Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 04. Oktober 2024 ein wichtiges Urteil für den Schutz von Frauen aus Afghanistan gefällt. Die systematische Unterdrückung von Frauen durch das Taliban-Regime könne generell als Verfolgung eingestuft werden. Bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft müsse daher nicht geprüft werden, welche spezifischen Verfolgungshandlungen den Antragstellerinnen drohen. Es reiche aus, das Geschlecht und die Staatsangehörigkeit zu überprüfen, um Frauen aus Afghanistan Flüchtlingsschutz zu gewähren. Der Paritätische schreibt dazu:
„Seit Machtübernahme der Taliban wurden die Rechte von Frauen und Mädchen in nahezu allen Lebensbereichen in Afghanistan immer weiter massiv eingeschränkt. Frauen dürfen sich nicht allein in der Öffentlichkeit bewegen, sie unterliegen strengen Kleiderordnungen, sie dürfen keine weiterführenden Schulen besuchen, sie unterliegen Berufsverboten, sind einer schlechten medizinischen Versorgung ausgesetzt, ihnen wird die Teilhabe am politischen Leben verwehrt und vieles mehr. Die Zahl der Zwangsverheiratungen ist stark angestiegen. Rechtsschutz und Hilfsmechanismen vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt wurden erheblich verringert.[1]
Ein Großteil dieser diskriminierenden Maßnahmen rechtfertigten bei einer individuellen Prüfung auch schon bisher eine Anerkennung als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und der EU-Qualifikations-Richtlinie. Da diese Diskriminierungen jedoch in ihrer Gesamtheit so massiv und alltäglich sind, hat der EuGH mit seinem Urteil[2] vom 4. Oktober 2024 (verbundene Rechtssachen C‑608/22 und C‑609/22, AH und FN gegen Österreich) entschieden, dass der diskriminierende Umgang des Talibane-Regimes mit Frauen in Afghanistan insgesamt als Verfolgung einzustufen ist. Der EuGH stellt fest, dass die kumulative Wirkung der diskriminierenden Maßnahmen die durch Art. 1 der Charta der Grundrechte der EU gewährleistete Wahrung der Menschenwürde beeinträchtigt. Durch diese systematische Unterdrückung können Frauen generell als eine verfolgte Gruppe verstanden werden.
Des Weiteren sei die für Asylverfahren zuständige nationale Behörde (in Deutschland das BAMF) nicht verpflichtet, bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft festzustellen, dass einer Antragstellerin bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen drohen. Die persönlichen Umstände einer Antragsstellerin sind in diesem Sinne nicht relevant. Es reicht vielmehr aus das Geschlecht und die Staatsangehörigkeit zu berücksichtigen, um eine Verfolgung anzunehmen. Damit wären die Voraussetzungen des Flüchtlingsschutzes erfüllt. Frauen, die unter den Taliban in Afghanistan lebten und in Deutschland (bzw. in der Europäischen Union) Schutz suchen, haben somit einen Anspruch auf Flüchtlingsschutz im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und der Qualifikations-Richtlinie. Aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Staatsangehörigkeit haben sie sehr gute Aussichten auf einen positiven Bescheid.“
[1] Quelle: siehe u.a. www.amnesty.de/informieren/laender/afghanistan sowie International Commission of Jurists, amnesty international (2023): The Taliban’s war on women. The crime against humanity of gender persecution in Afghanistan, www.amnesty.ch/de/laender/asien-pazifik/afghanistan/dok/2023/behandlung-von-frauen-und-maedchen-durch-taliban-ist-moeglicherweise-verbrechen-gegen-die-menschlichkeit/taliban-war-on-women_icj-ai-afghanistan-report_final.pdf
[2] Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 4. Oktober 2024, Verbundene Rechtssachen C-608/22 und C-609/22: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:62022CJ0608
Das Büro der Landesbeauftragten für Flüchtlings-, Asyl- und Zuwanderungsfragen Schleswig-Holstein hat zu dem Thema eine Handreichung für die Beratungspraxis erstellt. Darin wird auch auf die Frage eingegangen, was das Urteil für weibliche Geflüchtete aus Afghanistan bedeutet, die bislang keinen Flüchtlingsschutz erhalten haben. Wörtlich führt die Broschüre aus:
„Für alle in Deutschland lebende Frauen und Mädchen mit nationalem Abschiebungsverbot (Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 3 AufenthG) oder subsidiärem Schutz (Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative AufenthG) empfiehlt es sich, einen Asylfolgeantrag nach § 71 AsylG zu stellen. Sie würden nach erfolgreichem Folgeverfahren eine Flüchtlingseigenschaft und eine Aufenthaltserlaubnis erhalten (§ 25 Absatz 2 Satz 1 erste Alternative AufenthG). Ein Folgeantrag mit Verweis auf dieses Urteil ist nicht möglich, wenn in einem anderen EU-Staat ein Schutzstatus erteilt wurde und diesbezüglich eine Duldung oder ein Abschiebungsverbot besteht. „
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