Für eine europäische Politik der Menschenrechte
Der Einmarsch der türkischen Armee in Nordsyrien steht nicht nur für Erdoğans Krieg gegen Rojava. Er ist der jüngste Ausdruck des Totalversagens europäischer Migrations- und Außenpolitik: Einer Politik, die nichts zur Lösung der weltweiten Fluchtproblematik beiträgt, sondern sie systematisch verschärft. Und die auch nichts „ordnet“, wie es ihre Strategen fälschlicherweise behaupten, sondern millionenfache Verzweiflung sät, das Chaos in den europäischen Flüchtlingslagern schürt und weitere Gewalt – wie jetzt in Syrien – bedeutet. Moria, Idlib, Rojava und der türkische Krieg zur Durchsetzung einer angeblichen Schutzzone, in die eine Million syrischer Geflüchteter zwangsweise umgesiedelt werden sollen: Die europäische Migrationspolitik hat das Schicksal von Millionen Menschen zusammengebunden und als Faustpfand für einen europäischen Burgfrieden eingetauscht. Sie ist eine Politik, die das Ende von Politik bedeutet, weil sie die Bearbeitung von globalen Problemen schlicht aufgegeben hat.
Der Verzicht auf eine gestaltende, verantwortungsvolle Politik ist nichts Neues. Angefangen hat es vor vier Jahren mit dem EU-Türkei-Deal, mit dem sich Europa die Türkei als Grenzschützerin gekauft und ein Bollwerk gegen das Begehren auf ein sicheres, besseres Leben geschaffen hat. Zugleich wurden die griechischen Inseln in Sonderrechtszonen verwandelt, in denen asylrechtliche Standards nichts mehr gelten; sie wurden zum Freiluftgefängnis für die, die es dennoch über die Ägäis auf europäischen Boden schafften. Erst vor zwei Wochen – nach einem weiteren Feuer mit Todesopfern im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos – reiste der deutsche Innenminister zu Gesprächen nach Athen und Ankara, um Griechenland und die Türkei auf eine effektivere Umsetzung des Deals einzuschwören.
Das Ende von Politik zeigt sich auch seit Jahren in dem unwürdigen, nicht enden wollenden Gerangel um einen europäischen Verteilungsmechanismus der Ankommenden, mit dem tausende Tode im Mittelmeer und der Ägäis in Kauf genommen werden. Doch die verdrängte Frage nach der Aufnahme von Migrant*innen kehrt nun mit aller Gewalt auf die europäische Agenda zurück – in ein Europa, das sich mit seiner Politik der dreckigen Deals selbst erpressbar gemacht hat. Für Erdoğan diente die organisierte Menschenverachtung der Europäischen Union schon länger als Blankoscheck zur Unterdrückung der demokratischen Opposition und Zivilgesellschaft im eigenen Land. Und nun also auch noch als Stillhalteabkommen zum Einmarsch türkischer Truppen in Syrien.
Die EU schaut also nicht nur zu, wenn das grundlegende asylpolitische Gebot des Non-Refoulements (Grundsatz der Nicht-Zurückweisung) gebrochen wird und Geflüchtete aus Griechenland in die Türkei und von dort in Kriegsgebiete wie Idlib abgeschoben werden. Sie schaut nicht nur zu, wenn die Türkei das prekär ausgebaute Asyl- und Schutzsystem gänzlich einstellt und syrische Geflüchtete zwangsweise nach Syrien abschiebt. Sie ist vielmehr faktisch Partei in einem üblen Spiel, das Hunderttausende Menschen mit dem Tod bedroht.
Der EU-Türkei-Deal, die massenhafte Entrechtung von Migrant*innen, die Unterstützung von Erdoğans Krieg, das konsequente Wegschauen in Syrien, die fortgesetzte Ignoranz gegenüber dem Schicksal von Millionen Menschen am Rande Europas: Sie sind einer der größten Skandale der jüngsten europäischen Geschichte. Sie zeugen von politischem Bankrott, von außenpolitischer Skrupellosigkeit und von einer EU, die bei jeder Gelegenheit die Verruchtheit der Trump-Administration kritisiert, der selber jedoch jedes menschenrechtliche Fundament abhandengekommen ist.
Die Alternative liegt auf der Hand: Eine menschenrechtsbasierte Außen-und Migrationspolitik in globaler Verantwortung. Nicht der „Sommer der Migration“ des Jahres 2015 ist das, „was sich nicht wiederholen darf“, wie es nicht nur Innenminister Seehofer immer wieder betont. Was sich nie wiederholen darf, ist die Auslieferung von Millionen Menschen an diktatorische Regimes, Vertreibung und Krieg. Lassen wir uns nichts vormachen: Wer sich heute gegen die Aufnahme von Flüchtlingen und Migrant*innen in Europa wendet, befürwortet ihren Tod.
Wir fordern vom Europäischen Rat und der Bundesregierung
- das Ende des EU-Türkei-Deals
- das Ende der Partnerschaft mit Erdoğans Regierung, das Ende von Waffenlieferungen und das Ausschöpfen aller politischen Möglichkeiten, den Krieg in Nordsyrien gegen Rojava zu stoppen
- die sofortige Evakuierung der Lager auf den griechischen Inseln und Bewegungsfreiheit für die Migrant*innen innerhalb Europas und ihre Aufnahme in solidarischen Städten.
- eine neue politische Grundlage für Migration und Asyl in Europa, die sich dem Schutz der Menschenrechte von Flüchtlingen und Migrant*innen verpflichtet – in Syrien, auf dem Mittelmeer und in Europa selbst.
Wenn Sie individuell Beratung und Unterstützung brauchen, wenden Sie sich bitte an ...