Als vor vier Jahren die SPD gemeinsam mit den Grünen die Regierungsverantwortung in Niedersachsen übernahmen, waren die Erwartungen groß: Die neue Landesregierung versprach einen „Paradigmenwechsel in der Flüchtlingspolitik“ und warb dafür, eine „echte Willkommenspolitik“ in Deutschland zu schaffen. (siehe HAZ vom 25.05.2013). Viele Aktivist:innen aus der Flüchtlingssolidarität rieben sich verwundert die Augen: Brauchte es bei so viel gutem Willen der politischen Führung überhaupt noch einen Flüchtlingsrat?
Vier Jahre später lässt sich diese Frage eindeutig beantworten: Ja, es braucht weiterhin und mehr denn je einen Flüchtlingsrat in Niedersachsen. Dessen alte und neue Vorsitzende, Claire Deery, zog in der heutigen Diskussion mit Innenminister Boris Pistorius auf der Mitgliederversammlung des Flüchtlingsrats eine gemischte Bilanz: Rot-grün habe zu Beginn der Legislaturperiode eine Menge Balast aus dem Weg geräumt und einige wichtige Reformen durchgesetzt, etwa die Gutscheinpraxis beendet, die Residenzpflicht aufgehoben und der Härtefallkommission wesentlich mehr Entscheidungsspielraum eingeräumt. Auch bei der Umsetzung eines Bleiberechts für Flüchtlinge mit Ausbildungsplatz habe Niedersachsen die Spielräume für eine liberale Gestaltung genutzt. Vor dem Hintergrund der Erfolge der Rechtspopulisten habe sich aber auch in Niedersachsen die Tonlage geändert. Niedersachsen gerate immer mehr in den Sog einer Bundespolitik, die das Flüchtlingsrecht drastisch verschärft hat und eine härtere Gangart bei Abschiebungen fordert. Mittlerweile komme es auch in Niedersachsen wieder vermehrt zu skandalösen Abschiebungen, auch unter Inkaufnahme von Familientrennungen.
Innenminister Pistorius verteidigte den härteren Kurs in der Flüchtlingspolitik mit den 2015 und 2016 immens gestiegenen Flüchtlingszahlen. Da mehr Menschen nach Deutschland gekommen seien, die längst nicht alle als Flüchtlinge anerkannt werden, sei es zwangsläufig auch zu höheren Abschiebezahlen gekommen, auch aus Niedersachsen. „Abschiebungen sind die Kehrseite eines Systems, das auf Asyl baut und nicht auf Einwanderung“, sagte Pistorius. Im Übrigen habe die niedersächsische Landesregierung durch ihr unaufgeregtes und pragmatisches, an der Lösung der praktischen Probleme orientiertes Handeln dazu beigetragen, die Rechtspopulisten in Niedersachsen klein zu halten. Die CDU in Berlin sei schuld, dass es kein vernünftiges Einwanderungsrecht in Deutschland gebe, für das die SPD stets geworben habe, sagte Pistorius, der im Bundestagswahlkampf als SPD-Innenexperte auftritt. Statt über Abschiebungen solle man doch besser über die Integration und Teilhabe der Flüchtlinge diskutieren sowie über eine kontingentierte Aufnahme von verfolgten Flüchtlingsgruppen. Das Landesaufnahmeprogramm für syrische Flüchtlinge wurde in Niedersachsen allerdings – anders als in Hamburg, Brandenburg, Schleswig-Holstein oder Thüringen – im Sommer 2015 sang- und klanglos eingestellt.
Breiten Raum nahm die Debatte um den Umgang mit Härtefällen ein: Der Innenminister wurde für seine Entscheidung kritisiert, in einigen Fällen dem Votum der Härtefallkommission nicht zu folgen. Pistorius verteidigte sich: Nur in sehr wenigen Fällen habe er den Empfehlungen der Härtefallkommission nicht entsprochen. Für ihn läge kein Härtefall vor, wenn eine Person weder deutsch spreche noch arbeite und absehbar für die nächsten 20 Jahre auf eine staatliche Alimentierung angewiesen sei. Unterstützer:innen hielten ihm entgegen, dass eine Härtefalkommission nach ihrem Verständnis nicht für die starken und leistungsfähigen Flüchtlinge gedacht, sondern dazu da sei, die Probleme von besonders traumatisierten, alten oder kranken Flüchtlingen zu lösen, auch wenn sie öffentliche Leistungen in Anspruch nähmen oder wegen ihrer schwierigen Lage nicht die deutsche Sprache gelernt hätten.
Für heftige Diskussionen sorgte auch die Weigerung des Innenministers, einen Abschiebestopp für Flüchtlinge aus Afghanistan zu verhängen. „Dieses wäre ein völlig falsches Signal an die Schlepper, jetzt Menschen aus Afghanistan zu uns zu holen“, so Pistorius. Ein formal ausgesprochener Abschiebestopp würde auch an der aktuellen Lage nichts ändern, weil Niedersachsen schon seit Jahren überhaupt keine Menschen mehr nach Afghanistan abschiebe und die Schutzquote für Menschen aus dieser Region bei den Asylverfahren sehr hoch sei. Mitglieder des Flüchtlingsrates forderten dagegen ein Aufenthaltsrecht für afghanische Flüchtlinge. Sie verwiesen auf die große Zahl der in Deutschland lebenden Betroffenen – allein im Jahr 2015 kamen ca. 150.000 nach Deutschland – , die durch vollmundige Abschiebungsankündigungen des Bundesinnenministers in Angst und Schrecken versetzt und verunsichert würden. In dieser Situation wünsche man sich vom Innenminister in Niedersachsen ein Zeichen, dass diese Menschen in Niedersachsen willkommen sind und eine Abschiebung nicht fürchten müssten. „Wir stellen uns im Einzelfall schützend vor die Menschen aus Afghanistan“, verteidigte sich Pistorius, „aber ich will den Stempel Abschiebestopp nicht, sondern nur, dass über jeden Einzelfall gründlich entschieden wird“.
Am Ende der Veranstaltung überreichte Dündar Kelloglu vom Vorstand des Flüchtlingsrats dem Innenminister ein rotes Hannover-T-Shirt. „Wir haben gehört, dass Sie nach Berlin abgeworben werden sollen“, erläuterte er schmunzelnd, „und wünschen uns bei aller Kritik im Detail, dass Sie uns in Niedersachsen noch eine Weile erhalten bleiben.“
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