Das AsylbLG als Versuchslabor: Wie rechtspopulistische Politik praktisch wird

von Claudius Voigt

Die Einführung einer Bezahlkarte im Asylbewerberleistungsgesetz für Geflüchtete wird momentan breit diskutiert. Eine europaweite Ausschreibung hat begonnen, die Ampelkoalition hat sich am letzten Wochenende auf eine Gesetzesänderung verständigt, in den Kommunen wird das Thema medienwirksam auf die Tagesordnungen der Gremien gesetzt. Die Bezahlkarte zeigt beispielhaft, wie es gelingen kann, eine rechtspopulistische Idee zum Mainstream zu machen. In einer ganz großen Koalition beteiligen sich mittlerweile fast alle daran, wenn es darum geht, Soziale Rechte für Nicht-Deutsche – nicht nur im AsylbLG – einzuschränken und Diskriminierungen auszuweiten. Eine zentrale Rolle in diesem Prozess spielt das Gutachten des Konstanzer Juristen Daniel Thym.

Das Asylbewerberleistungsgesetz und die Bezahlkarte dienen in erster Linie als symbolisch aufgeladenes Versuchslabor, in dem die Instrumente getestet werden können. Doch längst geht es um mehr: Rechtsextremist*innen, Neoliberale, Konservative und Linksnationale üben den Schulterschluss, um die Ideologie der Ungleichheit auch an anderen Stellen in die Praxis zu überführen; Sozialdemokrat*innen und Grüne haben dem wenig entgegen zu setzen, die Linke ist zu schwach. Dies betrifft alle möglichen Bereiche: vom Asylbewerberleistungsgesetz über das Bürger*innengeld bis zur (noch nicht mal verabschiedeten) Kindergrundsicherung –  bei allem schwingt mehr oder minder offen ein rassistisches Narrativ mit. Die Rechtsextremist*innen sind schon in der Opposition überaus erfolgreich. Um es anders zu sagen: „AfD“ wirkt, die rohe Bürgerlichkeit feiert fröhliche Urständ‘.

Ein aktueller Antrag der Unionsfraktion im Bundestag für eine Verfassungsänderung macht deutlich, worum es im Kern geht: Das Gleichheitsversprechen des Grundgesetzes soll geschleift, das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimums entlang rassistischer und klassistischer Trennlinien relativiert, die soziale Exklusion für bestimmte Bevölkerungsgruppen zur Normalität werden. Dabei setzt man offen darauf, dass das Bundesverfassungsgericht seine bisher recht progressive Rechtsprechung über den Haufen werfen und der Ungleichheitspolitik nicht mehr im Wege stehen werde.

Während wir noch über die Frage diskutieren, ob mit der Bezahlkarte 50 oder 70 Euro Bargeld abgehoben werden können und ob dies zwei Euro Gebühr kostet oder nicht, haben andere längst ihre Arbeit aufgenommen: Sie haben mit dem national-autoritären Umbau des Sozialstaats begonnen. Neben der militärischen Aufrüstung der Grenzen und der körperlichen Deportation aus dem Bundesgebiet soll die national-autoritäre Sozialpolitik zur dritten tragenden Säule der Migrationsverhinderung werden.

Die Bezahlkarte ist ein Beispiel dafür, wie eine rechtspopulistische Idee in den politischen Mainstream überführt werden kann – und fast alle das ganz toll finden.

Das Rezept:

  • Als erstes stellt man Behauptungen in den Raum, die aus der Luft gegriffen oder erwiesen falsch sind („Überweisungen an Schlepper im Ausland“ (als würden diese auf Kredit arbeiten!) / „Sozialstaatsmagnet“ / „Pull-Faktoren“ / „Die lassen sich die Zähne machen und wir bekommen keinen Termin“ usw.). Damit lässt sich schon mal ordentlich Stimmung machen, die sich im besten Fall verselbstständigt.
  • Man streut mehr oder weniger subtil die Parole „Jetzt kürzen wir aber endlich den Ausländern das Geld“.
  • Man fügt noch einige ebenso wohlklingende wie nichtssagende Worthülsen hinzu („Verwaltungsvereinfachung“, „Digitalisierung“, „diskriminierungsfreies Design“). Damit kann man auch die differenzierter denkenden Bevölkerungsgruppen jenseits der Stammtische und rechtsradikalen Bubbles abholen.

