Unmittelbar nach der teilweisen Aufhebung des sog. Rückführungserlasses durch das Land hat sich in Niedersachsen erstmals wieder ein Abschiebungsversuch nach dem Muster „Überfall im Morgengrauen“ abgespielt, wie dies auch unter dem ehemaligen Innenminister Uwe Schünemann üblich war.
Ohne jegliche Vorankündigung des Abschiebungstermins drangen sieben Polizisten am 05.10.2015 rechtswidrig nachts um 02:00/03:00 Uhr mit Generalschlüssel o.ä. (sie überwanden 2 Türen geräuschlos, ohne Spuren) und Taschenlampen in eine Flüchtlingsunterkunft im Landkreis Rotenburg ein und rissen im Obergeschoss alle Iraner:innen aus dem Schlaf. In der Unterkunft nahm die Polizei gewaltsam den iranischen Flüchtling B. fest, der in der Eile noch nicht einmal seine Brille aufsetzen und seine persönlichen Sachen aufsuchen konnte, um ihn nach Ungarn abzuschieben. Aufgrund einer Herzerkrankung mit häufig auftretender, starker Luftnot und der Stresssituation durch den Polizeieingriff erlitt Herr B. einen Schock. In seinem Gedächtnisprotokoll beschreibt er, dass er aufgrund des Schocks und starken Herzklopfens in Ohnmacht fiel. Als er wieder zu sich kam, befand er sich bereits im Polizeiwagen auf dem Weg zum Frankfurter Flughafen.
Erst dort wurde die Abschiebung gestoppt, da der herzkranke Iraner über Schmerzen in der Brust klagte. Herr B. ist erfolgreich am Herzen operiert worden, muss jedoch täglich blutverdünnende Medikamente nehmen und eine regelmäßige Blut- sowie Leberkontrolle durchführen lassen. Die verordneten Medikamente, sowie wöchentlichen Untersuchungen sind für ihn lebenswichtig. In Anbetracht der Lebensumstände von Herrn B. drängt sich die Frage auf, ob eine Reisefähigkeit überhaupt gegeben ist. Nach Aussagen der Ausländerbehörde wurde vor dem Polizeieingriff eine „Flugreisetauglichkeit“ festgestellt. Eine amtsärztliche Untersuchung ist aber offenbar unterblieben. Die Untersuchungsergebnisse liegen uns nicht vor, auch die Nachfragen des Anwalts blieben unbeantwortet. Herr B. wurde nach dem Abbruch der Abschiebung wieder nach Gnarrenburg zurückgebracht. Wie der zu behandelnde Facharzt sowohl im Schreiben vom 07.10 wie auch vom 14.10.2015 ausdrücklich bestätigt hat, ist er „nicht flugtauglich. Ein Transport mit dem Flugzeug stellt eine Gefährdung des Patienten dar“.
Der Flüchtlingsrat ist empört über diesen Umgang mit einem herzkranken Flüchtling. Verantwortlich ist der Landkreis Rotenburg, der die Abschiebung „in Amtshilfe“ durchführte – und darauf verzichtete, den Abschiebungstermin vorher anzukündigen. Verantwortlich ist aber auch das niedersächsische Innenministerium, das durch eine Revision des „Rückführungserlasses“ solche Praktiken einer unangekündigten Abschiebung wieder ermöglicht hat.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, mit welchem Recht und in welcher Art und Weise die Polizei – ohne sich bei den Bewohner:innen durch Klingeln oder Klopfen bemerkbar zu machen – nachts in die Flüchtlingsunterkunft eingedrungen ist und die Bewohner:innen damit in Panik versetzt hat. Im Erdgeschoss wohnt eine Mutter mit 3 Kindern, deren Angst seit dem Polizeieingriff nicht mehr verfliegt. Das unangekündigte Eindringen in Unterkünfte ist ohne schwerwiegenden Anlass nicht zulässig: Ausdrücklich weist das MI die Ausländerbehörden darauf hin, dass das „Sicherheits- und Ordnungsgesetz zu beachten“ sei. Wörtlich heißt es in dem – noch gültigen – Erlass des MI:
„Die Ausnahmevoraussetzungen für das Betreten von Wohnungen zur Nachtzeit (§24 Abs. 4 Nds. SOG) liegen in der Regel bei Abschiebungen nicht vor. Auch ein Betretungsrecht nach § 24 Abs. 5 Nds. SOG ist im Regelfall bei Abschiebungen nicht gegeben, da dies voraussetzt, dass „der Eintritt erhebliche Gefahren vermittelt“… Sofern der Zeitpunkt der Abholung noch in die Nachtzeit fällt, kann die Maßnahme nur durchgeführt werden, wenn sich die Abzuschiebenden zur Verfügung halten.“
Das Beispiel macht deutlich, was uns erwartet, wenn der vorliegende Gesetzentwurf zum „Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz“ unverändert in Kraft tritt: Dort ist vorgesehen, dass Abschiebungen grundsätzlich nicht mehr angekündigt werden dürfen. Der Flüchtlingsrat fordert das Innenministerium auf, die teilweise Aufhebung des Rückführungserlasses wieder zurückzunehmen, dem „Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz“ im Bundesrat eine Absage zu erteilen und im Übrigen dafür Sorge zu tragen, dass Abschiebungsversuche dieser Art sich nicht wiederholen.
Kai Weber
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