Jeder zweite Deutsche sagt: Mehr Flüchtlinge aufnehmen

aus: HAZ 27.09.2014, Titel

Berlin. Angesichts der weltweiten Krisenherde sind die Deutschen zunehmend aufgeschlossen, Flüchtlinge aufzunehmen. Im ARD-Deutschlandtrend sprach sich eine Mehrheit von 48 Prozent der Befragten dafür aus, mehr Menschen in Deutschland Zuflucht zu gewähren. Die Politik reagiert überrascht auf die hohe Akzeptanz, Fachleute sehen sich dagegen bestätigt. „Überall bieten Ehrenamtliche jeden Alters und durch alle sozialen Schichten hindurch ihre Hilfe für Flüchtlinge an“, sagte Volker Jung, Migrationsexperte der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Die Umfrage für die ARD zeigt Unterschiede zwischen den politischen Lagern: Die Parteianhänger der Grünen, der Linken und der SPD sind mehrheitlich der Auffassung, dass Deutschland einen größeren Anteil an Flüchtlingen aufnehmen sollte. Die Anhänger der CDU/CSU sind in dieser Frage unentschieden, während die AfD-Wähler mit deutlicher Mehrheit die Aufnahme von mehr Flüchtlingen ablehnen.

Am 9. und 10. Oktober wollen die Innen- und Justizminister der EU erneut über die Verteilung der Flüchtlinge in Europa sprechen. Wie das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR am Freitag mitteilte, stieg die Zahl der neuen Asylanträge in den Industriestaaten in den ersten sechs Monaten dieses Jahres um knapp ein Viertel im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Deutschland belegte demnach den Spitzenplatz. Dem jüngsten Bericht zufolge beantragten von Januar bis Juni 2014 insgesamt 330.700 Menschen Asyl in den Industrieländern der Welt. Allein die Zahl der Asylbewerber aus dem Bürgerkriegsland Syrien stieg im Vergleichszeitraum von 18.900 auf 48.400. Von Menschen aus dem Irak seien 21.300 Anträge gezählt worden, gefolgt von Afghanistan mit 19.300 und Eritrea mit 18.900, hieß es weiter. Die meisten Anträge seien in dieser Reihenfolge in Deutschland, den USA, Frankreich, Schweden, der Türkei und Italien gestellt worden.

Für die Bundesrepublik wurde für das erste Halbjahr eine Zahl von 65.700 Anträgen angegeben – nach 109.600 im Gesamtjahr 2013. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, Elmar Brok (CDU), plädierte dafür, dass Notleidende in Syrien und im Irak verstärkt vor Ort geholfen wird. Man möchte nicht, „dass die Menschen alle hierher kommen“, sagte Brok im SWR. Der Niedersächsische Flüchtlingsrat plädierte für einen weniger bürokratischen Umgang mit Flüchtlingen in Deutschland: Es sei nicht nötig, alle Flüchtlinge durch Erstaufnahmelager zu schleusen.   27.09.2014 / HAZ Seite 1 Ressort: TITEL

