Vertreibung durch soziale Exklusion

von Claudius Voigt, GGUA Münster

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Die Pläne zu Leistungsausschlüssen in Dublin-Fällen folgen einer rechten Agenda, den Sozialstaat immer weiter unter Nationalvorbehalt zu stellen.
Was sagen EU- und Verfassungsrecht dazu?

Der Autor Leo Fischer formuliert es treffend: „Nach einem schrecklichen Mord beruhigt es mich immer zu wissen, dass zum Ausgleich Unbeteiligten die Sozialleistungen gestrichen werden.“

Der furchtbare, mutmaßlich islamistische Mordanschlag von Solingen wird momentan für ganz viele Vorschläge genutzt: Ein christdemokratischer Spitzenpolitiker ruft wutbürgernd die „nationale Notlage“ aus und zum Bruch des Grundgesetzes, des EU-Rechts, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention auf. Politiker*innen fast aller Couleur überbieten sich mit ihren Forderungen nach noch mehr und noch schnelleren Abschiebungen. Und: Für eine ganze Gruppe von Menschen, nämlich Menschen im Dublin-Verfahren, sollen die Sozialleistungen pauschal gestrichen oder gekürzt werden.

Sozialleistungskürzungen als Mittel gegen Terror? Logisch! „Ich will den Druck erhöhen, dass diejenigen, die kein Bleiberecht haben, aus Deutschland auch tatsächlich ausreisen. Im Übrigen können wir dem deutschen Steuerzahler dadurch viel Geld ersparen, wenn wir den Magnetismus unserer Sozialleistungen abschalten,“ sagt Christian Lindner am 28. August. Er mag die Magnet-Metapher, die auch in rechtsradikalen Kreisen beliebt ist. Schon im Oktober 2023 sagte er, dass der deutsche Sozialstaat „mit seinen im europäischen Vergleich sehr hohen Leistungen wie ein Magnet wirkt.“ Das müsse abgeschaltet werden. Ebenfalls im Oktober 2023 veröffentlichte er zusammen mit FDP-Justizminister Buschmann in der „Welt am Sonntag“ einen Gastbeitrag, in dem die beiden ausführlich darlegen, wie aus ihrer Sicht Sozialleistungen für Geflüchtete gekürzt und gestrichen werden könnten.

Die rechtswissenschaftliche Grundlage für diese Agenda von Neoliberalen und Konservativen, den Sozialstaat noch weiter unter Nationalvorbehalt zu stellen (und auch ansonsten zu beschneiden), bildet ein Gutachten des Konstanzer Juristen Daniel Thym, das dieser im September 2023 für die Unionsfraktion im Bundestag erstellt hatte. Darin setzt sich Thym mit „rechtlichen Spielräumen zur Einschränkung von Asylbewerberleistungen und sonstiger Sozialleistungen für Personen mit Fluchthintergrund sowie der Ausweitung des Sachleistungsprinzips“ auseinander.

Das Gutachten gibt konkrete Handlungsempfehlungen, an welchen Stellen Sozialleistungen unter anderem für Asylsuchende und Geduldete gekürzt oder ganz gestrichen werden können. Unter anderem schlägt er darin auch eine Verfassungsänderung vor, die die Geltung des Gleichheitsgrundsatzes und den Anspruch auf die Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums für Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit relativieren soll. Diesen und andere Vorschläge übernahm die CDU/CSU stantepede und brachte einen entsprechenden Antrag im Bundestag ein. Auch die Kürzung bzw. Streichung der Leistungen für Dublin-Fälle ist in dem Gutachten ausführlich Thema.

Man hat den Eindruck: Die rechte Agenda, den sozialstaatlichen Gewährleistungsanspruch für Nicht-Deutsche schrittweise zu schleifen, soll nun Schritt für Schritt abgearbeitet werden. Die ersten Diskriminierungsvorhaben durch Einführung der Bezahlkarte und Verlängerung des niedrigeren Grundleistungsbezugs nach § 3 AsylbLG sind schon abgehakt worden. Nun stehen die Leistungskürzungen bzw. -streichungen für Dublin-Fälle als nächstes auf der noch langen TOP-Liste.

