Der Flüchtlingsrat kritisiert die Einführung einer Bezahlkarte in Niedersachsen: Wieder einmal werden Asylsuchende durch die Form der Leistungsgewährung diskriminiert und damit symbolpolitisch ausgegrenzt. Die offizielle Begründung für diese Maßnahme wurde von der einschlägigen Migrationsforschung grundsätzlich in Zweifel gezogen: Es gibt keine belastbaren Zahlen über Auslandsüberweisungen von Asylsuchenden, und es gibt keine Hinweise auf einen Missbrauch der Sozialleistungen. Darum geht es bei der Bezahlkarte aber auch gar nicht: Mit der Einführung der Bezahlkarte demonstriert die Politik, dass sie „etwas gegen Geflüchtete tut“. Die Maßnahme zielt insofern auch nicht auf die Geflüchteten – auch wenn sie darunter leiden werden -, sondern vor allem auf die öffentliche Meinung. Die Politik will „Handlungsfähigkeit“ demonstrieren. Die Einführung der Bezahlkarte stellt dabei nur einen Baustein der von Bund und Ländern verfolgten Abschreckungs- und Ausgrenzungspolitik dar, ein weiterer sind Leistungskürzungen.
Grundlage der Bezahlkarte ist – ebenso wie die Ausgabe von Papiergutscheinen – die „Konstruktion von Differenz“: Die Politik rechtfertigt eine ungleiche, benachteiligende und ausgrenzende Behandlung einer Gruppe von Menschen ohne sachlich gerechtfertigten Grund – und genau das ist Diskriminierung. Das haben wir in unzähligen Stellungnahmen verdeutlicht. Weder unsere Erläuterungen, noch unsere Petition, noch unser Hinweis auf den offenkundigen Widerspruch zum Koalitionsvertrag hat die Landesregierung dazu bewegen können, auf ihr Vorhaben zu verzichten. Innenministerin Behrens hatte zuletzt die Einführung einer Bezahlkarte mit der Verringerung des Verwaltungsaufwandes begründet. Wenn dies tatsächlich das vorrangige Argument wäre, dann würde die Stadt Hannover nicht genötigt werden, ihre diskriminierungsfreie SocialCard durch die Bezahlkarte mit all den damit verbundenen Restriktionen zu ersetzen. Bezeichnend ist auch, dass eine Digitalisierung von Leistungen ausgerechnet in dem Bereich nicht umgesetzt wurde, in dem sie zur Überwindung von Diskriminierungen überfällig gewesen wäre: Die verpflichtende Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte für alle Schutzsuchenden wird vom Land bis heute verweigert.
Die bisherigen Erfahrungen mit der Bezahlkarte zeugen von einer breiten Palette von Problemen, die den Betroffenen daraus erwachsen (siehe News von PRO ASYL).
Ironie der Geschichte: Zehn Jahre, nachdem eine rot-grüne Landesregierung die Verpflichtung zur Ausgabe diskriminierender „Gutscheine“ an Schutzsuchende beendet hat (siehe Solitausch – Bargeld statt Wertgutscheine (2012-2013)), führt eine rot-grüne Landesregierung eine diskriminierende „Bezahlkarte“ für Schutzsuchende ein. Zu konstatieren ist, dass die Grünen sich bis zuletzt gegen die Einführung einer Bezahlkarte eingesetzt haben, aber sich gegen das in dieser Frage zuständige Innenministerium nicht durchsetzen konnten. Die Einführung der Bezahlkarte lässt sich die Landesregierung cirka eine Millionen Euro kosten.
Ob der Verwaltungsaufwand mit der Bezahlkarte abnimmt, bleibt abzuwarten: Sozialgerichte haben festgestellt, dass der Bargeldbedarf individuell ermittelt werden muss und nicht pauschal auf 50,-/Monat und Person begrenzt werden darf. Es wird also zu zahlreichen Anträgen an die Sozialämter durch Geflüchtete kommen, die ihren individuellen Bedarf an Bargeld geltend machen wollen. Ohnehin ist zu erwarten, dass früher oder später das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit der Leistungskürzungen und Schikanen feststellen wird. Auch die Bezahlkarte wird faktisch die Lebenshaltungskosten für Geflüchtete erhöhen und damit die in den ersten 36 Monaten ohnehin bereits um ca. 20% geringeren Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz noch deutlicher unter das verfassungsrechtlich vorgeschriebene Existenzminimum drücken.
Es wird jetzt darum gehen, in den Kommunen einen solidarischen Umtausch zu organisieren, um die Härten der Bezahlkarte etwas abzufedern und Geflüchtete bei der Durchsetzung ihrer Rechte zu unterstützen.
Wie könnte man einen solchen solidarischen Umtausch organisieren? Gehe ich mit Geflüchteten in einen Supermarkt, lasse sie mit ihrer Karte meinen Einkauf bezahlen und zahle sie aus?
Liebe Frauke B.,
die Erfahrungen aus München und Hamburg (s. https://www.nds-fluerat.org/aktionen/aktionsseite-gegen-die-diskriminierende-bezahlkarte-in-niedersachsen-und-anderswo/#praktisch-werden-solidarische-tauschaktionen-organisieren) zeigen, dass es klug ist, lokale Netze aufzubauen und Orte zu schaffen, an denen a) Unterstützer*innen Geld einzahlen und dafür (ggfls. später) Gutscheine (von ALDI, LIDL; dm, Edeka,…) erhalten und b) Orte zu schaffen, an denen Geflüchtete Gutscheine (von ALDI, LIDL; dm, Edeka,…), die sie von ihrer Bezahlkarte gekauft haben, gegen Bargeld eintauschen.
Aktuell erstellen wir im niedersächsischen Netzwerk gegen die Bezahlkarte ein „howto Aufbau einer Umtauschinitiative“. Über unsere „Aktionsseite Bezahlkarte“ (https://www.nds-fluerat.org/aktionen/aktionsseite-gegen-die-diskriminierende-bezahlkarte-in-niedersachsen-und-anderswo/) können sie sich dazu gerne auf dem laufenden halten.