SG Hildesheim moniert Gutscheinpraxis gegenüber Flüchtlingen

Müssen Leistungen, die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18.07.2012 als Nachzahlung an Flüchtlinge erfolgen, in bar ausgezahlt werden, oder dürfen sie auch in Form von Gutscheinen gewährt werden? Diese Frage beschäftigt derzeit eine Reihe von Verwaltungsgerichten. LeistungsbezieherInnen, bei denen ein Widerspruchsverfahren lief, konnten für den Zeitraum maximal ab dem 01.01.2011 Nachzahlungen erhalten. Darüber hinaus konnten auch Personen, die keinen rechtsmittelfähigen Leistungsbescheid erhalten hatten, Widerspruch für Leistungen der vergangene 12 Monate einlegen und entsprechend Nachzahlungen einfordern.

Bereits am 29.06.2012 hatte das Sozialgericht Koblenz entschieden, dass  „eine nachträgliche Sicherstellung eines in der Vergangenheit liegenden Bedarfs […] zwangsläufig nur in Form von Geldleistungen“ zu erbringen sei. Gestern hat nun auch das Sozialgericht Hildesheim in seiner Entscheidung vom 12.12.2012 (Az. S 42 AY 126/11) festgestellt, dass Nachzahlungen von Leistungen, die aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012 fällig sind, in bar zu erfolgen haben. Die schriftliche Urteilsbegründung liegt noch nicht vor. Der NDR (Hallo Niedersachsen) hat gestern in den 18 Uhr – Nachrichten kurz darüber berichtet (ab 18:02 Uhr).

Mit seiner Entscheidung von gestern hat das Sozialgericht Hildesheim die Stadt Göttingen düpiert, die sich hinsichtlich der Frage, ob eine Auszahlung von Leistungen in bar erfolgen dürfe oder in Form von Gutscheinen stattfinden müsse, unnötig ängstlich verhalten hat.   Die Stadt Göttingen bekräftigt zwar bei jeder sich bietenden Gelegenheit, man sei eigentlich gegen diskriminierende Gutscheinausgabe, meinte aber dennoch, die Nachzahlung an Leistungsempfänger/innen nach § 3 AsylbLG nicht in bar vornehmen zu dürfen, da eine  vom Land geforderte „besondere Sachkostellation“ nicht gegeben sei, die dies ausnahmsweise erlaube. Eine solche „besondere Sachkonstellation“ ist unseres Erachtens schon darin zu sehen, dass Flüchtlingen über Jahre Leistungen auf einem Niveau gewährt wurden, die das Bundesverfassungsgericht für menschenunwürdig und daher mit der deutschen Verfassung unvereinbar erklärt hat. Selbst das niedersächsische Innenministerium sieht insofern eine Nachzahlung nicht zwingend als Gutscheinleistung vor (siehe die heutige Presseerklärung des Innenministeriums).

Das Hildesheimer Verfahren wurde von Rechtsanwalt Sven Adam aus Göttingen geführt. Anwalt Adam führt derzeit auch Verfahren, in denen er die Gutscheinausgabe grundsätzlich, also nicht nur bei Nachzahlungen, sondern auch bei regelmäßigen Leistungen, in Frage stellt. Zu Recht weist er darauf hin, dass viele Bundesländer – zuletzt auch Thüringen – unter Bezugnahme auf die bestehende Rechtslage die Leistungsform den Kommunen überlassen und ihnen eine Ermessensentscheidung abverlangen, die in Niedersachsen in der Regel gar nicht erfolgt. Siehe hierzu auch die neue rechtliche Stellungnahme zur Frage „Bargeld oder Gutscheine“  des Anwalts Adam sowie die Pressemitteilungen der Göttinger Gutscheingruppe zum Thema. Der vom Land postulierte Vorrang von Gutscheinen gegenüber Bargeld ist dürftig begründet und sachlich kaum haltbar, der Sachleistungszwang selbst mit einiger Wahrscheinlichkeit verfassungswidrig (siehe hierzu auch: Gutachten von Rechtsanwältin Anja Lederer).

gez. Kai Weber

Nachtrag vom 18.12.2012: Der Landkreis Göttingen hat nunmehr angekündigt, die Nachzahlung in bar vornehmen zu wollen. Allerdings hält es der Landkreis für erforderlich, sich vorher erneut hierfür das Einverständnis des niedersächsischen Innenministeriums einzuholen. Man würde sich vom Landkreis Göttingen ein selbstbewussteres Auftreten wünschen. Die Presseerklärung des Landkreis Göttingen vom 17.12.2012 hat folgenden Wortlaut:

Landkreis wird Nachzahlungen in Bargeld erbringen
Urteil zu Leistungen für Asylbewerber wird umgesetzt

Nach dem Urteil des Sozialgerichtes Hildesheim vom 12.12.2012 wird der Landkreis Göttingen die noch offenen Nachzahlungen der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in Form von Bargeld gewähren. Dies teilte Pressesprecher Marcel Riethig mit. In dem Verfahren, das vom Sozialgericht Hildesheim entschieden worden war, hatte eine Leistungsberechtigte gegen die Stadt Göttingen auf Auszahlung der Leistungen in Form von Bargeld geklagt. Nach dem Urteil soll eine Nachzahlung grundsätzlich nur in Geldleistungen zulässig sein. Die nachträglichen Auszahlungen hatten sich aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ergeben, das die Höhe der Regelsätze des Asylbewerberleistungsgesetzes für verfassungswidrig erklärt hatte.

Auf Nachfrage hatte das Innenministerium am 15.08.2012 dem Landkreis Göttingen schriftlich mitgeteilt, die Nachzahlungen für den Monat August 2012 in Form von Bargeld erbringen zu können. Das Innenministerium rechtfertigte diese Ausnahme mit der besonderen Sach- und Fallkonstellation, die sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ergebe. Diese Mitteilung zur Ausnahme beziehe sich nur auf den Monat August 2012, teilte das Innenministerium auf Nachfrage ausdrücklich mit. Ausweislich der Pressemitteilung des Innenministeriums vom 13.12.2012 habe sich diese Auffassung nun weiterentwickelt, weshalb der Landkreis auch für die Vormonate Barleistungen erbringen könne, sagte Riethig. Der Landkreis werde sich aber zur Sicherheit das Vorgehen noch einmal schriftlich vom Innenministerium bestätigten lassen.

Der Landkreis Göttingen werde nach Bestätigung des Innenministeriums bereits ausgegebene Gutscheine umtauschen, teilte Riethig weiter mit. Bei Nachfragen stehen die zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Amt für Soziales im Kreishaus Göttingen sowie in den Außenstellen Hann. Münden und Duderstadt zur Verfügung.

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