Die Landesregierung hat ihre Anwendungshinweise zu den Bleiberechten § 25a und § 25b AufenthG aktualisiert. Dabei hat sie es versäumt, Regelungen zu treffen, die dem Chancen-Aufenthaltsrecht zum Erfolg und seinen Inhaber:innen zu einer dauerhaften Bleibeperspektive verhelfen. Auch für Menschen im prekären Aufenthaltsstatus der Duldung enthalten die Hinweise keine signifikanten Verbesserungen.
Der Flüchtlingsrat Niedersachsen hat die Entwürfe der Anwendungshinweise in der Verbandsanhörung kommentiert und verschiedene Änderungsvorschläge gemacht, die jedoch mit wenigen Ausnahmen kein Gehör gefunden haben. Andere Regelungen des Erlasses, die wir in der Vergangenheit bereits kritisiert haben, wurden bedauerlicherweise ebenfalls nicht überarbeitet und bestehen fort.
Im Folgenden heben wir einige Aspekte hervor, die wir für besonders kritisch erachten. Unsere weiteren Kritikpunkte sowie unsere Vorschläge können unserer Stellungnahme zu § 25a AufenthG bzw. unserer Stellungnahme zu § 25b AufenthG entnommen werden. Die Konsequenzen der aktualisierten Anwendungshinweise für die Beratungspraxis haben wir hier zu §25a AufenthG und hier zu §25b AufenthG beschrieben.
1. Restriktive Gestaltung des Übergangs vom Chancen-Aufenthaltsrecht in ein dauerhaftes Bleiberecht
Die Anwendungshinweise sehen vor, dass die Anträge von Personen mit Chancen-Aufenthaltsrecht auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a bzw. § 25b AufenthG abzulehnen sind, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung der jeweiligen Aufenthaltserlaubnis nicht bereits unmittelbar bei Antragstellung und Ablauf des Chancen-Aufenthaltsrechts nach 18 Monaten vorliegen. In der Praxis kann diese mangelnde Flexibilität dazu führen, dass einer Vielzahl von Menschen mit Chancen-Aufenthaltsrecht der Übergang in ein dauerhaftes Bleiberecht nicht gelingen und sie wieder in den prekären Status der Duldung zurückfallen werden.
In nur 18 Monaten müssen Inhaber:innen des Chancen-Aufenthaltsrechts regelmäßig den Test „Leben in Deutschland“ und die Deutschprüfung für das Niveau A2 ablegen, einen Reisepass beschaffen und den Lebensunterhalt zumindest überwiegend sichern, um ein Bleiberecht nach § 25b AufenthG zu erhalten.
Dabei stellen sich zahlreiche praktische Herausforderungen: Aufgrund fehlender Kapazitäten bei den einschlägigen Sprachkursanbietern erhalten trotz rechtzeitiger Bemühungen viele Personen keinen zeitnahen Termin für die erforderlichen Sprachkurse oder zur Ablegung der Tests, es gibt teilweise Wartezeiten von mehr als 6 Monaten. Besonders für nicht alphabetisierte Personen und alleinerziehenden Elternteile gibt es nicht ausreichend Angebote. Die vom Land getroffenen Regelung erleichtert es den Ausländerbehörden, einen Antrag auch dann abzulehnen, wenn dieser innerhalb der 18 Monate – z.B. im Februar – gestellt wurde, der noch fehlende Test aber aufgrund von Kapazitätsengpässen bei den Anbietern erst später – z.B. im April – abgelegt werden kann. Andere Inhaber:innen des Chancen-Aufenthaltsrechts können – trotz nachweislich intensiver Anstrengungen – noch keinen Reisepass vorlegen, etwa weil die Botschaften überhaupt nicht bzw. nicht im erforderlichen Maß kooperieren.
Auch wenn die betroffenen Personen es somit nicht zu verschulden haben, dass Voraussetzungen in der knapp bemessenen Zeit nicht erfüllt werden, können sie dafür „bestraft“ werden, in dem ihr Antrag abgelehnt wird und sie wieder in die Duldung fallen. Dies bedeutet oft den Verlust der Arbeitserlaubnis oder eine drohende Abschiebung.
Auch die (bislang) bekannten Zahlen deuten darauf hin, dass viele Inhaber:innen des Chancen-Aufenthaltsrechts den Übergang in § 25a bzw. § 25b AufenthG – vor allem aus den vorstehend genannten Gründen – nicht innerhalb der 18 Monate schaffen werden. Das Chancen-Aufenthaltsrecht ist zum 31. Dezember 2022 in Kraft getreten. Knapp zwei Jahre danach (Stichtag 31.10.2024) haben in Niedersachsen lediglich 825 der 8.396, d.h. weniger als 10 %, der Chancen-Aufenthaltsrecht-Inhaber:innen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a bzw. § 25b AufenthG erhalten.