Die FDP hat die Sozialleistungskürzungen letzte Woche in der Bundesregierung durchgesetzt: Sie haben Eingang in ihr „Sicherheitspaket“ als Reaktion auf den mutmaßlichen Terroranschlag gefunden – als hätten soziale Ausschlüsse auch nur einen Hauch mit „Sicherheit“ zu tun. Die Umdeutung der Tatsachen wirkt. Im Kern geht es um ein Downgrading des Niveaus der sozialen Absicherung mit dem Ziel, es in Deutschland mindestens genauso mies zu machen wie in vielen anderen EU-Staaten, aus denen Menschen wegen der Gefahr von Verelendung weiterfliehen. Daniel Thym bezeichnet das in seinem Gutachten als die Beendigung des „Gold-Plating“. Man könnte es auch nennen: Vertreibung durch soziale Exklusion. Deutschland hat schon langjährige Erfahrung mit diesem Instrument, wenn es um die Behandlung nicht-erwerbstätiger Unionsbürger*innen geht.

  1. Was hat die Bundesregierung bei den Leistungen in Dublin-Fällen eigentlich konkret vor?

Das noch nicht so ganz klar. In dem „Sicherheitspaket“ heißt es:

„Für Schutzsuchende, die ihr Asylverfahren in anderen Mitgliedsstaaten betreiben müssen (Dublin-Fälle) und für den Fall ihrer Rückkehr dort Leistungsansprüche haben, weil der betreffende Mitgliedsstaat dem Übernahmeersuchen zugestimmt hat, soll der weitere Bezug von Leistungen in Deutschland ausgeschlossen werden. Dabei gewährleisten wir einen menschenwürdigen Umgang mit allen Betroffenen. Die bereits bestehenden Möglichkeiten zu Leistungskürzungen werden wir für Dublin-Fälle entsprechend erweitern.“

Einerseits ist von „Ausschlüssen“ die Rede, andererseits von „Kürzungen“. Daraus ergeben sich rechtlich zwei Möglichkeiten:

  • Zum einen könnten die bestehenden Leistungskürzungen (Streichung des sozialen Existenzminimums) gem. 1a Abs. 7 AsylbLG ausgeweitet werden. Bereits jetzt sieht dieser Paragraf eine Kürzung auf das physische Existenzminimum (also Ernährung, Unterkunft, Körperpflege und eingeschränkte Krankenbehandlung) in Dublin-Fällen vor. Dies gilt allerdings nur für Personen, die noch eine Aufenthaltsgestattung haben (bei denen der Unzulässigkeitsbescheid also noch nicht vollziehbar ist, weil die einwöchige Rechtsmittelfrist oder das Gerichtsverfahren noch läuft) oder die vollziehbar ausreisepflichtig sind, aber (oft rechtswidrig) keine Duldung erhalten. Wenn die Personen eine Duldung besitzen, darf bislang nicht gekürzt werden. Es wäre denkbar, dass die Bundesregierung diese Leistungskürzung auf Geduldete ausweiteten will.
  • Denkbar ist aber auch, dass für Dublin-Fälle eine vollständige Leistungsstreichung geplant ist. Dieses Instrument sieht 1 Abs. 4 AsylbLG bereits vor für Personen, die in einem anderen EU-Staat einen Schutzstatus haben und in Deutschland vollziehbar ausreisepflichtig sind, aber (ebenfalls meist rechtswidrig) keine Duldung erhalten. In diesem Fall sind nur zweiwöchige Überbrückungsleistungen vorgesehen im Umfang von § 1a. Nur in Härtefällen muss der Umfang der Leistungen erweitert und / oder die Dauer verlängert werden. Dieses Instrument kennen wir von Unionsbürger*innen, die von regulären Leistungen ausgeschlossen sind. Die (oft unzutreffende) Idee dahinter ist, dass es den Betroffenen jederzeit möglich und zumutbar sei, in den anderen EU-Staat zurückzukehren und dort Leistungen fürs Existenzminimum zu beziehen. Möglicherweise will die Bundesregierung dieses Konstrukt auf Dublin-Fälle ausweiten.

 

  1. Wäre das mit geltendem EU-Recht vereinbar?

Nach aktuellem Stand vermutlich nicht.

