Produktion von Überforderung in den Kommunen

Im Rahmen der spannenden Veranstaltung mit Prof. Dr. Gesine Schwan und Prof. Dr. Hannes Schammann am 07.02.24 im Conto-Hochhaus Hannover ging es um Fragen der Wahrnehmung und Gestaltung der Aufnahme von Geflüchteten in den Kommunen: Welche Faktoren führten im Herbst 2023 dazu, dass republikweit ein „Unterbringungsnotstand“ bei der Aufnahme von Asylsuchenden konstatiert wurde? Warum wird demgegenüber die schwierige Situation der strukturell überforderten Ausländerbehörden im öffentlichen Drama kaum zur Kenntnis genommen? Wie lassen sich im Rahmen eines intelligenten „matching“ die Interessen der Schutzsuchenden und die Möglichkeiten der Kommunen so verbinden, dass alle Beteiligten zufrieden sind? Die beiden Referent:innen geben auf diese Fragen durchaus überraschende Antworten:

Prof. Schammann verdeutlichte in seinem Vortrag, dass die – ab einem bestimmten Punkt in der öffentlichen Diskussion nicht mehr hinterfragte, sondern zum Ausgangspunkt weiterer politischer Entscheidungen erklärte – „Überforderung der Kommunen“ eine gesellschaftlich und diskursiv produzierte „Realität“ darstellt: Ohne Zweifel gebe es, insbesondere wegen der hohen Zahl an ukrainischen Geflüchteten im Jahr 2022, regionale Engpässe bei der Unterbringung von Geflüchteten. Das Bild sei jedoch insgesamt uneinheitlich: Nur eine Minderheit von 40% der befragten Kommunalvertreter:innen habe die eigene Kommune zum Zeitpunkt der Untersuchung (Oktober 2023) als „überlastet“ bezeichnet, 60% sprachen von einer „herausfordernden“ Lage. Interessanterweise sei die Darstellung einer kommunalen Notlage auch abhängig von der Hierarchie in der Verwaltung: Je höher die Position, desto dramatischer falle die Darstellung der Lage aus. Während die Landräte den Notstand beschwörten, sähen die mit der Unterbringung in der Verwaltung betrauten Praktiker:innen die Lage weit weniger problematisch. Nur etwa 6% der Kommunen hätten sich gezwungen gesehen, Turnhallen zu akquirieren. Das Bild sei also ambivalent. Dass in der öffentlichen Debatte dennoch von einem „Unterbringungsnotstand“ die Rede war, lasse sich im Wesentlichen auf fünf „Treiber“ zurückführen:

Prof. Dr. Hannes Schammann
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  1. Die Zahl der Geflüchteten ist hoch, v.a. infolge des Ukraine-Kriegs und der darauf folgenden Fluchtbewegung.
  2. In den politischen Gremien kommt es zu einer „Verengung des Diskursraums“: Auf den „Migrationsgipfeln“ definieren die kommunalen Spitzenverbände und Landräte die Lage.
  3. Streit um die Anwendbarkeit und Reichweite des „Konnexitätsprinzips“: Die Kommunen forderten von Bund und Land zusätzliche Gelder für die Unterbringung. Im „Normalbetrieb“ sind nur die Länder zuständig für die Unterbringung. Für höhere Zahlungen des Landes und eine Einbeziehung des Bundes in eine Kostenerstattungsregelung bedurfte es der Feststellung einer „Ausnahmesituation“. Anders ausgedrückt: Die Kommunen müssen ihr Scheitern betonen, um Hilfe zu bekommen.
  4. Auf Seiten lokalpolitischer Entscheidungsträger gab es eine große Unsicherheit hinsichtlich des Bedarfs an vorsorglicher Unterbringungsplanung und die Sorge, etwas falsch zu machen oder zu spät zu reagieren.
  5. Die mediale Skandalisierungsspirale sorgte dafür, dass die Lage dramatisiert wurde: Die Medien zeigten zur Illustration der festgestellten „Überforderung“ immer dieselben Bilder von belegten Turmhallen.