Und schon hat man als Ergebnis: Fast alle wollen, dass eine Bezahlkarte eingeführt wird, die als einziges Ziel hat, eine bestimmte (nicht-deutsche!) Bevölkerungsgruppe zu diskriminieren, zu kontrollieren und zu gängeln. Die viel Geld kostet und die für die Behörden ganz viel zusätzlichen Aufwand bedeutet. Die also objektiv Unfug ist. Aber: Ziel erreicht, die Operationalisierung der Ideologie der Ungleichheit ist ein Stück weiter gekommen.

Durchmarsch rechtsradikaler Parolen

Um sich den gesellschaftspolitischen Rollback und den Durchmarsch rechtsradikaler Positionen konkret vor Augen zu führen, sollte man sich die jüngere Historie der Leistungsformen im AsylbLG ansehen: Vor fast genau zehn Jahren, im September 2014 hat der damalige und heutige baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann einem Deal zugestimmt (dem so genannten „Kretschmann-Deal“). Gegen den Willen seiner Partei stimmte er im Bundesrat der Einstufung von Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien als „sichere Herkunftsstaaten“ zu. Im Gegenzug handelte er unter anderem aus, dass im AsylbLG außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen das diskriminierende Sachleistungsprinzip weitgehend gestrichen wurde. Stattdessen wurde der Vorrang von Geldleistungen im Gesetz verankert. Nach aktuellem Recht sind seitdem gem. § 3 Abs. 3 AsylbLG „vorrangig“ Geldleistungen zu erbringen.

Und nun: Ein Gesetzentwurf (Art. 15, ab S. 79) sieht nicht nur vor, die Bezahlkarte als eine mögliche Leistungsform einzuführen. Auch der Vorrang von Geldleistungen soll gestrichen und die seit Jahren scheintoten Sachleistungen wiederbelebt werden. Die Bezahlkarte soll sogar für Personen eingeführt werden, die Analogleistungen nach § 2 AsylbLG entsprechend dem SGB XII erhalten – die also schon viele Jahre verfestigt in Deutschland leben.

Die Streichung des Sachleistungsprinzips war eine wichtige sozialpolitische Errungenschaft, die nun wieder rückgängig gemacht werden soll. Die Gesetzesänderung soll am Freitag (12. April) als Anhängsel zum „Datenübermittlungsvorschriften-Anpassungsgesetz“ (das übrigens auch in seinen sonstigen Teilen einen Baustein für die autoritäre Formierung des Sozialstaats bildet; aber das wäre eine andere Geschichte) verabschiedet werden. Das Ergebnis wird dann sein: Sowohl Sachleistungen als auch Bezahlkarten sind (wieder) möglich. Und, nur nebenbei bemerkt, gibt es seit dem Kretschmann-Deal vor zehn Jahren fünf weitere „sichere Herkunftsstaaten“.

Die Bundesländer mit Ministerpräsident*innen jeder Couleur wollten aber nicht auf diese bundesgesetzliche Einführung der Bezahlkarte warten: Stattdessen haben 14 von 16 Ländern sich schon vor Wochen auf Vorgaben geeinigt und eine europaweite Ausschreibung gestartet. In der Ausschreibung gibt es unter anderem auch einen Anforderungskatalog, den die Bundesländer festgelegt haben, und in dem sie den Kartenbetreiber*innen genau die Diskriminierungsinstrumente vorschreiben, die mit der Karte umgesetzt werden sollen.