Geklärt ist: Auch in Dublin-Fällen ist die EU-Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU) anwendbar. Dies gilt auch dann, wenn festgestellt wurde, dass ein anderer Mitgliedsstaat für das Asylverfahren zuständig ist. Weil das Asylverfahren im ursprünglichen Mitgliedsstaat noch nicht abgeschlossen ist, gelten die Betroffenen weiterhin als „Asylantragstellende“ und können sich auch im unzuständigen Mitgliedsstaat auf die Garantien aufgrund der Aufnahmerichtlinie berufen, etwa auf das Recht zu arbeiten oder auf die Mindeststandards für materielle Leistungen. Dies gilt bis zur tatsächlichen Überstellung in den anderen Mitgliedsstaat (EuGH, Urteil vom 14. Januar 2021; C‑322/19 und C‑385/19; eine sehr gute Analyse dazu gibt es im Asylmagazin von Heiko Habbe hier).

Die Richtlinie sieht vor, dass Leistungen erbracht werden müssen, die „ein menschenwürdiges Leben ermöglichen und vergleichbare Lebensbedingungen in allen Mitgliedstaaten gewährleisten“ (Erwägungsgrund Nr. 11 RL 2013/33/EU). Den Maßstab für ein menschenwürdiges Leben müssen dabei logischerweise die Verhältnisse im Aufenthaltsstaat bilden. Art. 2 Buchstabe g) RL 2013/33/EU definiert als Mindeststandard

„Unterkunft, Verpflegung und Kleidung (…) sowie Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs“.

Mit letzteren dürfte (jedenfalls auch) das soziale Existenzminimum gemeint sein. Insofern gehen die garantierten Leistungen über das physische Existenzminimum hinaus.[1] Dafür spricht auch Art. 17 Abs. 2 RL 2013/33/EU, der verlangt, dass die „Leistungen einem angemessenen Lebensstandard entsprechen, der den Lebensunterhalt sowie den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit von Antragstellern gewährleistet.“ Bei Geldleistungen oder Gutscheinen bemisst sich gem. Art. 17 Abs. 5

„deren Umfang auf Grundlage des Leistungsniveaus, das der betreffende Mitgliedstaat nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder nach den Gepflogenheiten anwendet, um eigenen Staatsangehörigen einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten.“

 Ein Unterschreiten dieses Niveaus ist nur eingeschränkt zulässig, etwa wenn teilweise Sachleistungen erbracht werden oder ein tatsächlich geringerer Bedarf besteht. Aus dem Begriff „angemessener Lebensstandard“ ergibt sich, dass die Leistungen wohl kaum auf die Sicherung der rein physischen Existenz reduziert werden darf. „Bett, Brot, Seife“ haben mit einem angemessenen Lebensstandard erkennbar nichts zu tun, sondern sind das absolute Minimum, das auch bei Sanktionen eingehalten werden müsste. Die medizinische Versorgung muss gem. Art. 19 mindestens eine Notfallbehandlung, bei Personen mit besonderen Bedürfnissen die „erforderliche medizinische und sonstige Hilfe“ umfassen.

Nur in „begründeten Ausnahmefällen“ dürfen die Leistungen gem. Art. 20 gekürzt oder entzogen werden. Als abschließende Auflistung werden als Kriterien genannt: Verletzung der Residenzpflicht, Verstoß gegen Melde-, Auskunfts- und Erscheinenspflichten und das Stellen eines „Folgeantrags“. Eine pauschale Kürzung für bestimmte Personengruppen ist unzulässig. Ebenso muss stets eine begründete Einzelfallentscheidung unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit getroffen werden. Die Kürzung nach § 1a Abs. 7 AsylbLG erfüllt all diese Voraussetzungen nicht.

Zusammengefasst heißt das:

Eine Leistungskürzung für Dublin-Fälle nach § 1a AsylbLG dürfte unionsrechtswidrig sein – und zwar sowohl die bereits bestehende nach § 1a Abs. 7 AsylbLG, als auch eine mögliche Ausweitung auf geduldete Dublin-Fälle. Erst recht gilt das natürlich für einen vollständigen Ausschluss gem. § 1 Abs. 4 AsylbLG.

