[2011]
Petition von Schanas Naso für ihren Bruder Anuar
Am 01.02.2011 wurde der damals 15-jährige Anuar Naso zusammen mit seinem Vater von der restlichen Familie (Mutter, Schwester Schanas, weitere ältere Geschwister) getrennt und gewaltsam nach Syrien abgeschoben, wo beide inhaftiert und misshandelt wurden. Nach ihrer Freilassung flohen die beiden erneut aus Syrien. Sie strandeten in Bulgarien, wo sie festgehalten und an einer Rückkehr zu ihrer Familie nach Deutschland gehindert wurden. Auch nach zwei Jahren noch verweigern der Landkreis Hildesheim sowie das übergeordnete niedersächsische Innenministerium die Abgabe einer Aufnahmeerklärung als Voraussetzung für eine Familienzusammenführung in Deutschland.
Jetzt hat sich die Schwester Schanas Naso in einem eindringlichen Appell an die Landesregierung gewandt. In einer über Change.org angestrengten Petition an den niedersächsischen Ministerpräsidenten fordert sie:
Erlauben Sie die Rückkehr meines Bruders!
Wir bitten Sie, diese Petition zu unterschreiben. Darüber hinaus bitten wir Sie, wenn möglich auch den Kampf für die Rückkehr von Anuar und Bedir Naso zu ihrer Familie durch eine Spende zu unterstützen. Das Spendenkonto lautet:
Flüchtlingsrat Niedersachsen
Konto 4030 460 700
GLS Gemeinschaftsbank eG
BLZ 430 609 67
Zweck: Anuar Naso
IBAN: DE28 4306 0967 4030 4607 00 / BIC: GENODEM1GLS
Steuer-Nr. 30/212/41346
Zur Vorgeschichte
Giesen in Niedersachsen, 1. Februar 2011: In aller Herrgottsfrühe wird das Haus der Familie Naso/Hasso von einer Polizeistaffel mit 17 Beamten und Hunden umstellt. Die Abschiebung nach mehr als zehnjährigem Aufenthalt in Deutschland erfolgt überfallartig und – auf ausdrückliche Anweisung des Ordnungsamtsleiters – ohne Mitteilung des Abschiebungstermins. Der damals 15-jährige Anuar und seine Eltern werden aus dem Schlaf gerissen und festgenommen, nur die 18-jährige Tochter Schanas darf bleiben. Die Ausländerbehörde sieht für sie eine positive Integrationsprognose und will ihr deshalb eine Aufenthaltserlaubnis erteilen.
Während der Abschiebung erleidet die Mutter Bashe Hasso, die den ganzen Tag über nichts zu essen und trinken bekommt, aufgrund ihrer Diabetes einen Schwächeanfall und muss in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Anstatt die Abschiebung daraufhin abzubrechen, werden Anuar und sein Vater ohne die Ehefrau und Mutter nach Syrien abgeschoben. Bashe Hasso bleibt mit ihrer Tochter Schanas in Deutschland zurück. Ihr wird später wegen bestehender Gefahr der Folter und menschenrechtswidriger Behandlung in Syrien ein Aufenthaltsrecht zugesprochen.
Anuar und sein Vater Bedir Naso jedoch landen in Damaskus und werden nach ihrer Ankunft in Syrien unverzüglich in ein Gefängnis gesperrt. Das niedersächsische Innenministerium behauptet in unerträglicher Verharmlosung des syrischen Folterregimes, dies diene „nur“ der Identitätsklärung. Später stellt sich heraus, dass beide vom syrischen Gemeindienst verhört und misshandelt werden. Der 15-jährige Anuar verbüßt insgesamt mehr als einen Monat, seit Vater 13 Tage in Haft. Schließlich werden sie unter Auflagen frei gelassen.
Aus Angst vor weiterer Verfolgung nutzen Vater und Sohn nach ihrer Entlassung die erste sich bietende Gelegenheit, um erneut aus Syrien zu fliehen. Nach einer Odyssee durch verschiedene Länder werden sie schließlich in Bulgarien festgenommen und auch dort vier Monate lang eingesperrt. Als sie dann versuchten, die Landesgrenze Richtung Deutschland zu verlassen, werden sie erneut festgenommen. Anuars Vater wird im Spätsommer 2011 zu einer langen Haftstrafe aufgrund versuchten illegalen Grenzübertritts verurteilt und bis zum 20. Oktober 2012 im Zentralgefängnis in Sofia eingesperrt. Anuar, der als Minderjähriger nicht inhaftiert werden darf, lebt für viele Monate auf sich allein gestellt in Sofia.
