Der Flüchtlingsrat Niedersachsen hat in einem Schreiben vom 28.10.2009 den niedersächsischen Innenminister Uwe Schünemann gebeten, vor dem Hintergrund der vorliegenden Berichte über die Verletzung von Flüchtlingsrechten in Griechenland und angesichts der aktuellen Eilentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in einschlägigen Fällen anzuordnen, dass Abschiebungen nach Griechenland bis auf Weiteres auszusetzen sind. Das Schreiben hat folgenden Wortlaut:
Abschiebungen nach Griechenland im sog. Dublin-Verfahren
Sehr geehrter Herr Schünemann,
aus Niedersachsen werden regelmäßig Flüchtlinge in EU-Staaten im Rahmen von sog. Dublin-Verfahren überstellt, nach wie vor auch nach Griechenland. Die zugrunde liegende Dublin II-Verordnung beruht auf der Annahme, dass ein Flüchtling in allen Mitgliedstaaten vergleichbare (Mindest-) Aufnahmebedingungen vorfindet und über seinen Asylantrag unter vergleichbaren (Mindest-) Verfahrensgrundsätzen mit vergleichbaren Chancen entschieden wird.
Es liegen zahlreiche aktuelle Berichte von Menschenrechtsorganisationen, dem Menschenrechtsbeauftragten des Europarats usw. vor, dass Griechenland für eine unverhältnismäßig große Anzahl von Flüchtlingen zuständig und mit dieser Situation überfordert ist. Dies hat zur Folge, dass Flüchtlingen in Griechenland unter Verstoß gegen geltendes EU-Recht und Völkerrecht keine den Mindestanforderungen genügenden Aufnahme- und Verfahrensbedingungen zur Prüfung ihrer Asylanträge gewährt werden. Im Gegenteil: Menschenrechtsorganisationen und UNHCR berichten u.a. von schweren Misshandlungen von Flüchtlingen durch die griechische Küstenwache, von Regelinhaftierungen – auch Minderjähriger – unter menschenunwürdigen Bedingungen, Obdachlosigkeit und Abschiebungen von Flüchtlingen in die Türkei, ohne dass ein faires Asylverfahren ermöglicht wird. Der UNHCR hat sich mittlerweile aus den Asylverfahren in Griechenland zurückgezogen und fordert die Mitgliedstaaten auf, keine Flüchtlinge dorthin zu überstellen.
Die Bundesrepublik prüft vor diesem Hintergrund zwar für unbegleitete Minderjährige und andere besonders schutzbedürftige Personen, welchen eine Abschiebung nach Griechenland droht, wohlwollend das Selbsteintrittsrecht und übt es in entsprechenden Fällen aus. Es finden jedoch weiterhin Abschiebungen von Flüchtlingen nach Griechenland statt.
Zahlreiche deutsche Gerichte haben deshalb Abschiebungen nach Griechenland ausgesetzt, darunter auch ein Beschluss vom VG Oldenburg vom 23. Juli 2008 (AZ: 7 B 2119/08). Zahlreiche Eilverfahren sind bei weiteren Verwaltungsgerichten anhängig, wo ebenfalls mit Aussetzungsentscheidungen zu rechnen ist.
Das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Wochen in mehreren Eilverfahren die Ab-schiebungen nach Griechenland vorläufig gestoppt (Beschlüsse vom 08.09.09, 23.09.09 und 09.10.09, download unter www.frnrw.de > Dublin II). Es ist damit zu rechnen, dass bis zu der erwarteten Grundsatzentscheidung des BVerfG weitere Abschiebungen nach Griechenland durch die Gerichte ausgesetzt werden.
