Abschiebepraxis bei Menschen mit psychischen Erkrankungen

Kleine Anfrage mit Antwort
Wortlaut der Kleinen Anfrage der Abgeordneten Ursula Helmhold (GRßNE)

In einem Pressebericht der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 23.12.2006 wurde berichtet, dass eine vierzigjährige türkische Patientin – Mutter von 7 Kindern – im Landeskrankenhaus Hildesheim morgens um 4 Uhr von der Polizei aufgesucht und vor die Wahl gestellt wurde, entweder mit ihren Kindern und ihrem Ehemann in die Türkei abgeschoben zu werden oder allein im Krankenhaus zurückzubleiben.

Augenzeugen vor Ort berichten, dass die den Einsatz durchführenden Polizeibeamten ohne Rücksicht auf den Gesundheitszustand der Patientin vorgingen und nicht auf das Eintreffen der zuständigen Oberärztin warteten. Eine schwer traumatisierte Mitpatientin wurde veranlasst, die Gespräche zu übersetzen mit der Folge, dass es bei dieser Patientin zu einer gefährlichen Retraumatisierung gekommen ist.

Ich frage die Landesregierung:

  1. Warum wurde in diesem Abschiebefall von dem Grundsatz abgewichen, dass stationär behandlungsbedürftige Patienten grundsätzlich nicht reisefähig sind?
  2. Warum wurde mit der Abschiebung nicht bis zum Abschluss der stationären Behandlung gewartet?
  3. Warum wurden die Maßnahmen morgens um 4 Uhr durchgeführt und die damit verbundenen gesundheitlichen Risiken auch für die einbezogene Mitpatientin sowie andere Patientinnen in Kauf genommen?
  4. Konnten die ausführenden Beamten die Risiken einer schweren psychischen Traumatisierung bei der Betroffenen sowie der Mitpatientin erkennen?
  5. Nahmen sie eine gesundheitliche Schädigung der übersetzenden Mitpatientin billigend in Kauf?
  6. Warum wurde nicht auf das Eintreffen der diensthabenden Oberärztin gewartet?
  7. Mit welchen Grundsätzen und Kriterien wird zukünftig in vergleichbaren Fällen vorgegangen werden?
  8. Haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Landeskrankenhauses im Rahmen der Ausübung des Hausrechts die Möglichkeit, ihre Patientinnen und Patienten vor einem solchen Vorgehen der Polizei zu schützen, und hätten sie diese Möglichkeit auch im geschilderten Fall gehabt?
  9. Waren den handelnden Personen und ist der Landesregierung der Beschluss des 108. Deutschen ßrztetages vom 03. bis 06.05.2005 bekannt, in dem es heißt: „Notwendige stationäre medizinische Behandlungen dürfen ohne richterlichen Beschluss nur im Einvernehmen mit den behandelnden ßrztinnen und ßrzten durch ordnungsrechtliche Maßnahmen zwangsweise beendet oder unterbrochen werden“?
  10. Wird die Landesregierung ihren Einfluss dahin gehend geltend machen, dass der unter Frage 9 zitierte Beschluss zukünftig in ihrem Einflussbereich angewandt wird?
  11. Welches Schicksal wurde der abgeschobenen Familie in der Türkei zuteil?

  12. Wie werden Menschen mit psychischen Störungen in der Abschiebehaft der JVA Langenhagen versorgt?
  13. Wie viele Suizide, Suizidversuche oder Selbstverletzungen traten dort in den Jahren 2005 und 2006 auf?

 

Antwort der Landesregierung

Niedersächsisches Ministerium Hannover, den 30.03.2007 für Inneres und Sport 42.10 – 12231/ 3-70 N 44

In dem der Anfrage zu Grunde liegenden Fall handelt es sich um eine insgesamt neunköpfige türkische Familie, deren Ausreisepflicht rechtskräftig festgestellt war, die jedoch zu erkennen gegeben hatte, dass sie ihrer Ausreisepflicht nicht nachkommen wird. Die Ausländerbehörde war daher gemäß § 58 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) verpflichtet, die Abschiebung einzuleiten und zu vollziehen. Als Abschiebungstermin wurde der 20.12.2006 festgelegt. Etwa zwei Wochen vor dem Abschiebungstermin begab sich die Ehefrau und Mutter der Familie freiwillig in eine stationäre psychiatrische Behandlung in das Landeskrankenhaus Hildesheim (LKH). Vom LKH wurde eine Behandlungsdauer von ca. vier Wochen bis Mitte Januar 2007 prognostiziert. Gleichzeitig erklärte die behandelnde ßrztin gegenüber dem Amtsarzt des zuständigen Landkreises, dass eine weitere Behandlungsbedürftigkeit bei der Patientin bestehe, aber in ca. fünf bis sechs Tagen eine Stabilisierung hergestellt sei, die eine Rückführung unter ärztlicher Begleitung erlaube.