Unter anderem heißt es darin:

„Kein Einsatz im Ausland
Keine Karte-zu-Karte-Überweisung
Keine Überweisung ins In- und Ausland
Bargeldabhebung nur im Inland über einen vorher definierten Betrag
Möglichkeit bundesweiter oder bei Bedarf nur regionaler Nutzung durch Einschränkung der PLZ
Möglichkeit des Ausschlusses bestimmter Händlergruppen/Branchen“

Völlig zu Unrecht werden diese Diskriminierungsvorgaben als „Mindeststandards“ bezeichnet. Das Gegenteil ist der Fall: Die Bundesländer und Kommunen werden weitgehend freie Hand haben, wie weit sie die Einschränkungen fassen werden. Die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums wird somit in den politischen Wettbewerb gestellt. „Wir machen‘s für die Ausländer noch schlimmer als die anderen!“, wird in Zukunft ein erfolgversprechender Wahlkampfslogan lauten. Die CSU in Bayern macht es schon vor, Ministerpräsident Markus Söder poltert: „Unsere Bezahlkarte kommt schneller und ist härter“.

Für die Betroffenen wird das dann wohl heißen: Sie können kein Deutschlandticket erwerben, keine Mietüberweisungen tätigen, keine Handyverträge abschließen, keine Raten an Rechtsanwält*innen zahlen, nicht auf dem Flohmarkt oder im Internet einkaufen, keine Haftpflichtversicherung bekommen. In Hamburg und Bayern etwa, die bereits vorgeprescht sind, können nur 50 Euro monatlich für Erwachsene und 10 Euro für Kinder abgehoben werden. Zugleich kann keineswegs in allen Geschäften mit Karte gezahlt werden – zumal Buchungen mit Bezahlkarte wie bei einer Kreditkarte viel höhere Gebühren kostet als mit Girokarte.

Eine freie Disposition, wie und wo die geringen Sozialleistungen eingesetzt werden, ist somit nicht mehr möglich. Der Regelsatz wäre nicht mehr in nachvollziehbarer Höhe berechnet, da er auf Statistiken von Leistungsberechtigten beruht, die ihr Geld in freier Entscheidung einsetzen können. Aus diesem Grund ist die Bezahlkarte nicht nur politisch falsch, sondern auch verfassungsrechtlich hoch bedenklich. Der Deutsche Anwaltverein hat eine hervorragende Stellungnahme veröffentlicht, in der auf diese rechtlichen Fragen im Detail eingegangen wird.

Bayern versucht, dieses Problem zu umgehen, indem die Sozialbehörden so genannte „Whitelists“ erstellen sollen – es werden „vertrauenswürdige“ Empfänger*innen festgelegt, an die die Leistungsberechtigten ausnahmsweise doch Überweisungen vornehmen können. Abgesehen von der paternalistischen Gutsherrenart, nach der vermutlich diese Entscheidungen getroffen werden: Eine Entlastung der Verwaltung sieht anders aus.

Der aktuelle Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht vor, dass die Sozialbehörde zusätzliche Geldleistungen auszahlen muss, wenn nicht alle Bedarfe mit der Bezahlkarte gedeckt werden können – übrigens eine sozialrechtliche Selbstverständlichkeit. Jede Entscheidung darüber ist dann ein Verwaltungsakt, gegen den jeweils mit Widerspruch, Klage und eventuell Eilantrag beim Sozialgericht vorgegangen werden kann. Auch dies führt zu mehr Verwaltungsaufwand statt zu weniger, wie immer versprochen wurde.

Aber darum geht es in Wahrheit auch gar nicht. Denn fast alle Betroffenen in den Kommunen verfügen über ein Konto. Dennoch sollen die Sozialleistungen nicht mehr aufs Konto überwiesen werden, sondern auf das Parallelsystem der Bezahlkarte. Ein immenser zusätzlicher Aufwand für die Sozialbehörden und erhebliche zusätzliche Kosten werden gern in Kauf genommen, um Diskriminierung und Kontrolle umsetzen zu können. Das Institut für Finanzdienstleistungen e.V. bezeichnet die Bezahlkarte daher völlig zu Recht als „ein Lehrstück, wie man finanzielle Inklusion verhindert und rechtspopulistische Narrative bedient“.

