Woran starb Qosay K.?

Am 28. April 2021 beklagte sich die Gewerkschaft der Polizei Niedersachsen (GdP) über eine in einer dpa-Meldung wiedergegebene Stellungnahme des Flüchtlingsrats Niedersachsen zum Tod von Qosay K. nach einem Polizeieinsatz in Delmenhorst Anfang März. Die GdP Niedersachsen forderte sowohl in einem Schreiben an den Verein als auch in einer öffentlichen Stellungnahme den Flüchtlingsrat auf, „seine diffamierenden Aussagen klarzustellen und sich bei den Tausenden Polizistinnen und Polizisten im Land zu entschuldigen.“

Vorstand und Geschäftsstelle des Flüchtlingsrats Niedersachsen erklären hierzu, dass für eine Einschränkung der Aussagen oder gar eine Entschuldigung kein Anlass besteht. Die reflexhafte Abwehr der GdP wegen einer kritischen Einordnung des Todes von Qosay K. verweist vielmehr auf ein strukturelles Problem der Polizei. Unmittelbar nach dem Tod von Qosay K. hat die Delmenhorster Polizei von einem „Unglücksfall“ gesprochen, ohne auch nur die Möglichkeit polizeilichen Fehlverhaltens in Erwägung zu ziehen. Der Oldenburger Polizeipräsident Johann Kühme stellte nur wenige Tage nach dem Tod von Qosay K. in der Nordwest-Zeitung fest: „Unrechtmäßige Polizeigewalt, wie es sie etwa bei der Verhaftung von George Floyd in den USA gab, ist hier auszuschließen.“ Solche Darstellungen deuten darauf hin, dass Polizeibehörden ein eigenes Fehlverhalten nicht als grundsätzlich möglich anerkennen. Dagegen betont der Kriminologe Professor Tobias Singelnstein (Ruhr-Universität Bochum) zurecht:

„Die Polizei setzt jeden Tag Gewalt ein. Es wäre ein Wunder, wenn es nicht zu Fehlern, zu Missbräuchen und Grenzüberschreitungen kommen würde.“
Kriminolge Professor Tobias Singelnstein, in: Kreiszeitung vom 23. April 2021

Aus Sicht des Flüchtlingsrats Niedersachsen darf nicht aus dem Blick geraten, worum es eigentlich geht: Der junge Geflüchtete Qosay K. ist in Delmenhorst nach einem Polizeieinsatz gestorben. Er war zuvor wegen des Konsums von Marihuana, also wegen einer Bagatalle, kontrolliert worden. Wir müssen also darüber sprechen, warum Qosay K. gestorben ist. Der Flüchtlingsrat erwartet, dass die Umstände, unter denen der Jugendliche ums Leben kam, gründlich ermittelt werden. Allzu oft müssen wir erleben, dass in Fällen, in denen Menschen bei einem Polizeieinsatz zu Tode kommen, Ermittlungen frühzeitig eingestellt oder – wie in diesem Fall zunächst – gar nicht erst aufgenommen werden. Auch im Fall der Ermittlungen in Delmenhorst teilt die Staatsanwaltschaft nicht einmal mit, gegen wie viele Polizeibeamt:innen ermittelt wird. Transparent ist dies nicht. Dabei ist Transparenz nicht zuletzt im Sinne der Polizei.

Auch Amnesty International kritisiert in seinem am 7. April vorgestellten Menschenrechtsbericht: „Der deutsche Rechtsstaat weist ausgerechnet dort Lücken auf, wo es um Transparenz und Kontrolle der Polizei geht.“ Eine unabhängige Kontrollinstanz fehle. Wichtige internationale Menschenrechtsstandards würden nicht eingehalten.

Ebenso müssen wir über Racial Profiling reden. Denn junge Menschen im Umfeld des Wolleparks in Delmenhorst, denen eine Flucht- und Migrationsgeschichte zugeschrieben wird, bekräftigen ihre Erfahrungen mit Polizeikontrollen:

Sükrü:
„Bei der Polizei wird diese Ecke hier, der Wollepark allgemein, komplett als verrufter Ort eingestuft. Das heißt: […] Sie dürfen uns ohne jeglichen Grund kontrollieren, in die Taschen greifen, in die Intimzone greifen. [….] Und das läuft hier seit Jahren so.“

Delovan:
„Das Problem hier bei uns in diesen Ecken ist zum Beispiel, dass die Polizei allgemein versucht, alle in einen Topf zu werfen.“

Sükrü:
„Wir werden anders angesehen und komplett anders behandelt als so ein Sebastian, der blonde Haare hat und von hier kommt. […] Ich habe viele Kontrollen gesehen, wo das ganz normal abgelaufen ist, wo sehr wenig Gewalt im Spiel war. Bei uns ist das einfach nicht der Fall.“