Um dem Chancen-Aufenthaltsrecht zum Erfolg zu verhelfen und möglichst vielen Inhaber:innen den Übergang in ein Bleiberecht zu ermöglichen, haben wir die Aufnahme folgender flexiblerer Regelung vorgeschlagen, um individuelle Härtefälle besser berücksichtigen zu können:
„Besteht die begründete Aussicht auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG, soll den Inhaber:innen des Chancen-Aufenthaltsrechts eine Fiktionsbescheinigung gem. § 81 Abs. 4 S. 1 i. V. m. Abs. 5 und Abs. 5a AufenthG für die Dauer von 12 Monaten ab Antragstellung ausgestellt werden. Die Gültigkeitsdauer der Fiktionsbescheinigung können die Begünstigten nutzen, um die noch fehlenden Erteilungsvoraussetzungen zu schaffen.“
Dass eine solche Regelung rechtlich möglich wäre, zeigt ein Blick in die Vergangenheit. So hat das Land im Rahmen der Anwendungshinweise zur Ausstellung von Fiktionsbescheinigungen für Drittstaatsangehörige aus der Ukraine (vom 27.12.2022, Az.: 64.12- 12230/ 1-8 (§24)) eine nahezu wortgleiche Regelung erlassen.
Wir appellieren an die Ausländerbehörde, hier trotzdem von Ihrem Ermessen im Einzelfall zugunsten der Betroffenen Gebrauch zu machen.
2. Pauschale Verdächtigung aller Antragsteller:innen als Verfassungsfeinde
Bislang waren die Ausländerbehörden nur dann verpflichtet, „die Sicherheitsbehörden und Nachrichtendienste vor der Entscheidung über den Antrag gem. § 73 Abs. 2 AufenthG zu beteiligen,“ sofern ihnen im „Einzelfall Anhaltspunkte oder Erkenntnisse“ vorliegen, „dass sich die oder der Betroffene tatsächlich nicht zur freiheitlich demokratischen Grundordnung (fdGO) bekennt oder […] sie aufgrund des Verhaltens der oder des potentiell Begünstigten begründbare Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Bekenntnisses“ hat.
Fortan sind die Ausländerbehörden verpflichtet, „zur Feststellung von Versagungsgründen“ vor jeder Entscheidung über einen Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a bzw. § 25b AufenthG eine Abfrage nach § 73 Abs. 2 AufenthG bei den Sicherheitsbehörden durchzuführen.
Nach § 73 Abs. 2 AufenthG steht es im Ermessen der Ausländerbehörden, „zur Feststellung von Versagungsgründen gemäß § 5 Abs. 4 oder zur Prüfung von sonstigen Sicherheitsbedenken vor der Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels […] die bei ihnen gespeicherten personenbezogenen Daten zu den betroffenen Personen über das Bundesverwaltungsamt“ an verschiedene Sicherheitsbehörden übermitteln. Mit den beiden Erlassen werden die Ausländerbehörden gezwungen, ihr Ermessen nicht zu gebrauchen. Dies ist mit der Rechtslage nicht vereinbar.
Zudem ist es befremdlich, dass alle Antragsteller:innen – ohne, dass dafür konkrete Anhaltspunkte existieren – pauschal verdächtigt werden, nicht auf dem Boden der fdGO zu stehen, nur weil sie Ausländer:innen sind. Auch die Bearbeitungszeiten von Anträgen in der Ausländerbehörden werden sich sehr wahrscheinlich noch weiter verlängern.
Fragwürdig erscheint uns auch, dass die Ausländerbehörden ab sofort – trotz der Standardsicherheitsabfrage – bei der Prüfung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG berechtigt sind, „eine persönliche Befragung“ durchzuführen, „um bestehende Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Bekenntnisses auszuschließen oder bestätigen zu können.“ Genauso fragwürdig erscheint es, dass – trotz der Standardsicherheitsabfrage bei der Prüfung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG „bestehende Zweifel, die nicht durch die Sicherheitsbehörden und Nachrichtendienste bestätigt werden können, […] ggf. im Rahmen der anzustellenden Integrationsprognose angemessen gewürdigt“ werden. Beides wirft zum einen die Frage auf, anhand welcher Erkenntnisse die Ausländerbehörden die „Verfassungstreue“ der Anragssteller*innen besser einschätzen können sollen als die Sicherheitsbehörden. Zum anderen zeigt es, dass die Antragsteller*innen im Zweifel – trotz positiver Sicherheitsabfrage – das Nachsehen haben. Weder für die Durchführung der „persönlichen Befragung“ noch die „angemessene Würdigung der Zweifel“ werden weitere Hinweise erteilt, sodass hier Rechtunsicherheit und große Unterschiede in der Praxis bei den einzelnen Ausländerbehörden drohen.
3. Keine Erleichterung bei der Identitätsklärung
In der Praxis kommt es regelmäßig dazu, dass es geduldeten Personen nicht möglich ist, ihre Identität mit einem Pass nachzuweisen sowie die Passpflicht zu erfüllen. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Manche waren nie in ihrem Herkunftsstaat registriert. Andere sind zwar registriert, kommen allerdings nicht an die Unterlagen – z.B. Geburtsurkunden – heran, die zur Identitätsklärung oder Passbeschaffung erforderlich sind. Auch scheitert die Identitätsklärung oder Passbeschaffung häufig an der fehlenden Mitwirkung der Botschaften der Herkunftsstaaten.
