhaltssicherung, als auch von der Verpflichtung zum Nachweis ausreichenden Wohnraums absehen.
Annika Hesselmann, Referentin beim Flüchtlingsrat Niedersachsen
„Die Landesregierung muss den etwa 2.000 Afghan:innen, die lediglich geduldet und dadurch in vielen Lebensbereichen diskriminiert werden, endlich eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Sie darf weder die Menschen in Niedersachsen und ihre Angehörigen in Afghanistan noch die besonders gefährdeten Afghan:innen im Stich lassen. Wenn Innenminister Boris Pistorius es ernst damit meint, weitere Afghan:innen zügig und unbürokratisch aufnehmen zu wollen, dann muss die Landesregierung sich gegen über dem Bundesinnenministerium für eine Beschleunigung und Vereinfachung des Familiennachzugs einsetzen und ihn dort, wo es ihr unmittelbar möglich ist, selbst erleichtern. Zudem muss das Land ein eigenes Aufnahmeprogramm verabschieden und beim Bundesinnenministerium darauf drängen, dass niedersächsische und weitere Landesaufnahmeprogramme zu genehmigen.“
Kontakt
Flüchtlingsrat Niedersachsen
Annika Hesselmann
0511 – 81 12 00 80
ahe(at)nds-fluerat.org, nds(at)nds-fluerat.org
Hintergrund
Bündnis fordert großzügiges Aufnahmeprogramm für Afghan:innen, Beitrag vom 17. September 2021
Afghanistan: Für ein niedersächsisches Aufnahmeprogramm!, Pressemitteilung vom 26. August 2021
Afghanistan: Luftbrücke jetzt!, Beitrag vom 17. August 2021
Ausreise aus Afghanistan? Aktuelle Informationen, Beitrag vom 17. August 2021 [Die Informationen werden fortlaufend aktualisiert.]
Abschiebungen nach Afghanistan ausgesetzt!, Beitrag vom 11. August 2021
Keine Abschiebungen nach Afghanistan!, Gemeinsamer Aufruf vom 10. August 2021
Bundesregierung redet die Lage in Afghanistan schön, Beitrag vom 23. Juli 2021
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