Hassan:
„Wenn wir durch die Straßen laufen, egal ob im Wollepark oder mittlerweile auch schon in der Innenstadt am Bahnhof: Sobald ich Polizei sehe – ich bin ehrlich -, ich bekomme mittlerweile Angst. Ich denk mir: Halten die mich jetzt an oder nicht? Weil: Ich hab Tattoos im Gesicht. Aber ich bin auch ein Mensch.“

Barsan (Cousin von Qosay K.):
„Das einzige, was wir ändern können: Dass die Demütigungen, die Schikanen und die Polizeigewalt, die wir tagtäglich erleben, aufhören müssen. Wenn Ihr, die Polizei, sagt, dass Ihr auch nur Menschen seid: Wie kann es sein, dass Eure Fehlerquote so gering ist? Die Polizei ist eine Staatsmacht, die sich selbst kontrolliert. Das heißt, sie werden sich selbst niemals anscheißen – auf gut Deutsch -, wenn sie selbst der Täter sind […]. Also wo sollen wir hin, wenn die Polizei selbst der Täter ist?“

Alle Zitate entstammen einem Video, das die Initiative In Erinnerung An Qosay am 25. April 2021 auf Instagram veröffentlicht hat. Diese naturgemäß subjektiven Erfahrungen von jungen Menschen im Umfeld des Wolleparks werden durch vielfache wissenschaftliche Erkenntnisse bestätigt und mit dem Begriff des „Racial Profiling“ beschrieben. Dabei geht es nicht um die persönliche Kritik oder Vorverurteilung einzelner Kriminalbeamt:innen und auch nicht um eine gezielte Beleidigung der Institution Polizei, sondern in erster Linie um die Frage, wieweit Rechtsgrundlagen, die Personenkontrollen aufgrund von rassifizierten Merkmalen ermöglichen und nahelegen, dazu führen, dass bestimmte als „anders“ markierte Gruppen aus der als weiß vorgestellten Gesellschaft ausgeschlossen und kriminalisiert werden – mit Folgen für die Wahrnehmung der Polizei und ihrer Aufgaben.

Polizeiwissenschaftlicher Rafael Behr, früher selbst Polizist und eine wichtige Stimme in der Debatte, beschreibt in der Zeit das Problem folgendermaßen:

„Bei vielen Polizistinnen und Polizisten gibt es eine klare Vorstellung: Wir sind die Guten, die für das Richtige kämpfen, dort draußen sind die Feinde. Es gibt auch die Denke: Wir vertreten die Herrschaft, ihr seid die Herrschaftsunterworfenen. Hinzu kommt ein starker Normalismus, der auch gesellschaftlich nachgefragt wird. In der Polizeiarbeit drückt sich eben auch aus, was eine Gesellschaft für normal hält und was nicht. Wer gehört dazu? Wer nicht? Und all jene, die diesem Ordnungsbild nicht entsprechen, haben es gegenüber der Polizei oft schwer: Schwarze, Menschen mit Migrationshintergrund, aber auch Linke oder schlicht Freiheitsliebende. Es gibt da eine tief sitzende Kultur der Ungleichbehandlung.“
Rafael Behr in: „Die Polizei ist sehr machtvoll. Wir müssen misstrauisch sein“, in: Die Zeit vom 20. August 2020

Analysen und Einordnungen

Vanessa Eileen Thompson, Racial Profiling, institutioneller Rassismus und Interventionsmöglichkeiten, in: bpb vom 27. April 2021

«Fast jeder Polizist hat eine Leiche im Keller, weil jeder mal was falsch gemacht hat, was vertuscht wurde», in: Republik vom 13. April 2021 (Interview mit dem Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes)

Kontrollgrund: Hautfarbe in Die Zeit vom 9. Februar 2021 (Videobeitrag zu Racial Profiling)

„Die Polizei ist sehr machtvoll. Wir müssen misstrauisch sein“, in: Die Zeit vom 20. August 2020 (Interview mit Polizeiwissenschaftler Rafael Behr)

Deutsches Institut für Menschenrechte, „Racial Profiling“ – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1 a Bundes­polizeigesetzEmpfehlungen an den Gesetzgeber, Gerichte und Polizei, 2013

Hintergrund

Flüchtlingsrat Niedersachsen, Qosay K. Tödlicher Polizeieinsatz in Delmenhorst

19-Jähriger aus Delmenhorst stirbt nach Festnahme: Familie fordert Aufklärung, in: Kreiszeitung vom 21. April 2021 [mit dem von der GdP kritisierten Statement des Flüchtlingsrats]

Gewerkschaft der Polizei Niedersachsen, Stellungnahme zu den Behauptungen des Flüchtlingsrates im Rahmen der Berichterstattung zum Fall Qosay K. vom 28. April 2021

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