Das falsche Versprechen der „Verwaltungsvereinfachung“ diente nur als der Köder, mit dem Unterstützer*innen für die Bezahlkarte geangelt werden sollten. Ebenso wie die haltlosen Behauptungen à la „Überweisungen ins Ausland / an Schlepper“ oder „Pull-Faktoren“. „Gerade bei sensiblen Eingriffen in die Existenzsicherung sollten sich Bund und Länder in ihren Entscheidungen auf fachliche Evidenz statt auf Anekdoten und Annahmen stützen, die nicht plausibel sind“, urteilt denn auch der Chef des Forschungsinstituts der Bundesagentur für Arbeit, Herbert Brücker, in einem Gutachten für das DeZIM.

Apropos Anekdoten: Zu den Erfinder*innen der Bezahlkarte gehört die so genannte „AfD“ als die Expertin für Faktenfreiheit schlechthin. In einem baden-württembergischen Gesetzentwurf aus Juli 2022 forderten die Rechtsradikalen schon lange vor Beginn der Diskussion um eine bundesweite Bezahlkarte: „Der notwendige Bedarf an Ernährung, Kleidung, Gesundheitspflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts wird regelhaft als Geldleistung in Form von Beträgen auf einer Chipkarte ausschließlich mit Bezahlfunktion erbracht (…).“ Und auf Bundeseben haben die Rechtsradikalen im Oktober 2022 in einem Antrag gefordert, es solle auch im SGB II „eine ,Sachleistungs-Debitkarte‘ für volljährige erwerbsfähige Grundsicherungsempfänger eingeführt werden, mit der als Alternative zu der Gewährung von Barmitteln die Leistungsgewährung in bestimmten Fällen – wie etwa der Verweigerung der „Bürgerarbeit“ – unbar über die Debitkarte erfolgt“. Auch die vulgär-neoliberale „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ positioniert sich entsprechend: „Außerdem sollten arbeitsfähige Empfänger dieser Sozialleistung (gemeint ist das Bürger*innengeld) diese nur über Prepaid-Guthabenkarten ausgezahlt bekommen.“

Man muss also keine Prophetin sein um vorherzusagen: Interessierte Kreise von halb rechts bis ganz rechts werden dafür sorgen, dass die Bezahlkarte ihre Grenzen nicht im AsylbLG finden wird. Sie wird früher oder später als autoritäres Projekt auch auf das SGB II und möglicherweise auf die Kindergrundsicherung übertragen werden, um dem Arbeitszwang Nachdruck zu verleihen, Sozialleistungsbeziehende zu gängeln, zu kontrollieren und zu sanktionieren – und die weitgehend frei erfundenen „Pull-Faktoren“ von Sozialleistungen zu minimieren.

National-autoritärer Angriff auf den Sozialstaat

Aber die Bezahlkarte ist nur der erste, symbolisch aufgeladene Schritt: Einen recht detaillierten Fahrplan für einen noch weiter gehenden national-autoritären Umbau des Sozialstaats für Nicht-Deutsche stellt ein knapp 60-seitiges Gutachten aus September 2023 auf, das die CDU/CSU-Bundestagsfraktion beim Konstanzer Rechtsprofessor Daniel Thym in Auftrag gegeben hatte: Darin setzt sich Thym mit „rechtlichen Spielräumen zur Einschränkung von Asylbewerberleistungen und sonstiger Sozialleistungen für Personen mit Fluchthintergrund sowie die Ausweitung des Sachleistungsprinzips“ auseinander. Das Gutachten gibt konkrete Handlungsempfehlungen, an welchen Stellen Sozialleistungen unter anderem für Asylsuchende und Geduldete gekürzt oder am besten ganz gestrichen werden können. Seine zentralen Anregungen an die Politik sind die folgenden:

  • Die nicht existenzsichernden Grundleistungen nach § 3 AsylbLG sollen von 18 Monaten „moderat“ auf 24 oder 30 Monate verlängert werden. Dies ist zum 27. Februar 2024 von der Gesetzgeberin schon umgesetzt worden – gleich noch restriktiver als Thym es vorgeschlagen hatte: 36 Monate dauert seitdem der niedrigere Grundleistungsbezug, was verfassungsrechtlich kaum haltbar sein dürfte.
  • Die Sanktionen nach § 1a AsylbLG, die bereits jetzt in vielen Fällen noch nicht einmal das physische Existenzminimum decken, sollen ausgeweitet werden, um ihnen zu „einer größeren Durchschlagskraft“ (Zitat!) zu verhelfen. Thym will diese vor allem auf Geduldete übertragen, die ihrer „Ausreisepflicht nicht nachkommen“. Da er weiß, dass das Bundesverfassungsgericht nur Sanktionen zulassen würde, die durch das eigene Verhalten jederzeit abwendbar wären, deutet er diese Leistungskürzung ebenso geschickt wie unzutreffend in eine „verhaltensbasierte“ Sanktion um –  was sie nicht ist. Vielmehr ist es eine rein repressive Leistungskürzung, die die bloße Anwesenheit im Bundesgebiet mit dem Entzug des gesamten sozialen Existenzminimums bestraft, ohne eine Möglichkeit zu haben, wieder in den Genuss ungekürzter Leistungen zu kommen. Thym hingegen biegt die Ausreise gedanklich zu einer Art „Selbsthilfeobliegenheit“ zurecht, auch wenn sie dazu führt, dass nach der Ausreise der Anspruch auf Leistungen erst Recht untergegangen wäre.
  • Darüber hinaus schlägt er für Fälle von „Sekundärmigration“ vor, das physische und soziale Existenzminimum komplett zu streichen, wenn Personen Internationalen Schutz in einem anderen EU-Staat genießen – selbst wenn in Deutschland eine Duldung erteilt wurde, weil eine Abschiebung unmöglich ist.
  • Auch für Geduldete aus „leicht erreichbaren Drittstaaten“ schlägt er einen vollständigen Leistungsentzug vor – betroffen davon wären einmal mehr Angehörige der Rom*nja aus den Westbalkanstaaten. Thym nutzt als Blaupause für diesen Vorschlag den bereits bestehenden Leistungsausschluss bestimmter EU-Bürger*innen. Die Kolleg*innen in den Beratungsstellen für EU-Bürger*innen kennen nur zu gut die Folgen dieser vollständigen sozialen und wirtschaftlichen Exklusion: Verelendung, Straßenobdachlosigkeit, Schutzlosigkeit, fehlende medizinische Versorgung, staatlich verursachte Kindeswohlgefährdung, moderne Sklavenarbeit.
  • Für Dublin-Fälle sollen ebenfalls sämtliche Leistungen gestrichen werden. Hierfür hat die EU mit Zustimmung der Bundesregierung bereits die Grundlagen geschaffen: Die künftige „Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung“ als Teil des berüchtigten GEAS sieht in ihrem Art. 10 vor, dass im unzuständigen Dublin-Staat kein Anspruch auf Sozialleistungen mehr besteht. Der sozialrechtliche „Squeeze-out“ wird gleichsam unionsrechtlich flankiert. Die Verordnung soll im Jahr 2026 in Kraft treten.

Das Thym-Gutachten bleibt nicht innerhalb der Grenzen des AsylbLG: Das Bürger*innengeld und die Kindergrundsicherung könnten zwar nicht pauschal für nicht-deutsche Staatsangehörige gekürzt werden. Aber: Freilich könnten indirekt erweiterte Handlungsmöglichkeiten geschaffen werden, indem man die Ausgestaltung des Bürgergeldes umstellt. Solche Änderungen erfassten alle Personen unabhängig von der Staatsangehörigkeit und würden Deutschland an diejenigen europäischen Länder annähern, wo viele Leistungen nicht pauschal an alle gezahlt werden, sondern an bestimmte Indikatoren anknüpfen. Eine Reform könnte die Berechnungsmethode, nicht nur hinsichtlich der Inflation, weniger großzügig ausgestalten.“ Im Klartext: Niedrigere Regelbedarfe, höherer Erwerbszwang, schärfere Mitwirkungspflichten, „in spezifischen Sektoren“ Umstellung auf Sachleistungen.