Allerdings: Der EuGH hat dies bezogen auf die Leistungshöhe in Deutschland noch nicht abschließend entschieden. Das Bundessozialgericht hat daher am 25. Juli 2024 (B 8 AY 6/23 R) dem EuGH mehrere Fragen zur Leistungskürzung nach § 1a Abs. 7 AsylbLG zur Entscheidung vorgelegt. Es möchte unter anderem vom EuGH wissen,

  • ob die Beschränkung auf das physische Existenzminimum mit Art. 17 Absatz 2 und Absatz 5 Richtlinie 2013/33/EU zu vereinbaren ist und
  • und ob Personen im Dublin-Verfahren als „Folgeantragsteller*innen“ gelten, obwohl der erste Asylantrag im anderen EU-Staat noch gar nicht entschieden ist und deshalb Kürzungen zulässig wären
  • Auch die Frage, ob die zwingende und gleichsam automatische Leistungskürzung in § 1a Abs. 7 AsylbLG mit dem von der Aufnahmerichtlinie vorgeschriebenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der Pflicht zur abgewogenen Einzelfallentscheidung und der Berücksichtigung besonderer Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen zu vereinbaren ist, soll der EuGH entscheiden.

Es spricht wie dargestellt viel dafür, dass der EuGH die Leistungskürzung für unzulässig erklären wird. Allein: Das wird nicht mehr viel nützen. Denn mittlerweile gibt es im Rahmen des GEAS eine Neufassung der Aufnahmerichtlinie (RL (EU) 2024/1346), die bis spätestens 11. Juni 2026 umzusetzen sein wird. Und diese sieht für Dublin-Fälle auch neue – deutlich schlechtere – Regelungen zum Sozialleistungsanspruch vor.

Die Bundesregierung will offenbar mit der geplanten Gesetzesänderung die Umsetzung der neuen Richtlinie, zumindest in diesem Punkt, vorziehen.

 

  1. Ist eine Leistungskürzung oder -streichung mit künftigem EU-Recht zu vereinbaren?

Das ist schwer zu beantworten – vermutlich nur sehr eingeschränkt.

Der Hintergrund ist: Durch das GEAS sind eine ganze Reihe neuer Verordnungen und eine neue Richtlinie verabschiedet worden (eine Zusammenstellung mit Verlinkungen gibt es hier beim Informationsverbund Asyl und Migration).

Darin enthalten sind unter anderem die Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung (Verordnung (EU) 2024/1351) als Nachfolgerin der bisherigen Dublin-III-VO sowie die genannte neue Aufnahmerichtlinie (Richtlinie (EU) 2024/1346). Diese Richtlinie ist von den jeweiligen Mitgliedsstaaten „bis zum 21. Juni 2026“ umzusetzen, kann aber ganz oder teilweise wohl auch schon vorher umgesetzt werden. Darauf setzt offenbar die Bundesregierung.

Die neue Aufnahmerichtlinie sieht in Art. 21 vor, dass Betroffene ab der Zustellung der Überstellungs-Entscheidung „keinen Anspruch auf die im Rahmen der Aufnahme gewährten Vorteile gemäß den Artikeln 17 bis 20“ im unzuständigen Mitgliedsstaat mehr haben. Darunter fallen der Zugang zum Arbeitsmarkt (Art. 17), der neu eingeführte Zugang zu Sprachkursen (Art. 18) und der Anspruch auf materielle Leistungen (Art. 20 und 21). Allein der Anspruch auf Gesundheitsversorgung bleibt unabhängig davon aufrechterhalten (Art. 22). Diese kann auf eine Notversorgung beschränkt bleiben. Neu ist jedoch, dass Minderjährige immer einen Anspruch auf eine uneingeschränkte Gesundheitsversorgung haben, ebenso wie Antragstellende mit besonderen Bedürfnissen.

Dies könnte man so lesen, dass (bis auf die Gesundheitsversorgung) sogar ein vollständiger Leistungsausschluss zulässig wäre. Dies ist aber falsch. Denn Art. 21 S. 2 schreibt die Pflicht vor,

„einen Lebensstandard im Einklang mit dem Unionsrecht, einschließlich der Charta, und internationalen Verpflichtungen sicherzustellen.“

Dies bedeutet, dass insbesondere die EU-Grundrechtecharta (GRCh) stets berücksichtigt werden muss. Demnach muss zumindest stets gewährleistet sein, die „elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden“. Es darf keine Situation entstehen, die die „physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre“. Dies hat der EuGH im Hinblick auf Art. 4 GRCh entschieden (EuGH, u.a. Urteil vom 19. März 2019; C‑163/17). Dieser „Standard“ wird gelegentlich etwas zynisch als „Bett, Brot, Seife“ bezeichnet, was in Deutschland jedoch prinzipiell dem rein physischen Existenzminimum nach § 1a AsylbLG entsprechen dürfte.