Jedoch sind nicht alle Flüchtlinge, denen eine Abschiebung nach Griechenland droht, anwaltlich vertreten, weshalb viele den erforderlichen Eilrechtsschutz nicht erhalten. Ohne anwaltliche Beratung und Vertretung ist angesichts der gemäß § 34a AsylVfG ausgeschlossenen (vom BVerfG dennoch für geboten gehaltenen) Möglichkeit, in diesen Fällen überhaupt Eilanträge zu stellen und der Tatsache, dass das BAMF die Betroffenen regelmäßig nur äußerst kurzfristig über ihre geplante Abschiebung nach Griechenland informiert, der dringend erforderliche Schutz vor einer Abschiebung nach Griechenland kaum möglich. BAMF (und BMI) setzen offensichtlich darauf, dass Betroffene quasi „überrumpelt“ werden können, wenn sie es nicht schaffen, rechtzeitig Rechtschutz zu erlangen. Das ist eine rechtsstaatlich inakzeptable Verfahrensweise und eine Brüskierung des BVerfG.
Wir möchten Sie in diesem Zusammenhang bitten, auf Landesebene gemäß § 60a Abs. 1 AufenthG einen Abschiebestopp nach Griechenland in sog. Dublin-Verfahren anzuordnen, solange die Hauptsachenentscheidung des BVerfG aussteht, um ßberstellungen nach Griechenland vorzubeugen, und insoweit auch auf die Beantragung von Abschiebehaft zu verzichten. Zahlreiche Flüchtlinge befinden sich derzeit zwecks ßberstellung nach Griechenland in Abschiebehaft, wozu es auf der aktuellen gerichtlichen Entscheidungspraxis aber nicht kommen wird.
Wir möchten darauf hinweisen, dass die Anordnung der Abschiebung gemäß § 34a Abs. 1 AsylVfG die Länder genauso wenig wie eine Abschiebungsandrohung durch das BAMF hindert, Abschiebungen gemäß § 60a Abs. 1 AufenthG vorübergehend auszusetzen. Ein Abschiebestopp würde dem Land zudem die entsprechenden Abschiebehaft- und Gerichtskosten sowie ggf.
Stornokosten für Abschiebeflüge ersparen.
Bayern ist das erste Bundesland, das eine entsprechende Regelung getroffen hat, wie wir der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke entnehmen (Antwort v. 21.10.09 auf Anfrage Drs. 16/14119, Frage 4, www.ulla-jelpke.de/uploads2/KA_16014119_vorab_BVerfG_zu_Dublin.pdf). Auch in Baden-Württemberg existiert nach unseren Informationen ein Dublin-II-Abschiebestopp nach Griechenland, andere Länder prüfen derzeit eine solche Regelung.
Zudem möchten wir Sie bitten, sich gegenüber dem BMI und Ihren Kollegen in den Ländern dafür einzusetzen, hier zu einer bundesweiten Regelung zu kommen. Angesichts der Entscheidungen des BVerfG stellt sich auch die Frage, inwieweit § 34a Abs. 2 AsylVfG verfassungskonform ist, bzw. hier gesetzlicher ßnderungsbedarf besteht. Auf EU-Ebene wird eine ßnderung der Dublin II-VO diskutiert, es existiert ein entsprechender Vorschlag der Kommission. Dies ist dringender denn je, um endlich zu einer gerechteren europaweiten Teilung der Verantwortung für asylsuchende Flüchtlinge zu kommen.
Mit freundlichen Grüßen
Für den Vorstand
Sigrid Ebritsch
Nachtrag: Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst München korrigiert, dass es keinen förmlichen Abschiebungsstopp in Bayern für Flüchtlinge gibt, die von einer ßberstellung nach Griechenland im Rahmen des Dublin II – Abkommens bedroht sind. Wörtlich heißt es in dem Schreiben:
„Sicher ist lediglich, dass keine aus Griechenland kommenden Flüchtlinge mehr inhaftiert werden bzw. die Inhaftierten entlassen wurden. Das BAMF betreibt jedoch weiterhin deren Rücknahmeverfahren, wenngleich es die Fristen dabei maximal ausnutzt. Doch bei Fristablauf drohen nach wie vor Rückschiebungen – auch aus Bayern.“
Wenn Sie individuell Beratung und Unterstützung brauchen, wenden Sie sich bitte an ...