Maizeitung 2019, Deutscher Gewerkschaftsbund Niedersachsen-Mitte, Mai 2019, Seite 8
Kai Weber, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Niedersachsen, zur Flüchtlingspolitik der Großen Koalition
MAIZEITUNG: Die Große Koalition will eine zentrale Abschiebebehörde für Niedersachsen einrichten. Diese soll in Zukunft anstelle der örtlichen Ausländerbehörden entscheiden, welche Personen geduldet werden und wer abgeschoben wird. Was stört Sie daran?
Kai Weber: Eine Ausländerbehörde vor Ort bekommt viel mehr mit vom Leben und von den Veränderungen im Einzelfall, während eine zentralisierte, weit entfernte Abschiebebehörde die Menschen und ihre Lebenssituation gar nicht kennt. Wir befürchten, dass etwa vor Ort die Ausbildungsduldung vorbereitet wird, während die Zentrale in Braunschweig die Abschiebung vorbereitet. Dann haben wir noch mehr Fälle von Abschiebungsvollzügen, die sich im Nachhinein als rechtswidrig oder zumindest äußerst inhuman darstellen, weil zentrale Informationen fehlen. Das durften wir in den vergangenen zwei Jahren schon oft genug erleben. Und das wird noch schlimmer werden, wenn die Große Koalition ihre Pläne umsetzt.
Die Landesregierung werde nicht von ihrer humanitären Flüchtlingspolitik abweichen, beteuert Innenminister Boris Pistorius (SPD).
Man wird nicht bis zu 200 Leute zusätzlich einstellen und gleichzeitig behaupten können, das verändere nichts. Die Priorität liegt eindeutig bei der Beendigung von Aufenthalten, auch weil Abschiebungen nicht mehr angekündigt werden. Mehr als 50 Prozent der Abschiebungen finden inzwischen nachts statt. Wenn die Leute um 3 Uhr aus dem Bett geholt und zum Flughafen
gebracht werden, lassen sich wichtige Erkenntnisse oder Fakten zu spät oder gar nicht mehr vermitteln. Das können eine bevorstehende Hochzeit, die Geburt eines Kindes, eine schwere Krankheit oder neue Gründe sein, die einen Asylantrag begründen können. Früher konnte man solche Fälle im Vorfeld prüfen. In vielen Fällen haben dann die Gerichte eine Abschiebung gestoppt. Wenn die Abschiebungen nicht mehr angekündigt werden, hat man diese Zeit in der Regel nicht mehr. Dann werden Fakten geschaffen durch den Vollzug einer Abschiebung, die sich bei besserer Vorbereitung hätte vermeiden lassen. Das ist politisch gewollt. Die Große Koalition hat die Nicht-Ankündigung von Abschiebungsterminen gesetzlich fixieren lassen. Gerade vor dem Hintergrund dieser gesetzlichen Verschärfung des Abschiebungsvollzugs wäre es aus unserer Sicht sinnvoll, dass die Behörden vor Ort zuständig bleiben. Sie können sich im Zweifel noch einmal vergewissern, ob die Faktenlage stimmt, bevor man Abschiebungen vollzieht.
Im Einzelfall hätten sich Geflüchtete der Abschiebung entzogen, wenn diese vorher angekündigt wurde, begründete die Landesregierung, Abschiebungen nicht mehr anzukündigen.
Das mag im Einzelfall durchaus stimmen. Aber nachdem man den Beschluss gefasst hatte, Abschiebungen nicht mehr anzukündigen, sind die Abschiebezahlen nicht gestiegen. Unterm Strich hat man nichts gewonnen, außer Abschiebungen noch brutaler zu machen. Das ist für uns auch eine Frage der Würde der Betroffenen. Gerade wenn Menschen längere Zeit, oft jahrelang in Deutschland waren, haben sie ein Anrecht darauf, sich von Arbeitskollegen zu verabschieden, die Kinder von der Schule abzumelden und ihre Sachen zu packen, bevor sie genötigt werden, das Land zu verlassen. Das alles nimmt man ihnen, wenn man Abschiebungstermine nicht ankündigt. Dann passieren Abschiebungen, obwohl die Ehefrau im Krankenhaus ist und eine wichtige
Operation bevorsteht.
Sehen Sie durch solche Praktiken das Grundrecht auf Asyl ausgehebelt?
Ja, in vielen Fällen schon. Gerade auch vor dem Hintergrund, dass deutlich mehr sogenannte Dublin-Abschiebungen stattfinden: Also Abschiebungen in andere europäische Länder, die angeblich für das Asylverfahren zuständig sind. Es ist grundsätzlich zu begrüßen, dass viele europäische Länder Geflüchtete aufnehmen. Aber wir haben mit Stacheldraht gesicherte Lager in Ungarn, wo die Menschen eingesperrt werden. In Bulgarien können Geflüchtete nicht ihren Lebensunterhalt sichern, sie sitzen auf der Straße und hungern. In Italien können die Menschen nicht sicher sein, tatsächlich in einer Asylunterkunft unterzukommen. In diesen Ländern wird die europäische Menschenrechtskonvention für Geflüchtete nicht eingehalten. Auch eine deutlich verringerte Schutzquote weist auf eine indirekte Aushebelung des Asylrechts. Bei der Schutzquote handelt sich um die Geflüchteten aus einem Land, die nicht abgeschoben werden, weil sie als Flüchtlinge anerkannt sind oder andere Gründe gegen eine Abschiebung vorliegen. Während wir 2015 eine Schutzquote für Afghanistan von bereinigt ungefähr 80 Prozent hatten, liegt sie inzwischen bei etwa 50 Prozent. Das bedeutet, die Zahl derer aus Afghanistan, die als Flüchtlinge anerkannt werden, sinkt, obwohl sich die Situation in Afghanistan drastisch verschlechtert hat. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen für Afghanistan hat kürzlich dargelegt, dass 2018 das schlimmste Jahr seit Beginn des Krieges gewesen ist. Allein durch Bomben und Anschläge gab es 10.000 Tote und Verletzte. Auch für Irak und Eritrea und andere Hauptherkunftsländer von Geflüchteten stellen wir einen Rückgang der Schutzquoten fest.
Was wünschen Sie sich von der Landesregierung?
Wir haben eine Vervierfachung der Zahl der anerkannten Flüchtlinge und nur einen leichten Anstieg der Zahl der Ausreisepflichtigen. Vor diesem Hintergrund müsste sich die Landesregierung vor allem fragen, was zu tun ist, damit diese Menschen hier integriert werden können. Wir wünschen uns, dass die Landesregierung einlöst, was sie vor rund viereinhalb Jahren versprochen hat: Mehr Liberalität und Humanität im Abschiebungsvollzug sowie mehr Akzeptanz und Toleranz gegenüber Menschen, die durchaus schwere Schicksale erlitten haben, auch wenn sie womöglich im Asylverfahren nicht anerkannt werden.
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