Im Hinblick auf ihre vorübergehende stationäre Unterbringung entschied die Ausländerbehörde, die Abschiebung der Ehefrau und Mutter bis Mitte Januar 2007, dem voraussichtlichen Ende der stationären Behandlung, auszusetzen und die Abschiebung der übrigen Familienmitglieder durchzuführen. Der Ausländerin sollte die Möglichkeit eingeräumt werden zu entscheiden, ob sie gemeinsam mit ihrer Familie in die Türkei zurückkehren möchte oder zunächst im Landeskrankenhaus weiter ärztlich behandelt werden will. Da der Ausländerbehörde bis zum Tag der Abschiebung keine Willensäußerung der Ausländerin vorlag, wurde sie dazu am Morgen des 20.12.2006 befragt. Sie entschied sich für eine gemeinsame Rückkehr mit der Familie. Die Abschiebung nach Istanbul erfolgte mit ärztlicher Begleitung im Rahmen einer gemeinsam mit Nordrhein-Westfalen durchgeführten Chartermaßnahme. Dieses vorausgeschickt, beantworte ich namens der Landesregierung die Kleine Anfrage wie folgt:

Zu 1:
Eine von den ausreisepflichtigen Ausländerinnen und Ausländern gewünschte und selbst eingeleitete Aufnahme in einer psychiatrischen Klinik führt nur dann zur Aussetzung der Abschiebung, wenn sich hieraus ein rechtliches oder faktisches Abschiebungshindernis ergibt, insbesondere wenn die behandlungsbedürftige Erkrankung eine Reisefähigkeit ausschließt.

Zu 2:
ßber den Gesundheitszustand der Ausländerin wurden am 12.12., 13.12. und 19.12.2006 Bescheinigungen des LKH ausgestellt. In keiner dieser Bescheinigungen wurde eine Flugreiseuntauglichkeit festgestellt, die einer Rückführung auf dem Luftweg am 20.12.2006 entgegengestanden hätte.

Zu 3:
Der Abflug der Chartermaschine war für Mittwoch den 20.12.2006, 12.20 Uhr ab Düsseldorf terminiert. Unter Beachtung der von der Familie zur Zusammenstellung ihres Reisegepäcks benötigten Zeit, der mehrstündigen Anfahrtszeit nach Düsseldorf, der von der Fluggesellschaft vorgegebenen Anmeldezeit zum Einchecken und der erforderlichen Maßnahmen zur ßbergabe der zurückzuführenden Personen an die Bundespolizei musste die Familie bereits um 04.00 Uhr abgeholt werden. Die im LKH diensthabende ßrztin und das anwesende Pflegepersonal wurden über den Sachverhalt und die beabsichtigte Befragung informiert. Da die Ausländerin nur sehr schlecht deutsch spricht, erklärte sich eine Mitpatientin gegenüber der ßrztin bereit, das Gespräch zu übersetzen. Nachdem die ßrztin der Ausländerin den Sachverhalt erläutert hatte, entschied diese sich für eine gemeinsame Rückkehr mit ihrer Familie. Sie wurde daraufhin in die Obhut der Polizeibeamten übergeben. Zu keinem Zeitpunkt hat durch das Tätigwerden der Polizei für die ausreisepflichtige Ausländerin oder für andere Patienten die Gefahr gesundheitlicher Risiken bestanden.

Zu 4:
Die Beamten erhielten seitens der anwesenden ßrztin keinen Hinweis auf eine vorliegende „schwere psychische Traumatisierung“.

Zu 5:
Nein, siehe Antwort zu 4.

Zu 6:
Von der diensthabenden ßrztin wurde die Hinzuziehung des Hintergrunddienstes erbeten. Das Eintreffen des Hintergrunddienstes wurde abgewartet.

Zu 7:
Siehe Antwort zu 1.

Zu 8:
Da das Vorgehen der Polizei nicht zu beanstanden ist, stellt sich die Frage der Ausübung des Hausrechts nicht.

Zu 9:
Der genannte Beschluss ist nicht einschlägig. Wie bereits ausgeführt, ging es in dem der Anfrage zugrunde liegenden Fall nicht um die zwangsweise Beendigung einer Behandlung, sondern um die Befragung der Betroffenen, ob sie ihre Familie begleiten oder die Behandlung fortsetzen wolle.

Zu 10:
Siehe Antwort zu 9.

Zu 11:
Nach den Erkenntnissen der Ausländerbehörde, die auf Befragungen des im Landkreis Hameln- Pyrmont lebenden volljährigen Sohnes der abgeschobenen Familie beruhen, ist die Familie unmittelbar nach ihrer Ankunft in Istanbul mit dem Bus in ihren Heimatort Urfa weitergefahren. Sie soll in ihrem Heimatort eine Behelfsunterkunft bezogen haben und von Nachbarn unterstützt werden.

Zu 12:
Hinweise auf psychische Störungen werden unverzüglich dem Anstaltspsychiater übermittelt. Dieser wird zumeist noch am selben Tage tätig. In jedem Falle findet aber innerhalb von drei Tagen nach Weitergabe entsprechender Hinweise eine psychiatrische Untersuchung statt. Bei Sprachschwierigkeiten werden vereidigte Dolmetscher hinzugezogen. Die Versorgung psychisch gestörter Abschiebungsgefangener findet in der Regel ambulant in der Abteilung Langenhagen der JVA Hannover statt, in Ausnahmefällen erfolgt eine Verlegung in die Krankenabteilung der JVA Hannover.

Zu 13:
In der Abteilung Langenhagen der JVA Hannover gab es in den beiden Jahren 2005 und 2006 keinen Suizid, wohl aber einen Suizidversuch. Die Zahl der Selbstverletzungen ließe sich nur mit unverhältnismäßigem Aufwand ermitteln, da dafür die Gesundheitsakten aller 2 120 in diesem Zeitraum inhaftierten Abschiebungsgefangenen durchgesehen werden müssten. Selbst dann wäre eine sichere Unterscheidung zwischen Selbstverletzungen, Unfällen und Körperverletzungen durch Dritte nur in den Fällen möglich, in denen die Gefangenen entsprechende, glaubwürdige Angaben gemacht haben.

In Vertretung
Wolfgang Meyerding

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