Scharfe Debatte im Landtag – Seite 6

„Die Guten“ und „die Bösen“ in der Asylpolitik

Hannover. Wenn es um das Thema Asylpolitik geht, kann es auch im neuen, gepflegten Landtagssaal laut werden. So geschah es auch gestern, als das Landesparlament den Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik diskutierte, den Innenminister Boris Pistorius (SPD) propagiert. Pistorius hat versprochen, dass die Polizei nicht mehr nächtens bei abgelehnten Asylbewerbern aufkreuzt, um sie in ihr Herkunftsland abzuschieben. Der Innenminister wurde in der Landtagsdebatte aber mit einem Fall konfrontiert, in dem es doch zur Abschiebung zu vorgerückter Stunde kam – trotz des Versprechens von Pistorius, Nachtabschiebungen möglichst zu vermeiden. Der CDU-Abgeordnete Helmut Dammann-Tamke berichtete von einem Vorgang, der sich Mittwochabend im Landkreis Stade zugetragen hat. In der Gemeinde Drochtersen wurde eine albanische Familie mit vier Kindern nachts abgeschoben. Gegen 23 Uhr kam die Polizei und holte die Familie ab, die zum Frankfurter Flughafen sollte. „Diese nächtliche Abschiebung geschah gegen den einstimmigen Beschluss des Kreisrates“, sagte Dammann-Tamke. „Der Termin ließ sich nicht anders organisieren“, entgegnete Pistorius. „Bevor Sie jetzt aufheulen“, sagte er zur Opposition: „Es geht stets um eine Abwägung. Wir geben uns jedenfalls deutlich mehr Mühe bei solchen Abschiebungen, als Sie das jemals getan haben.“ Diese Begründung, dass man wegen der Flugtermine von Frankfurt nach Albanien auch schon mal zu vorgerückter Stunde eine „Rückführung“ vornehmen müsse, kam dem CDU-Abgeordneten Ansgar Focke bekannt vor: „Genau so hat auch unser Innenminister Uwe Schünemann argumentiert. Da haben die Grünen dann ein Riesenbrimborium gemacht.“ Der FDP-Abgeordnete Christoph Oetjen berichtete von Kommunen, die auf die Schnelle Flüchtlinge zugewiesen bekämen. SPD und Grüne, sagte Focke weiter, nähmen jedenfalls zu Unrecht für sich in Anspruch, stets „die Guten“ zu sein, während die Christdemokraten „die Bösen“ seien. Zu den relativ moderaten Tönen der Opposition in der Freitagsdebatte passte allerdings nicht die Pressemitteilung, die die CDU-Abgeordnete Angelika Jahns zu einem Vorfall in Wolfsburg abgegeben hatte. Dort war es Donnerstag zu einem Schusswechsel in einer Asylunterkunft gekommen – vermutlich ausgelöst durch Streitereien in der Drogenszene. Jahns wollte daraufhin eine Debatte über Asylbewerberunterkünfte führen – zur Entrüstung von SPD und Grünen. Denn dieser kriminelle Akt habe nichts mit der Unterkunft zu tun.
27.09.2014 / HAZ Seite 6 Ressort: NIED
Interview mit Kai Weber
„Man bräuchte weniger Bürokratie“
Herr Weber, Sie vertreten als Geschäftsführer Niedersachsens Flüchtlingsrat. Ist Deutschland ein aufnahmebereites Land?
Wenn man sich die Zahlen anschaut, schon. Wir hatten im vergangenen Jahr 110.000 Asylsuchende, und in diesem Jahr werden 200.000 Asylsuchende erwartet. Das ist schon bemerkenswert und findet sich nicht in vielen anderen Ländern.
Der Flüchtlingsrat feiert an diesem Wochenende sein 30-jähriges Bestehen. Als Sie mit der Flüchtlingsbetreuung anfingen, welche Stimmung ist Ihnen da entgegengeschlagen?
Wir hatten in den achtziger Jahren eine fundamental andere Situation als heute. Man hat über Flüchtlinge geredet, aber nicht mit ihnen. Man hat sie als anonyme Gefahr beschrieben. Von den Menschen selbst war nur als Bedrohung die Rede. „Deutschland ertrinkt im Füchtlingsstrom“ war etwa eine Schlagzeile in einer renommierten Zeitung. Dabei sind es die Flüchtlinge, die ertrinken. Gott sei Dank hat sich die Lage geändert. Man hat heute eine breite Rezeption auch der Leidensgeschichte von Flüchtlingen.
Sie betreuen Flüchtlinge. Woran hapert es in der Flüchtlingspolitik?
Wir haben schlicht eine Flaschenhals­situation aufgrund der relativ bürokratischen Aufnahmestruktur. Alle Flüchtlinge müssen durch Erstaufnahmelager geschleust werden. Diese Lager sind schnell voll, und dann stellen sich Bilder von Überfüllung ein, die nicht unbedingt begründet sind. Denn nur 15 Prozent der Einwanderer in Deutschland sind auch Flüchtlinge.
Bräuchte man eine Privatisierung der Flüchtlingspolitik?
Man bräuchte in erster Linie eine Entbürokratisierung. Es gibt oft die Möglichkeit, dass Flüchtlinge bei Freunden oder Bekannten unterkommen können. Sie werden aber bürokratisch dazu verpflichtet, in einer Wohnung zu leben, deren Bezug gar nicht nötig ist. Wir haben ein relativ bürokratisches Verteilungssystem, das vorsieht, dass Flüchtlinge nach bestimmten Quoten über alle Bundesländer verteilt werden. Dabei wird relativ wenig Rücksicht genommen auf persönliche Bezüge der Flüchtlinge und Möglichkeiten, sich selbst zu helfen.
Wenn man sich die gigantische Zahl der Flüchtlinge im Nahen Osten anschaut, kann einem schon die Befürchtung kommen, dass auch hier die Dinge ins Rutschen kommen. Wo ist nach Ihrer Ansicht die Grenze der Aufnahmebereitschaft?
Es gibt keine objektive Grenze. Die Bereitschaft hat viel mit einer pragmatischen Politik zu tun, die eine Aufnahme ermöglicht. Wenn Sie sich vor Augen führen, dass im Libanon eine Million Flüchtlinge leben, die Bevölkerung aber nur vier Millionen beträgt, dann sehen Sie, wie subjektiv der Begriff der Grenze der Aufnahmebereitschaft ist. Auf Deutschland hochgerechnet wären das 20 Millionen, wir reden hier aber über 200.000 Menschen – ein Bruchteil dessen, was in den Nachbarländern Syriens geleistet wird.
Die Kommunen klagen über zu geringe Hilfen des Landes für die Flüchtlings­unterbringung. Jetzt hat das Innenministerium die Pauschalen leicht erhöht. Reichen 6300 Euro pro Jahr und Mensch?
Es ist ein Zeichen des guten Willens, aber reicht längst nicht aus. Die Flüchtlinge, die zu uns kommen, brauchen oft eine intensive Betreuung.
Interview: Michael B. Berger
27.09.2014 / HAZ Seite 6 Ressort: NIED

 

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