Der EuGH hat in einer anderen Entscheidung mit Bezugnahme auf Art. 1 GRCh zusätzlich untersagt, dass „Unterkunft, Verpflegung und Kleidung (…) auch nur zeitweilig entzogen werden, weil diese Sanktion dem Antragsteller die Möglichkeit nähme, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen.“ Dabei seien stets „unter allen Umständen (…) insbesondere die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und die Achtung der Menschenwürde, zu beachten.“ (EuGH, Urteil vom 12. November 2019; C‑233/18).

Und in einer Sozialhilfeangelegenheit in Großbritannien hat der EuGH entschieden, dass die Verweigerung von Leistungen nicht dazu führen darf, dass dies die Betroffenen „einem konkreten und gegenwärtigen Risiko der Verletzung ihrer Grundrechte, wie sie in den Artikeln 1, 7 und 24 der Charta verbürgt sind, aussetzt.“ Die Behörden haben sich daher zu vergewissern, „dass er im Falle der Nichtgewährung von Sozialhilfe mit seinen Kindern dennoch unter würdigen Umständen leben kann.“ Insbesondere der Vorrang des Kindeswohls und der Schutz des Privat- und Familienlebens ist dabei vorrangig zu berücksichtigen (EuGH, Urteil vom 15. Juli 2021; C‑709/20; eine gute Analyse dieses Urteils gibt es von Constanze Janda hier).

Aus alledem ergibt sich:

  • Ein vollständiger Leistungsausschluss ist auch nach neuem EU-Recht eindeutig unzulässig. Im Falle eines Leistungsausschlusses gem. § 1 Abs. 4 AsylbLG würde im Rahmen einer unionsrechtskonformen Auslegung über die Härtefallregelung mindestens ein Anspruch auf Ernährung, Unterkunft, Kleidung und Gesundheitsversorgung über zwei Wochen hinaus bis zur tatsächlichen Ausreise bestehen.
  • Das physische Existenzminimum muss in jedem Fall gesichert werden, denn dies umfasst nicht mehr als „Bett, Brot, Seife“. Dies würde einer Leistungskürzung nach § 1a AsylbLG entsprechen.
  • Selbst diese Leistungskürzung könnte jedoch unionsrechtlich unzulässig sein: Denn § 1a AsylbLG berücksichtigt weder die Besonderheiten des Einzelfalls noch sieht er eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor (§ 1a Abs. 7 AsylbLG ist gleichsam ein Automatismus). Diese aber verlangt der EuGH bei der Prüfung des Mindestschutzniveaus gemäß GRCh.
  • Für Kinder (Vorrang des Kindeswohls) und andere schutzbedürftige Personen mit besonderen Bedürfnisse wäre die pauschale Kürzung per se unzulässig.
  • Die Gesundheitsversorgung darf für Kinder und schutzbedürftige Personen nicht eingeschränkt werden (Art. 22 Richtlinie (EU) 2024/1346). § 1a AsylbLG sieht jedoch keine Rückgriffsmöglichkeit auf § 6 AsylbLG vor. Daher ist die Anwendung der Regelung des § 1a AsylbLG auch in dieser Hinsicht unzulässig.
  • Und überhaupt: Es ist wohl kaum denkbar, dass Deutschland ernsthaft vorhat, Menschen nach dem Dublin-Bescheid aus den Unterkünften in die Obdachlosigkeit zu werfen und sie von der Verpflegung auszuschließen und der Verelendung Sozialpolitisch wäre das ein absoluter Skandal!

  1. Ist eine Leistungskürzung oder -streichung mit dem Grundgesetz zu vereinbaren?

Ziemlich sicher: Nein.