Würde das Bundesverfassungsgericht all die angedachten Einschränkungen oder Streichungen des Existenzminimums für bestimmte Bevölkerungsgruppen mitmachen? Hat es nicht immer wieder betont, dass die Menschenwürde migrationspolitisch nicht zu relativieren, das menschenwürdige Existenzminimum „stets“ und unabhängig von Staatsangehörigkeit oder Aufenthaltsstatus zu sichern ist?

Thym zeigt sich zuversichtlich:

Gesellschaft, Politik und Wissenschaft nehmen keinen Anstoß, wenn Nichtregierungsorganisationen und andere Akteure eine dynamische Rechtsprechung einfordern, gerade auch im Migrationsrecht. Ebenso legitim muss es sein, judikativen Überdehnungen entgegenzutreten. Hierbei ist freilich darauf zu achten, dass, anders als im aktuellen US-Diskurs, die Institution des Verfassungsgerichts nicht generell beschädigt wird. Hierzu muss auch das Gericht durch seine Urteilspraxis beitragen.“

Er setzt also darauf, dass das Bundesverfassungsgericht aufgrund der rechten Hegemonie im gesellschaftlichen Diskurs seine eher progressive Rechtsprechung ( „judikative Überdehnungen“) schon von selbst über Bord werfen werde. Um dem Nachdruck zu verleihen, stellt er wissenschaftlich-neutral in den Raum: „Öffentliche Forderungen nach Rechtsprechungswandel können sich auch auf ,weniger‘ Grundrechtsschutz richten.“

Sicherheitshalber will das Gutachten das autoritäre Projekt jedoch parallel mit einer Verfassungsänderung flankieren. Dadurch könnten nicht nur im SGB II, sondern auch in der Kindergrundsicherung effektivere Ungleichbehandlungen verwirklicht werden. Thym schlägt vor, den Art. 20 GG (das Sozialstaatsgebot, das eine der Grundlagen für die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum menschenwürdigen Existenzminimums darstellt) zu ergänzen:

„Für Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit sind bei der Bestimmung des Existenzminimums und der Anwendung des Gleichheitssatzes die Dauer des bisherigen Aufenthalts, dessen Rechtmäßigkeit und das Leistungsniveau in anderen EU-Mitgliedstaaten zu berücksichtigen (…). Soweit ein anderer EU-Mitgliedstaat für die Existenzsicherung zuständig ist, können Leistungen nicht zusätzlich im Bundesgebiet beansprucht werden.“

Die Gewährleistung des Existenzminimums (und in diesem Zusammenhang auch der Gleichheitsgrundsatz) soll für Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit also nur noch eingeschränkt gelten. Die Menschenwürde in ihrer praktischen Ausformung wäre dann auch verfassungsrechtlich nicht mehr unantastbar; für Nicht-Deutsche gälte sozialrechtlich eine Art Menschenwürde light. Wie explosiv das Fass ist, das da geöffnet werden soll, mag man sich kaum ausmalen. Hier würde tatsächlich die Axt an den Kern des Grundgesetzes gelegt.

Die CDU/CSU hindert das indes nicht, den Vorschlag für diese Verfassungsänderung wörtlich zu übernehmen und in einem Bundestagsantrag „Leistungen für Asylbewerber senken – Rechtliche Spielräume nutzen“ einzubringen. Hier wird es zentrale Aufgabe der Progressiven sein, die Verfassung, im besten Sinne konservativ, gegen die Konservativen zu verteidigen!

