Tod von 63 MigrantInnen im Mittelmeer: Klage gegen französische Armee wegen unterlassener Hilfeleistung

Ciré
International Federation for Human Rights (FIDH)
Groupe d’information et de soutien des immigrés (GISTI)
LDH
Migreurop

Gemeinsame Presse-Erklärung

Paris, 11. April 2012

Ein Jahr nach dem Tod von 63 MigrantInnen in einem Boot vor Libyen reichen Überlebende heute mit Unterstützung eines NGO-Zusammenschlusses* Klage in Frankreich ein. Sie beschuldigen die französische Armee der unterlassenen Hilfeleistung.

Im März 2011 griff das Chaos in Libyen um sich, und Tausende AusländerInnen waren gezwungen, aus dem Land zu fliehen, um der Gewalt zu entkommen. Unter ihnen waren 72 Personen äthiopischer, eritreischer, nigrischer, ghanesischer und sudanesischer Herkunft, die in der Nacht des 27 März mit einem Zodiac-Boot Richtung Italien ablegten. Einige Stunden nach ihrer Abfahrt überflog ein französisches Patrouillenflugzeug das Boot und meldete es den italienischen Küstenwachen. Die Reise verwandelte sich schnell in einen Alptraum. [1] Es ging ihnen Kraftstoff, Nahrung und Trinkwasser aus; sie verloren die Kontrolle über ihr Boot. Über Telefon sendeten sie SOS aus, das die italienischen Küstenwachen erhielten, die ihrerseits Notfallmeldungen mit genauer Ortsangabe an die Schiffe schickten, die sich im Mittelmeer aufhielten. Diese Notrufe wurden alle vier Stunden zehn Tage lang ausgesendet. Die Gewässer vor Libyen hatten damals Marine-Einheiten massiv in Beschlag genommen, die über hochentwickelte Technik verfügen. Das Boot der MigrantInnen wurde zwei Mal von Hubschraubern überflogen. Einer von ihnen warf sogar einige Flaschen Wasser und Kekse zu den Passagieren hinunter, bevor er wieder wegflog. Danach, nichts!

Nach neun Tagen des Herumtreibens, als zahlreiche Passagiere bereits tot waren, kreuzten die MigrantInnen ein Militärschiff. Sie meldeten ihnen ihre Not und zeigten ihnen die Körper toter Babys. Aber niemand kam ihnen zu Hilfe.

Das Zodiac-Boot wurde nach 15 Tagen des Herumtreibens schließlich an die libysche Küste zurückgetrieben. An Bord waren nur noch elf Überlebende, zwei von ihnen starben gleich nach der Ankunft in Libyen. 63 Personen, unter ihnen 20 Frauen und 3 Kinder, haben wegen ausgebliebender Hilfe den Tod gefunden.

Dieser Vorfall, Symbol der Indifferenz Europas gegenüber den Flüchtlingen, wurde heute von einigen Überlebenden vor das französische Strafgericht gebracht. Es wurde heute Klage gegen unbekannt wegen unterlassener Hilfeleistung vor dem Landgericht Paris (Tribunal de grande instance de Paris) eingereicht, das über eine Abteilung verfügt, die auf Militärangelegenheiten spezialisiert ist. Es obliegt nun der französischen Justiz, Licht in die Verantwortlichkeit der französischen Armee zu bringen, die in Libyen eingesetzt wurde, um die Zivilbevölkerung zu schützen, aber deren Flüchtlingen keine Hilfe gewährte. Auf jeden Fall haben die französischen Streitkräfte die Notrufe erhalten, aber alles deutet darauf hin, dass sie ihren internationalen und nationalen Verpflichtungen nicht nachgekommen sind, nämlich Leben zu schützen, und insbesondere das Leben auf See.

Die Verachtung und die Indifferenz gegenüber den Personen, die versuchen, nach Europa zu kommen, um ihr Leben zu retten, sind nicht hinzunehmen. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat das kürzlich mit Nachdruck in einem Beschluss vom 23. Februar bekräftigt. Unsere Organisationen, die die Überlebenden dieser Tragödie unterstützen, erwarten von der französischen Strafjustiz, dass sie vorgeht gegen die Verletzung der Verpflichtung, Menschen in Not Hilfe zu gewähren, und sind der Auffassung, dass es keine Rechtfertigung dafür gibt, ungestraft Menschen sterben zu lassen, bei denen man wusste, dass es sich um Menschen in Not handelte.

Paris, 11. April 2012

* Der NGO-Zusammenschluss umfasst:

Agenzia Habeshia, Associazione Ricreativa e Culturale Italiana (ARCI), Boat4People, Coordination et initiatives pour réfugiés et immigrés (Ciré), Fédération internationale des ligues des droits de l’Homme (FIDH), Groupe d’information et de soutien des immigrés (GISTI), Ligue des droits de l’Homme (LDH), Migreurop, Progress Lawyers Network, Réseau euro-méditerranéen des droits de l’Homme (REMDH).

[1] Zu den Fakten siehe Mare deserto, Dokumentarfilm von E. Bos und P. Nicol, RSI-Radiotelevisione Svizzera.

Video Zeugnis von Dana Heile Gebre, einem der neun Überlebenden (auf Englisch)

Klage auf englisch: hier klicken
Klage auf französisch: hier klicken

Lesen Sie den Bericht unabhängiger Experten über den Fall (auf Englisch): hier klicken

Presse-Kontakt:

FIDH: Katherine Booth (Englisch und Französisch) Tel: +33 6 48 05 93 93
GISTI: Stéphane Maugendre (Englisch und Französisch) Tel: +33 6 07 37 90 72

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