Der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordert eine Offenlegung der Zahl der durchgeführten Recherchen in den vergangenen zehn Jahren in der Türkei und wirkungsvolle Schutzmaßnahmen für alle Geflüchteten und ihre Familienangehörigen, die durch die Beschlagnahmung von intimen Personaldaten und vertraulichen Asylinformationen bei Vertrauensanwalt Yilmaz S. in Gefahr geraten sind.
Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius hat die Forderung des Flüchtlingsrats nach einem Abschiebungsstopp für die Türkei mit der Begründung abgelehnt, er sehe das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in der Pflicht und habe keine Veranlassung, die von der Bundesregierung genannte Zahl von 283 durch die Festnahme des Vertrauensanwalts gefährdete Personen in Zweifel zu ziehen.
Den Antworten der Bundesregierung auf zwei Anfragen der Linkspartei im Bundestag (jeweils Antworten des Auswärtigen Amtes vom 24. Januar 2020 hier und hier) ist nun zu entnehmen, dass doch erheblich mehr Personen betroffen sind als bislang öffentlich zugegeben, und dass die Bundesregierung letztlich nicht weiß, wie viele Personen betroffen sind: 448 möglicherweise gefährdete Personen wurden durch das BAMF informiert (BT-Drs. 19/16811, Frage 11). Allerdings teilt das Auswärtige Amt mit, dass auch ein PC und zwei USB-Sticks des Vertrauensanwalts beschlagnahmt worden seien – wie viele weitere Fälle bzw. welche Gefährdungen für in Deutschland lebende Flüchtlinge daraus entstehen könnten, weiß auch die Bundesregierung nicht. „Das Problem ist, dass das Auswärtige Amt die Zahl der betroffenen Flüchtlinge herunterspielt“, kommentiert Dündar Kelloglu vom Vorstand des Flüchtlingsrats.
Eine erste Auswertung der Antworten hat dankenswerterweise die Linkspartei übernommen (siehe Vermerk KA Festnahme Vertrauensanwalt). Ihr lässt sich u.a. entnehmen, dass die Zahl der Anfragen des BAMF an das Auswärtige Amt von 201 (Jahr 2015) auf 1.401 (Jahr 2018) gestiegen ist und 2019 bei immer noch 1.301 lag, was in Relation zu den Entscheidungen des BAMF in etwa auf eine Verzehnfachung der Anfragen hinausläuft. Die Frage, zu wie vielen Asylsuchenden das AA seit 2015 Informationen über Vertrauensanwälte in der Türkei eingeholt hat, beantwortet die Bundesregierung nicht offen. Das Überprüfungsinteresse des BAMF beim Herkunftsland Türkei scheint jedoch besonders groß zu sein: Nach unserer Wahrnehmung wurde in Türkeiverfahren in den letzten Jahren erheblich häufiger eine Überprüfung durch das Auswärtige Amt in Auftrag gegeben als bei anderen Herkunftsländern.
Die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke kommentiert:
„Die Zahl der Anfragen aus dem BAMF an das Auswärtige Amt ist in den letzten Jahren in die Höhe geschossen. Das ist Ausdruck einer notorischen Misstrauenskultur in der Asylbehörde. Immer wieder wird berichtet, dass BAMF-Mitarbeiter glaubhafte Angaben von Asylsuchenden grundlos in Frage stellen. Anstatt sich inhaltlich mit den vorgelegten Beweismitteln auseinanderzusetzen, beauftragen sie das Auswärtige Amt leichtfertig mit der Prüfung von Dokumenten und gefährden so Geflüchtete. Diese Praxis muss sich schleunigst ändern!“
In das gleiche Horn stößt Kamil Taylan, der seit Ende der 1970er Jahre als Gutachter in Asylverfahren tätig ist und mit seiner kritischen und unabhängigen Tätigkeit eine hohe Reputation auch bei Behörden genießt. „Ist der Papst katholisch?“ ist sein Blog ironisch überschrieben, in dem er das „gigantomanische“ Ausmaß der vom BAMF in Auftrag gegebenen Überprüfungen kritisiert und u.a. auf den Fall der prokurdischen HDP-Abgeordneten Leyla Birlik verweist, deren Akten das BAMF ebenfalls in der Türkei prüfen ließ. „Das ist ungefähr so, wenn die deutsche Bundesregierung im Vatikan einen Fachanwalt für katholisches Kirchenrecht beauftragen würde, er möge mal in den Archiven und Datenbanken recherchieren, ob da Unterlagen vorhanden sind, die darauf hinweisen könnten, dass der Papst katholisch sein könnte oder auch nicht.“
Auch Kamil Taylan zweifelt die vom Auswärtigen Amt genannte Zahl der Betroffenen an und weist darauf hin, dass „die Zahl, die die türkischen Medien über die bei den verhafteten Rechtsanwälten sichergestellten Akten veröffentlicht haben, durchaus realistisch“ sei. „Mehrere Medien berichteten, dass bei der Durchsuchung in der Kanzlei vom Rechtsanwalt Yilmaz S. neun Aktenordner mit Berichten über 4000 Personen sichergestellt wurden. Außerdem soll die türkische Finanzpolizei auf den Konten von Yilmaz S. ca. 5 Millionen Lira (ca. 900.000 Euro) sichergestellt haben. Der Rechtsanwalt habe angegeben, dass davon nur 37.000 Euro und 5.000 Lira ihm gehören würden. Unter diesen 4000 Personen sind auch die schon abgelehnten und die als Asylberechtigter akzeptierten Flüchtlinge.“
Als Konsequenz aus der Festnahme von Yilmaz S. führt das Auswärtige Amt inzwischen in der Türkei keine personenbezogenen Recherchen mit Kooperationsanwält:innen mehr durch.
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