Leider reicht es nicht mehr aus, sich nur noch auf das Urteil des BVerfG vom 18. Juli 2012 (1 BvL 10/10) zum AsylbLG zu berufen, in dem es festgestellt hat: „Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“ Zwar gilt weiterhin, dass das menschenwürdige Existenzminimum stets und ungeteilt (also sowohl das physische als auch das soziale) gewährleistet werden muss. Aber zwischenzeitlich haben die obersten Gerichte diesen Grundsatz häppchenweise relativiert und ein paar Entscheidungen dazu getroffen, wann doch Leistungen gekürzt oder sogar ganz gestrichen werden könnten.

Da ist zum einen das Urteil zu den SGB-II-Sanktionen vom 5. November 2019 (1 BvL 7/16). Darin hat das BVerfG formuliert, dass im SGB II selbst eine vollständige Leistungsstreichung zulässig sein könnte, wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II) ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern.“ (Rn. 209)

Diese Argumentation wird in der gegenwärtigen politischen und juristischen Diskussion immer stärker übertragen auf das AsylbLG oder auch auf die Situation von ausgeschlossenen EU-Bürger*innen: Im Kern lautet das Argument: Die Ausreise und danach der Leistungsbezug im anderen EU-Staat gehören zu den „Sebsthilfeobliegenheiten“ – wie die Annahme einer konkreten Arbeitsstelle. Durch die mögliche, zumutbare und unmittelbar durchführbare Ausreise könnte man ja den Leistungsbezug in Deutschland vermeiden. Somit habe man es selbst in der Hand, jederzeit wieder in den Bezug existenzsichernder Leistungen zu gelangen – wenn auch nicht in Deutschland.

Das Bundessozialgericht hat in einem Urteil zu EU-Bürger*innen in diese Richtung entschieden (BSG, Urteil vom 29.03.2022, B 4 AS 2/21 R):

„In entsprechender Weise darf der Gesetzgeber Unionsbürger regelmäßig darauf verweisen, die erforderlichen Existenzsicherungsleistungen durch die Inanspruchnahme von Sozialleistungen im Heimatstaat als Ausprägung der eigenverantwortlichen Selbsthilfe zu realisieren. (…) Etwas anderes folgt nicht aus dem Urteil des BVerfG zum AsylbLG und insbesondere der dortigen Formulierung, das Existenzminimum müsse in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein (…). Denn die dortigen Ausführungen betrafen zum einen nur die Frage der höhenmäßigen Bemessung des Bedarfs, nicht aber die davon zu trennende Frage der Zumutbarkeit anderer Bedarfsdeckung und Bedarfsvermeidung. Zum anderen betrafen sie nur den von § 1 Abs 1 AsylbLG erfassten Personenkreis, bei dem der Gesetzgeber typisierend davon ausgeht, dass diesem eine Rückreise in das Heimatland gegenwärtig nicht möglich oder zumutbar ist. Dies ist bei Unionsbürgern grundsätzlich, vorbehaltlich individueller Umstände im Einzelfall, anders.“

Es gibt allerdings auch die genau gegenteilige Auffassung, nach der eine Ausreise keine zulässige Mitwirkungspflicht sei. Denn durch die Mitwirkungshandlung der Ausreise ginge ja in Deutschland „der Anspruch gerade unter“. So stellt zum Beispiel das LSG Hessen (Urteil vom 01.07.2020; L 4 SO 120/18) fest:

„Eine Anspruchseinschränkung kann die Anforderungen aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG nur dann wahren, wenn sie nicht darauf ausgerichtet ist, repressiv Fehlverhalten zu ahnden, sondern darauf, dass Mitwirkungspflichten erfüllt werden, die gerade dazu dienen, die existenzielle Bedürftigkeit zu vermeiden oder zu überwinden. (…) Eine Ausreise führte jedoch dazu, dass hierdurch die ursprünglich berechtigte Person den räumlichen Gewährleistungsbereich von Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG und den Anwendungsbereich des SGB XII verlässt; mithin ginge durch diese vermeintliche Mitwirkungshandlung der Anspruch gerade unter. Es handelt sich bei der Durchsetzung einer Selbsthilfeobliegenheit durch Ausreise nach alledem nicht um einen am Maßstab von Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG legitimen Zweck. Zugleich würde ein so konstruierter Sozialhilfeanspruch seinen verfassungsrechtlichen Zweck der Existenzsicherung vollständig verfehlen. (…) Die bloße Heimkehrmöglichkeit bei tatsächlichem Inlandsaufenthalt ist für die Geltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ohne Bedeutung (…), da das Grundrecht während des Inlandsaufenthalts „stets“ seine Wirkung entfaltet.“

 Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich momentan die Diskussion. Was allerdings unstrittig ist: Selbst wenn man eine „Selbsthilfeobliegenheit“ der Ausreise annehmen wollte, so müssen jedenfalls zwei Voraussetzungen erfüllt sein:

  • Im anderen Staat müssen tatsächlich Mittel zur Existenzsicherung zur Verfügung stehen und erreichbar sein.
  • Die Ausreise muss unmittelbar möglich, zumutbar und konkret umsetzbar Wenn eine Ausreise nicht sofort möglich sein sollte, wäre der Verweis auf die Leistungen des anderen Staates in diesem Moment eindeutig unzulässig.

Und da kommen wir wieder auf die Dublin-Fälle zurück: Denn diese haben es gerade nicht selbst in der Hand, durch Ausreise die existenzsichernden Leistungen des anderen EU-Staats in Anspruch zu nehmen (mal abgesehen davon, dass es diese in manchen EU-Staaten auch gar nicht gibt). Denn in Deutschland ist eine freiwillige „Dublin-Überstellung“ nicht vorgesehen. Die „Dienstanweisung Dublin“ des BAMF regelt ausdrücklich:

„Aus Sicherheitsgründen wird derzeit freiwilligen Überstellungen aus den MS nicht zugestimmt. Freiwillige Ausreisen in die MS werden daher nur in Ausnahmefällen vom Bundesamt befürwortet.“ (S. 168)

Selbst wenn das BAMF „in Ausnahmefällen“ zustimmen sollte, ist ein zeitaufwändiges bürokratisches Verfahren erforderlich. Denn anders als EU-Bürger*innen oder Personen mit einem Aufenthaltstitel können Asylsuchende nicht einfach innerhalb der EU reisen. Hierfür müssen Papiere ausgestellt werden, die Durchreise durch andere Staaten ist nicht erlaubt usw. Somit haben es Menschen im Dublin-Verfahren nicht in der Hand, wann und wie sie in den zuständigen Mitgliedsstaat ausreisen – selbst wenn sie wollten. In der Folge kann von ihnen die gar nicht ohne weiteres mögliche Ausreise logischerweise auch nicht als „Selbsthilfeobliegenheit“ erwartet werden. Eine Leistungskürzung oder gar -streichung wäre aus diesem Grund ziemlich eindeutig verfassungswidrig.

So sieht es auch das Bundessozialgericht in einer Entscheidung zu § 1 AsylbLG (Urteil vom 12.05.2017, B 7 AY 1/16 R, ein Artikel dazu im Asylmagazin 12/2017): Darin hat es eine Kürzung nach § 1a Abs. 2 AsylbLG (Kürzung wegen selbstverschuldeter Unmöglichkeit der Ausreise, hier: fehlende Mitwirkung bei der Passbeschaffung) in der vor 2015 geltenden Fassung noch für zulässig erklärt – aber auch nur unter zwei Bedingungen:

  • Die Leistungskürzung muss jederzeit durch eine konkrete Verhaltensänderung der betreffenden Person abgewendet werden können (im konkreten Fall: Mitwirkung an der Passbeschaffung). „Durch Einhaltung der gesetzlichen Pflichten erlangt der Leistungsberechtigte also unmittelbar wieder einen Anspruch auf Leistungen in voller Höhe.“ Allein: Wie gerade dargestellt kann die bei Dublin-Fällen erwartete Mitwirkungshandlung allein die freiwillige Ausreise sein – und die ist eben nicht eigenständig möglich. Damit würde die Kürzung oder Streichung zu einer unzulässigen rein repressiven Sanktion.
  • Zum anderen dürfe die Leistungskürzung nicht „generell-abstrakt“ geregelt sein, sondern müsse stets auf den individuellen Einzelfall bezogen sein. Die Norm sei „anspruchseinschränkend, nicht anspruchsausschließend ausgestaltet“; im Einzelfall seien daher auch Bedarfe des sozialen Existenzminimums zu gewähren, soweit diese „unabweisbar geboten“ seien. Kurz: Da § 1a Nr. 2 AsylbLG alter Fassung die Kürzung nicht pauschal vorschreibe, sondern stets eine einzelfallbezogene Beurteilung der Leistungshöhe verlange, sei dies mit der Verfassung vereinbar.