Mit der vorgeschlagenen Verfassungsänderung wäre man übrigens nicht mehr sehr weit weg von den Vorschlägen der Rechtsextremist*innen im Bundestag. Die „AfD“ will nicht-deutschen Staatsangehörigen den Zugang zum Bürger*innengeld in vielen Fällen gleich ganz streichen: „Sozialstaat sichern – Bürgergeld für EU-Bürger und Drittstaatsangehörige begrenzen“, lautet der Titel eines Bundestagsantrags.

„Der Anteil der Ausländer am Bürgergeld ist im Vergleich zum Bevölkerungsanteil überproportional hoch und nimmt zu; inzwischen beziehen mehr Migranten als Deutsche Bürgergeld. Eine zeitlich unbegrenzte Gewährung von Grundsicherungsleistungen an Ausländer ist künftig schon aus fiskalischen Gründen nicht mehr realisierbar. Der grundsätzliche Nachrang deutscher Sozialleistungen gegenüber Hilfe- und Selbsthilfemöglichkeiten – die ggf. auch im Ausland realisiert werden können – ist zu berücksichtigen“, „begründen“ die parlamentarischen Rassist*innen ihr Vorhaben.

Schon klar: Das ist vor allem die übliche rechtsextremistische Propaganda und keineswegs identisch mit den Unionsvorschlägen. Und doch: Die Ähnlichkeiten in der Argumentation fallen ins Auge (Ausreise als Selbsthilfeobliegenheit, Nachrang der deutschen Sozialleistungen usw.). Der Sozialstaat soll unter Nationalvorbehalt gestellt werden. Wie konkret das alles ist, konnte man am 8. April bei einer Anhörung des Bundestags-Sozialausschusses miterleben. Dort haben die Abgeordneten von CDU/CSU und FDP die geladenen Sachverständigen – unter ihnen der ausführlich zitierte Daniel Thym und der Bonner Juraprofessor Gregor Thüsing – interessiert nach den rechtlichen Möglichkeiten von Sozialleistungskürzungen oder -einschränkungen für Geflüchtete gefragt. Die Antwort der beiden Juristen war im Kern: Juristisch ist ganz vieles denkbar, es müsse nur politisch gewollt sein.

Und da haben sie Recht! Wir müssen den national-autoritären Angriff auf den Sozialstaat politisch beantworten und dürfen uns nicht darauf verlassen, dass die Gerichte das Schlimmste schon verhindern würden. Denn es geht um die zutiefst politische Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir leben?

In einer Gesellschaft, in der die Sicherung der sozialen Teilhabe oder gar des physischen Überlebens vom richtigen Aufenthaltsstatus und der richtigen Staatsangehörigkeit abhängig gemacht werden? In der sich der Sozialstaat seiner Verantwortung für einige vollständig entzieht und sie auf Suppenküchen, Almosen, Pfandflaschen, Mülltonnen, ehrenamtliche Unterstützer*innen, solidarische Hilfsstrukturen verweist? In der „informelle Camps und Zeltstädte von Geflüchteten wie etwa in Calais, Rom, Paris, Athen und entlang der Balkan-Route“ zum Ziel des politischen Handelns zu werden drohen (wie es die Diakonie Deutschland in einer lesenswerten Stellungnahme befürchtet)? In der Menschen aus Angst vor einer Denunziation an die Ausländerbehörde nicht zur Ärzt*in gehen und sich nicht trauen, einen Sozialhilfeantrag zu stellen? In der manche nicht wissen, wovon sie morgen das Essen für sich und ihre Kinder bezahlen sollen? In der die Beschneidung Sozialer Rechte für nicht-deutsche Staatsangehörige nur das Versuchslabor ist, um diese später um so effizienter bei anderen einsetzen zu können? In der ein Teil der Bevölkerung langfristig in Lagern leben muss, die keine Orte zum Leben sind? In der Sozialstaat, Flucht und Migration systematisch gegeneinander ausgespielt und Grund- und Freiheitsrechte weiter eingeschränkt werden?

Eben!

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2 Gedanken zu „Das AsylbLG als Versuchslabor: Wie rechtspopulistische Politik praktisch wird“

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