Um die Identitätsklärung zu vereinfachen und zu beschleunigen, hat das Bundesverwaltungsgericht bereits im Jahr 2020 das sogenannte Vier-Stufen-Modell entwickelt. Nach diesem Modell sind, sofern ein Pass trotz aller objektiv möglichen und subjektiv zumutbaren Bemühungen nicht beschafft werden kann, auf der zweiten Stufe andere geeignete amtliche Urkunden von den Ausländerbehörden zur Identitätsklärung zuzulassen. Falls auch solche Urkunden nachweislich nicht besorgt werden können, sollen die Ausländerbehörden auf der dritten Stufe auf andere aussagekräftige Beweismittel zurückgreifen. Sofern – trotz Vornahme aller zumutbaren Aktivitäten – auch keine aussagekräftigen Beweismittel zur Verfügung stehen, ist es auf der vierten Stufe ausreichend, dass die Betroffenen eine entsprechende eidesstattliche Versicherung abgeben.
In der Praxis wird das Vier-Stufen-Modell – soweit ersichtlich – von kaum einer Ausländerbehörde angewendet. Vielmehr beharren die Ausländerbehörden darauf, dass die Vorlage eines Passes für die Identitätsklärung zwingend ist. Nur vereinzelt werden auch andere Identitätsdokumente akzeptiert und von der gesetzlichen Möglichkeit Gebrauch gemacht, den Aufenthaltstitel als Ausweisersatz auszustellen. Trotz der eindeutigen Rechtsprechung wurde auch diesmal nur eine Empfehlung hinsichtlich der Anwendung des Vier-Stufen-Modells im Fall der Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit aufgenommen. Damit die Anwendung des Vier-Stufen-Modells in der ausländerbehördlichen Praxis auch tatsächlich erfolgt, haben wir die Aufnahme nachfolgender Regelung vorgeschlagen:
„In Fällen, in denen kein (abgelaufener) Pass oder anderes (abgelaufenes) Identitätsdokument mit Lichtbild vorgelegt und auch nicht zumutbar beschafft werden kann, kann die Identität auch durch andere geeignete Mittel nachgewiesen werden. Die Ausländerbehörden sind in diesen Fällen gehalten, dass Vier-Stufen-Modell, das vom Bundesverwaltungsgerichts beschrieben wurde (Urteil vom 23.09.2020 – 1 C 36.19), anzuwenden.“
Wenig positives
Positiv zu bewerten ist aus Sicht des Flüchtlingsrats, dass die Anwendungshinweise die Hinweis- und Anstoßpflichten der Ausländerbehörden festhalten und konkretisieren. Dies ist bedeutend, weil die betroffenen Personen die Rechtslage in aller Regel nicht kennen und dementsprechend überhaupt nicht wissen, was die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sind.
So sind die Ausländerbehörden ab jetzt gehalten, die betroffenen Personen auf die Regelungen des § 25a bzw. § 25b AufenthG hinzuweisen und ihnen – „z. B. im Rahmen einer Duldungsverlängerung oder zur Konkretisierung eines Antrages im Rahmen des § 104 c AufenthG – ggf. auch eine Antragstellung zu empfehlen. Doch auch die neu eingefügten Hinweis- und Anstoßpflichten leiden unserer Auffassung nach an einem Makel: Unsere Anregung, dass die Ausländerbehörden, sofern einzelne Voraussetzungen für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis (noch) nicht vorliegen, diese benennen und die betroffenen Personen über zivilgesellschaftliche Organisationen und Stellen, die eine aufenthaltsrechtliche Beratung anbieten, informieren sollen, hat leider nur als Empfehlung und nicht als Verpflichtung seinen Weg in die Anwendungshinweise gefunden.
Zudem ist es positiv, dass (zumindest) die Anwendungshinweise zu § 25b AufenthG – wie von uns vorgeschlagen – klarstellen, dass neben dem Engagement in einem Verein auch „ein besonderes Engagement in zivilgesellschaftlichen Initiativen, Gruppen oder als Einzelperson“ eine Integrationsleistung von vergleichbarem Gewicht darstellen kann, das bei einer Einzelfallbetrachtung mit berücksichtigt werden soll. Weshalb einen entsprechende Regelung nicht in die Anwendungshinweise zu § 25a AufenthG aufgenommen wurde, um weitere Merkmale einer positiven Integration zu konkretisieren, ist unverständlich.
Im Hinblick auf den Nachweis des tatsächlichen Schulbesuchs (§ 25a Abs. 1 S. 1 Nr. 5 AufenthG) wurde unsere Anregung ebenfalls beachtet. So sind nunmehr „positive Entwicklungen in Bezug auf den Schulbesuch und die schulischen Leistungen zugunsten der potentiell berechtigten Personen wohlwollend“ von den Ausländerbehörden mit einzubeziehen.
Wenn Sie individuell Beratung und Unterstützung brauchen, wenden Sie sich bitte an ...