Der Aufforderung, jetzt schnell zu handeln, zum Wohle des Jungen alles zu tun und Anuar zu seiner Mutter nach Niedersachsen zu bringen, entziehen sich der Landkreis Hildesheim sowie das niedersächsische Innenministerium mit Hinweis auf die formale Rechtsposition, für die Erteilung einer Wiedereinreiseerlaubnis sei die deutsche Botschaft zuständig. Doch auch die mauert und fordert zunächst die Erstattung der Abschiebungskosten. Auch nachdem diese bezahlt ist, bewegt sich in der Angelegenheit nichts. Trotz vorliegender Originalunterlagen über die Registrierung der Familie in Syrien zweifelt der Landkreis Hildesheim das Alter von Anuar an und begründet damit seine Weigerung, den minderjährigen Jungen Anuar nach der Inhaftierung seines Vaters aufgrund eines gescheiterten Fluchtversuchs zu seiner Familie nach Deutschland zurückkehren zu lassen. Die Familie will alles tun, um eine Rückkehr von Anuar nach Deutschland zu ermöglichen, und stimmt der von den Behörden geforderten medizinischen Untersuchung bei einem Vertrauensarzt der deutschen Botschaft zu.
Der bulgarische Arzt untersucht den Jungen zweimal. In seiner ersten Stellungnahme bestimmt er das Altern von Anuar mit „mindestens 17 Jahre“, in seiner zweiten Untersuchung mit „mindestens 19,5 Jahre“. Dieses Ergebnis ist ein Schock für die Familie, die natürlich weiß, wie alt ihr 16-jähriger Junge ist. Da das Alter mit Hilfe medizinischer Altersfestsetzungen nur ungefähr zu bestimmen ist (in der Fachdiskussion ist von einer Abweichung von +/- zwei bis drei Jahren die Rede), erscheint die kategorische Altersfestsetzung des bulgarischen Arztes schon der Form nach als unseriös. Daher schickt die Familie die Röntgenaufnahmen an den Flüchtlingsrat Niedersachsen, der sie – nach Rücksprache mit dem Bundesverband Unbegleitete Minderjährige – einem Radiologen der Medizinischen Hochschule Magdeburg vorlegt. Dieser kommt zu dem Ergebnis, dass das aus den bulgarischen Röntgenaufnahmen des Knochenbaus bestimmbare Alter von Anuar durchaus noch zu einem 16-jährigen Jungen passe. Trotz dieser Korrektur verweigert die deutsche Botschaft weiterhin eine Familienzusammenführung und verweist auf die fehlende Zustimmung des Landkreis Hildesheim. Dieser nimmt das Gutachten des Magdeburger Radiologen schlicht nicht zur Kenntnis und beharrt trotz der bekannten Varianz und Ungenauigkeit einer medizinischen Altersfestsetzung und trotz der vorliegenden Originalunterlagen aus Syrien darauf, Anuar sei über 19 Jahre alt und damit schon volljährig.
Nach Verbüßung der Haftstrafe lebt Bedir zusammen mit seinem Sohn in einer kleinen Wohnung in Sofia unter prekären Lebensverhältnis. Auf Grund der politischen Instabilität Syriens können die bulgarischen Behörden die beiden nicht abschieben, sie bekommen aber auch keine Einreiseerlaubnis für Deutschland.
Am 18.02.2013 wird dann die Mutter Bashe Haso in einem weiteren Asylverfahren offiziell vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt. Die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft der Frau schafft nun eine neue rechtliche Grundlage für eine Familienzusammenführung: Aus der Ermessensentscheidung wird ein Rechtsanspruch zumindest für den Vater Badir Naso. Dies nährt die Hoffnung, der Landkreis werde nun endlich einlenken und einer Visumserteilung für beide zustimmen.
Doch der Landkreis erklärt, dass nur der Ehemann einen Nachzugsanspruch habe, da Anuar „mindestens 19, 5“ Jahre alt sei und daher keinen rechtlichen Anspruch auf die Ausstellung eines Einreisevisums habe. Man werde jedoch prüfen, ob aufgrund einer außergewöhnlichen Härte eine Grundlage für eine Visumserteilung gegeben sein könnte.