Das Bundesverfassungsgericht hat diese BSG-Entscheidung überprüft und bestätigt. In einem Nicht-Annahmebeschluss vom 12. Mai 2021 (1 BvR 2682/17) hat es festgestellt, dass die alte, vor 2015 geltende Fassung des § 1a Nr. 2 AsylbLG noch verfassungskonform gewesen sei. Aber auch nur noch so gerade eben!

Das Gericht stellt darin fest, dass eine pauschale Streichung des sozialen Existenzminimums unzulässig ist:

Die Gewährleistung lässt sich nicht in einen „Kernbereich“ der physischen und einen „Randbereich“ der sozialen Existenz aufspalten, denn die physische und soziokulturelle Existenz werden durch Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG einheitlich geschützt.“

Der alte § 1a AsylbLG sah aber noch vor, dass das zum Lebensunterhalt „Unerlässliche“ gewährt werden musste. Das bedeutete aus Sicht des Gerichts, dass auch die Leistungen des sozialen Existenzminimums erbracht werden konnten und mussten, wenn diese Bedarfe im Einzelfall glaubhaft gemacht worden wären. Eine realitätsferne Interpretation! Die aktuell geltende Fassung des § 1a AsylbLG schließt aber die gesamten Leistungen des sozialen Existenzminimums und auch aller anderen Zusatzbedarfe des § 6 AsylbLG kategorisch aus. Schon aus diesem Grund dürfte der aktuelle § 1a AsylbLG recht eindeutig verfassungswidrig sein.

Unterm Strich ergibt sich:

  • Alle Leistungskürzungen nach § 1a AsylbLG sind wohl verfassungswidrig, weil sie die Bedarfe des sozialen Existenzminimums kategorisch ausschließen.
  • Die spezielle Leistungskürzung des § 1a Abs. 7 AsylbLG für Dublin-Fälle ist verfassungswidrig, weil die von manchen konstruierte „Selbsthilfeobliegenheit der Ausreise“ nicht durch eigenes Handeln erfüllt werden könnte. Die freiwillige Ausreise ist bei Dublin nicht vorgesehen. Eine Obliegenheit, auf deren Erfüllung ich keinen Einfluss habe, darf nicht als Rechtfertigung für eine Kürzung herhalten.
  • Ein Leistungsausschluss nach § 1a Abs. 4 AsylbLG ist aus demselben Grund verfassungswidrig. Als verfassungskonform könnte sie allein dann angenommen werden, wenn die Überbrückungs- und Härtefallleistungen regelmäßig über zwei Wochen hinaus für das gesamte physische und soziale Existenzminimum und bis zur tatsächlichen Ausreise geleistet würden. Dann jedoch könnte man genauso gut bei einem normalen Leistungsanspruch bleiben.

Wir kennen das Instrument des Leistungsausschlusses bereits zur Genüge aus der Beratung von nicht-erwerbstätigen Unionsbürger*innen. Die Bundesregierung rechtfertigt deren Leistungsausschlüsse damit, dass die Überbrückungs- und Härtefallleistungen ja für Verfassungskonformität sorgen würden. Niemand, die*der wirklich etwa brauche und hilflos sei, müsse ohne alles dastehen. Das Gegenteil ist der Fall! Das Konstrukt der Überbrückungs- und Härtefallleistungen ist eine reine Simulation von Verfassungskonformität. Es handelt sich um ein Grundrecht hinter Stacheldraht. Die Ansprüche stehen zwar auf dem Papier, aber in den wenigsten Fällen ist es in der Praxis durchsetzbar, diese Leistungen zu erlangen.

Die Folge ist: Trotz theoretischer Ansprüche passiert genau das, was der EuGH bezogen auf andere Konstellationen aufgrund der GRCh für unzulässig erklärt: Der Sozialstaat verweigert selbst die Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden. Immer wieder wird dadurch die physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt, Menschen leben (in Deutschland!) in extremster Armut und werden in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Der Vorrang des Kindeswohls, die besonderen Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen werden ignoriert.

Diese Lage will die Bundesregierung nun offenbar auf weitere Gruppen ausweiten.

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