Prof. Schammann kontrastierte die öffentliche Darstellung eines „Unterbringungsnotstands“ sodann mit der Lage der Ausländerbehörden, die seit Jahren aus diversen Gründen strukturell überlastet und überfordert sind, ohne dass sich dies in der öffentlichen Wahrnehmung adäquat niederschlägt. Sein Resümee: Machtasymetrien prägen und bestimmen die Frage, wer „überfordert“ ist und „Hilfe braucht“. Die anhaltende Debatte über ein angebliches „Versagen“ der Politik sei Gift für die Legitimität des politischen Systems.

Gesine Schwan
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Prof. Schwan konzentrierte sich in ihrem Vortrag auf die Frage, wie diejenigen (Geflüchteten, Arbeitsmigrant:innen und sonstige Zuwander:innen), die nach Deutschland kommen, angemessen aufgenommen werden können und dabei auf eine freundliche Unterstützung der Kommunen setzen können. Migration sei nie vollkommen zu kontrollieren und nur indirekt im Rahmen eines „Governance“-Konzepts steuerbar. Es gelte, Steuerungsmechanismen zu entwickeln, und der Ort dieser Steuerung seien vor allem die Kommunen:

Die Stakeholder aus Politik und Verwaltung (Bürgermeister, Verwaltungschefs) sollten sich mit NGO- und Wirtschaftsvertreter:innen zusammensetzen und Empfehlungen formulieren. Es gelte, Migrant:innen in die allgemeine Entwicklungsplanung systematisch einzubeziehen und kommunale Entwicklungspläne aufzustellen. In einer sich wandelnden, pluralistischen Gesellschaft gebe es vielfältige Fremdheitserfahrungen, ein ganzheitliches Integrationsverständnis erfordere von allen Gesellschaftsmitgliedern, sich „zusammenzufinden“. Zur Ermöglichung eines gedeihlichen Zusammenlebens brauche es Aufnahmeprogramme, die auch für die Kommunen ein Anreizsystem vorsähen:

Zu denken wäre etwa an einen Integrations- und Entwicklungsfonds, über den neben Integrationsbedarfen der Migrant:innen auch Belange und Interessen der Kommunen abgedeckt werden könnten, die mit Migration nichts zu tun haben (etwa: Bau eines Dorfgemeinschaftshauses, Verbesserung der Infrastruktur). Wenn die Politik solche Anreize für die Aufnahme von Migrant:innen und Schutzsuchenden schaffe, werde deutlicher, ob und wo die Kommunen wirklich „am Limit“ seien.

Die Fehler der aktuellen Politik verdeutlichte Prof. Schwan am Beispiel der Stadt Greifswald: Der (grüne) Bürgermeister der Stadt sei vom (CDU-) Landrat verpflichtet worden, 500 Geflüchtete aufzunehmen. Die Verwaltung habe dann „under cover“ einen Platz nahe einer Schule für eine Notunterkunft identifiziert. Als dies öffentlich bekannt wurde, habe es einen Sturm der Entrüstung und ein Bürgerbegehren mit dem Ziel gegeben, dem Bürgermeister die Einrichtung einer Notunterkunft im Stadtgebiet ganz zu verbieten. Eine solche Situation hätte sich vermeiden lassen, wenn die Verwaltung frühzeitig mit der Bevölkerung gesprochen hätte und im Rahmen eines Interessenausgleichs auch Wünsche und Planungen der Kommune in die Überlegungen einbezogen worden wären. Man müsse pragmatisch gucken, wo die Interessen liegen. Auf diese Weise ließe sich nicht nur ein großes Verhetzungspotenzial überwinden, sondern auch eine befriedigende Aufnahme gestalten.

Die anschließende Diskussion drehte sich um die Frage, wieweit eine Aufnahme von Geflüchteten tatsächlich durch fiskalische Angebote „erkauft“ werden könnte und müsse, und ob die Politik ohne Zuweisungen auskommen könne. Deutlich wurde auch, dass der seit Jahrzehnten sträflich vernachlässigte soziale Wohnungsbau ein allgemeines gesellschaftliches Problem darstellt, das allerdings relativ wenig mit Geflüchteten zu tun hat und die diskursive „Produktion von Überforderung“ im Herbst 2023 nicht erklärt.

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