Ein vom Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V. und Amnesty International organisiertes Podium diskutierte am vergangenen Freitagabend in Hannover die Entwicklungen der Menschenrechtslage in der Türkei und der Überschrift „Auf dem Weg in die Diktatur? Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen in der Türkei“. Die Vorstandsvorsitzende des Flüchtlingsrats Claire Deery moderierte die von rund 150 Interessierten sehr gut besuchte Abendveranstaltung.
Prof. Gazi Çağlar, Professor an der Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit der HAWK Hochschule Hildesheim/Holzminden/Göttingen, berichtete zunächst über die Verfolgung von Akademiker:innen und Intellektuellen in der Türkei. An den Universitäten des Landes sei es zu einer breiten Säuberungswelle gekommen, die im Sinne des Programms der AKP von Präsident Erdogan auch dazu diene, die Islamisierung des Landes durchzusetzen. Tausende Akademiker:innen seien mittlerweile ins Ausland gegangen und viele auch an deutschen Universitäten untergekommen.
Herbert Schmalstieg, Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Hannover a.D., berichtete über die Verfolgung der Kurd:innen im Osten der Türkei und die Zerstörung kurdischer Städte seit dem Sommer 2015 durch die türkische Armee. Derzeit seien 90 Oberbürgermeister:innen und Bürgermeister:innen in Haft, viele andere wurden ihrer Ämter enthoben. Die regulär gewählten kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften könnten nicht mehr tagen, die Kontrolle über die Städte hätten von der Zentralregierung eingesetzte Verwalter übernommen. Vor dem Hintergrund der Entwicklungen sei die mit der Diskussionsveranstaltung aufgeworfene Frage „Diktatur, ja oder nein?“ eindeutig dahingehend zu beantworten, dass in der Türkei schon längst eine Präsidialdiktatur herrsche.
Rechtsanwalt Dündar Kelloglu, Vorstandsmitglied des Flüchtlingsrats, sprach zur Verfolgung der Gülen-Anhänger:innen in der Türkei, die für den versuchten Militärputsch im Juli 2016 in der Türkei verantwortlich gemacht werden. Die Gülen-Bewegung sei – mit einem Schwerpunkt auf Bildungsprogrammen – zunächst mit Erdogans AKP verbündet gewesen, bis es zu einem Zerwürfnis gekommen sei. Während eine weltanschauliche Nähe bestehe, seien tatsächliche oder vermeintliche Anhänger:innen der Gülen-Bewegung entlassen und zum Teil inhaftiert worden. Mittlerweile werde in der Türkei fast jede Ermittlung, Inhaftierung oder Verurteilung von dem Vorwurf begleitet, die Beschuldigten würden der Gülen-Bewegung angehören. Oftmals laute der Vorwurf, sowohl der Gülen-Bewegung anzugehören als auch der PKK nahezustehen.
Abschließend sprach Martin Roger von Amnesty International über die Verfolgung von Journalist:innen und Menschenrechtsverteidiger:innen in der Türkei. Neben Taner Kılıç, dem Vorsitzenden von Amnesty International Türkei, befänden sich unzählige Vertreter:innen von NGOs in Haft, darüber hinaus seien derzeit über 150 Journalist:innen inhaftiert.
Das Publikum beteiligte sich mit zahlreichen Fragen und Wortbeiträgen an der Diskussion. Kritisiert wurde von allen Seiten die zurückhaltende Politik der Bundesregierung sowohl an den innertürkischen Entwicklungen als auch gegenüber des türkischen Angriffs auf das syrische Afrin. Denn die Bundesregierung und die Europäische Union hätten durchaus Druckmittel gegenüber dem NATO-Partner Türkei. Sie würden aber vor eindeutigen Positionierungen und Maßnahmen zurückscheuen, weil sie fürchteten, dass die Türkei dann wieder ihre Grenzen für Flüchtlinge öffne.
Hintergrundinformationen:
2017 beantragten 8.483 Personen mit türkischer Staatsangehörigkeit Asyl in Deutschland. Die Türkei lag damit auf Platz 6 der Hauptherkunftsländer und damit erstmals seit mehreren Jahren wieder unter den ersten zehn Hauptherkunftsländern. Insgesamt hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 2017 über die Asylanträge von 12.617 Personen mit türkischer Staatsangehörigkeit entschieden. Die bereinigte Schutzquote lag bei 33,6 %. Dabei werden nur inhaltlich geprüfte Verfahren in die Berechnung aufgenommen. 3.291 Personen erhielten die Rechtstellung als Flüchtling, 141 Personen erhielten subsidiären Schutz, weitere 111 Personen erhielten ein Abschiebungsverbot.
Quelle: Asylgeschäftsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge für den Monat Dezember 2017
Auch in den ersten beiden Monaten des Jahres 2018 ist die Türkei erneut auf Platz 6 der Hauptherkunftsländer. 1.429 Personen aus der Türkei haben in den ersten beiden Monaten Asyl in Deutschland beantragt. Das BAMF hat im gleichen Zeitraum über die Anträge von 1.854 Personen türkischer Staatsangehörigkeit entschieden. Die bereinigte Schutzquote lag bei 48,5 %. 765 Personen erhielten die Rechtstellung als Flüchtling, acht Personen erhielten subsidiären Schutz, weitere elf Personen erhielten ein Abschiebungsverbot.
Quelle: Asylgeschäftsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge für den Monat Februar 2018
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