Daraufhin starten die Unterstützer:innen eine eindrucksvolle Solidaritätskampagne. Mit einem Appell von der Schwester Schanas Naso an den ehemaligen Ministerpräsidenten David McAllister protestierten über 18.000 Menschen gegen das Vorgehen der Behörden. Es folgten Facebook-Demos, E-Mail-Aktionen an den Landkreis Hildesheim, Hintergrundgespräche und ein persönliches Treffen mit David McAllister, der zwar eine Prüfung des Falls zusagt, eine Lösung in den letzten Tagen seiner Amtszeit aber nicht mehr durchsetzt. Nach den Landtagswahlen richtet Schanas ihre Petition dann an den neuen Innenminister Pistorius – und der reagiert prompt: Er empfängt Schanas mit einer Gruppe von Schüler:innen und verspricht, sich persönlich für eine Lösung einzusetzen. Am 18. April erklärt der Landkreis Hildesheim sich öffentlich bereit, “in diesem besonderen Einzelfall zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte … die Zustimmung zur Erteilung des Visums [zu erteilen]”. Mit einer Rückkehr von Anuar und Bedir Naso ist voraussichtlich am kommenden Samstag zu rechnen. Wir werden die beiden am Flughafen begrüßen!
Eine einfühlsame Dokumentation zum Schicksal von Anuar und Bedir Naso findet sich hier:NDR-Reportage zu Anuar Naso
Die Süddeutsche Zeitung hat am 26.07.2012 eine Reportage über den Fall veröffentlicht: Artikel von Stefan Klein
Die niedersächsische Landesregierung hat inzwischen angekündigt, Familien nicht mehr durch Abschiebungen auseinander zu reißen und im Ergebnis zu zerstören. Nicht nur das Grundgesetz (Artikel 6), sondern auch die Europäische Menschenrechtskonvention (Artikel 8) sowie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Artikel 12 und 16) räumen dem Familienschutz einen hohen Rang ein. Artikel 8 EMRK schützt auch das Familienleben zwischen volljährigen Kindern, Enkeln, Großeltern und Verwandten der Seitenlinie sowie nichtehelichen und gleichgeschlechtlichen Gemeinschaften. Die Kinderrechtskonvention sowie das Kinder- und Jugendhilfegesetz verpflichten die Behörden auf eine Orientierung am Wohl des Kindes – unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit.
Diese grundrechtlichen Garantien müssen bei den Ermessensentscheidungen der Ausländerbehörden über die Abschiebung von Familien zum Tragen kommen. Wenn sich einzelne Dienststellen dennoch immer wieder ermutigt fühlen, Abschiebungen auch unter Inkaufnahme einer gewaltsamen Trennung von Familienmitgliedern durchzuführen, so liegt das daran, dass weder gesetzliche noch administrative Vorschriften im Ausländergesetz eine Familientrennung von Staats wegen verbieten. Der Schutz der Familie, für den sich insbesondere konservative Politik immer wieder stark macht, gilt nicht viel, wenn es um Flüchtlinge geht.
Rechtspolitisch besteht dringender Handlungsbedarf. An hehren Bekenntnissen aller Parteien zu Ehe und Familie fehlt es nicht. Auch Menschen mit einem prekären Aufenthalt müssen das Recht haben, dass ihre familiären Bindungen angemessen berücksichtigt werden. Konkret zu fordern ist:
- Wenn für ein Familienmitglied ein Anspruch auf Schutz vor Abschiebung besteht, muss die Gesamtfamilie ein Bleiberecht erhalten.
- Der Familiennachzug zu Flüchtlingen mit einem Aufenthaltsrecht in Deutschland muss ohne Einschränkungen ermöglicht werden
- Solange Flüchtlingsfamilien sich in Deutschland aufhalten, müssen ihre Mitglieder die Möglichkeit haben, miteinander in einer Wohnung zu leben.
- Bindungen an Großeltern, Geschwister, erwachsene Kinder oder sonstige Familienangehörige sind bei der Entscheidung über den Aufenthalt sowie die Unterbringung von Flüchtlingen zu berücksichtigen
Weitere Informationen finden Sie hier.
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