Abschiebungcharter nach Afghanistan wäre purer Zynismus
Der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordert die niedersächsische Landesregierung auf, vor dem Hintergrund des bundesweiten Lockdowns alle Abschiebungen auszusetzen. Empört und entsetzt ist der Flüchtlingsrat insbesondere darüber, dass die Bundesregierung nach einem neunmonatigen pandemiebedingten Abschiebungsmoratorium im Dezember erstmals wieder eine Charterabschiebung nach Afghanistan durchführen will.
Bereits am 07. Dezember hat ein breites Bündnis an die Innenministerkonferenz appelliert, Abschiebungen auszusetzen. Wörtlich heißt es in der gemeinsamen Erklärung: „Zahlreiche Herkunftsländer von Asylsuchenden haben marode Gesundheitssysteme und sind nicht in der Lage, an dem Virus Erkrankte zu versorgen. Auch Staaten mit einem relativ gut aufgestellten Gesundheitssystem kommen an ihre Kapazitätsgrenze. Die Zahl der Corona-Infizierten steigt weltweit dramatisch, ganz zu schweigen von der rasant steigenden Zahl der Toten. Dennoch werden Menschen in Länder abgeschoben, in denen sich die Pandemie katastrophal auswirken könnte oder es bereits tut. Das Risiko für ihre Gesundheit und körperliche Unversehrtheit ist immens“.
Bereits im April 2020 forderte die große Mehrheit der Integrationsbeauftragten der Länder einen bundesweiten Abschiebungsstopp: „Im Hinblick auf die Rechtssicherheit der Betroffenen, aber auch auf die weitere Ausbreitung des SARS-CoV-2 und die sehr dynamische Entwicklung in vielen Herkunftsländern sind klare Regelungen geboten. Es bedarf eines generellen vorübergehenden Abschiebestopps in allen Bundesländern.“
„Dass trotz des nun auch in Deutschland ausgerufenen Lockdowns eine bundesweite Charterabschiebung ausgerechnet in das vom Bürgerkrieg und einer grassierenden Pandemie heimgesuchte Afghanistan stattfinden soll, ist purer Zynismus“, kritisiert Kai Weber, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Niedersachsen. „In Afghanistan droht nach dem absehbaren Abzug der westlichen Truppen eine erneute Taliban-Herrschaft, Verfolgung und Konflikte werden eher weiter eskalieren.“
Auch für andere Geflüchtete fordert der Flüchtlingsrat eine generelle Aussetzung von Abschiebungen und die Schließung der Abschiebungshaftanstalt. Es kann und darf nicht sein, dass Menschen, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen, festgenommen, inhaftiert und in Abschiebungsflieger gezwungen werden zu einem Zeitpunkt, zu dem alle Welt aufgefordert ist, Kontakte und unnötige Reisen zu vermeiden. Eine solche leichtfertige und fahrlässige Gefährdung der Gesundheit nicht nur der betroffenen Flüchtlinge, sondern auch aller beteiligten Beamt:innen wäre verantwortungslos. Der niedersächsische Innenminister muss ein Machtwort sprechen und alle Abschiebungen bis auf Weiteres aussetzen. Insbesondere gegen die vom BMI geplante Charterabschiebung nach Afghanistan fordern wir vom niedersächsischen Innenministerium eine eindeutige Erklärung, dass sich Niedersachsen daran nicht beteiligen wird.
Afghanistan-Experte Thomas Ruttig geht davon aus, dass die jetzt trotz fortbestehender Corona-Pandemie wieder bestehende Bereitschaft der afghanischen Regierung zur Entgegennahme von Abschiebungschartern mit dem Abschluss der Geberkonferenz in Genf am 23. und 24. November zusammenhängt. Dort wurde Afghanistan die Weiterfinanzierung der Entwicklungshilfe bis 2024 zugesagt und in der Abschlusskommuniqué die »Bekämpfung irregulärer Migration« beschlossen.
Hintergrund zu Abschiebungen nach Afghanistan
Vorangegangen war der ersten Sammelabschiebung am 14.12.2016, mit der 34 Menschen abgeschoben wurden, die Aufnahme von Verhandlungen de Maizières mit der afghanischen Regierung im Februar 2016, die im Oktober in einem bilateralen Rückführungsabkommen mündeten. Ebenfalls im Oktober 2016 kam es auch zu einem Rückführungsabkommen zwischen der EU und Afghanistan. Bereits im März 2016 lagen hierzu passend geheime Pläne der EU zur Abschiebung von 80.0000 Afghanen vor. Zeitgleich zu diesen europäischen Plänen wurde hierzulande nach Recherchen der ZEIT seitens des Innenministeriums Druck auf das ihm unterstellte Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ausgeübt, die Schutzquote nach unten zu drücken. Lag diese noch im Jahr 2015 bei 78 %, sank sie in Folge des Drucks seitens des Dienstherrn des Bundesamtes im ersten Halbjahr 2016 auf 52,9 %. Dies, obwohl – wie dem Bundesinnenministerium sehr wohl bekannt war – zur gleichen Zeit die höchste Zahl ziviler Opfer seit 2009 gemeldet worden war.
Immer wieder wurde von der Bundesregierung behauptet, es gebe anderweitig inländischen Schutz in Großstädten. Ein aktueller Bericht des UNHCR aus Dezember 2019 kommt zum Ergebnis, dass die afghanische Hauptstadt nicht als sicher betrachtet werden kann: Aufgrund der Sicherheits- und Menschenrechtslage sowie der dramatischen humanitären Situation stelle Kabul laut UNHCR keine sogenannte »inländische Fluchtalternative« dar. Genau darauf verweist das BAMF aber immer wieder in seinen Ablehnungsbescheiden, und genau dort landen die Charterflüge.
Seither wurden regelmäßig Sammelabschiebungen in das seit Jahrzehnten von Krieg und Bürgerkrieg gezeichnete Land vorgenommen. Insgesamt sind seit Dezember 2016 bis einschließlich März dieses Jahres 907 Afghanen mittels Sammelabschiebeflügen nach Afghanistan abgeschoben worden. Die Schutzquote für die Anerkennung afghanischer Schutzsuchender sank seit 2016 parallel dazu kontinuierlich weiter und liegt derzeit (1. Halbjahr 2020) bei nur noch 40,6 %. Erst kürzlich wurde bekannt, wie viele rechtswidrige Ablehnungen Afghan*innen in Asylverfahren erhalten. Auf eine parlamentarische Anfrage der Linken teilte die Bundesregierung mit, dass Verwaltungsgerichte in den ersten neun Monaten dieses Jahres 5.644 ablehnende Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge aufgehoben haben und den Betroffenen Schutz gewährt haben. 59 % der gerichtlich überprüften BAMF-Bescheide erwiesen sich damit als rechtswidrig.
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