von Andrea Kothen, PRO ASYL
Im aktuell aufgeheizten Klima einer angeblichen Flüchtlingskrise wird wiederholt von einigen Politiker:innen aus CDU/CSU und FDP gefordert, dass Geflüchtete ihre Unterstützung in Form von Sachleistungen erhalten sollen. Doch Sachleistungen sind diskriminierend, teuer und sinnlos – hier sind fünf Argumente gegen Sachleistungen.
1. Sachleistungen wirken entmündigend und demütigend. Um das zu verstehen, sollte man sich selbst einen Moment in die Lage der Betroffenen versetzen: Stellen Sie sich vor, Sie müssen sich monatelang von Fertigessen ernähren, das nicht Ihrem Geschmack entspricht und zudem Ihre Unverträglichkeiten oder Allergien nicht berücksichtigt. Oder Sie stehen an der Supermarktkasse und man erklärt Ihnen, dass Sie dieses oder jenes Genussmittel mit ihrer Bezahlkarte nicht kaufen dürfen. Oder Sie müssen eine kostenpflichtige Toilette aufsuchen, besitzen aber kein Bargeld. Das Verwehren von Geld entzieht den Menschen ihre Autonomie – sie verlieren alltägliche und eigentlich selbstverständliche Handlungsmöglichkeiten.
2. Sachleistungen führen zu einer unzulässigen Leistungskürzung. Denn eine staatlich organisierte Versorgung mit Dingen kann dem individuellen Bedarf niemals gerecht werden. Experte Georg Classen hat das für PRO ASYL 2022 detailliert analysiert. Wer in der Erstaufnahme wegen eines Amtstermins die Zeit der Essensausgabe versäumt, erhält später kein Essen (so etwa in Berlin-Tegel, zu den Zuständen dort hier mehr). Andere Menschen machen die Essensration in der Kantine kontinuierlich nicht satt. In kommunalen Geflüchteten-Unterkünften gibt es oft zwar eine Bewohnerküche, aber keinen Pürierstab, keine Aufwärmmöglichkeit für Babybrei und keine Möglichkeit, eigene Lebensmittel aufzubewahren oder zu kühlen. Ob die Schuhe aus der Kleiderkammer passen, ist davon abhängig, ob zufällig gerade passende gespendet wurden. Im Hygienepaket für einen 16-Jährigen ist keine Pflegecreme für seine Neurodermitis, aber ein Rasierer, den er noch nicht braucht. Am Ende erhalten Geflüchtete nicht das, was sie wirklich benötigen – und damit weniger als ihnen eigentlich zusteht.
4. Sachleistungen sind verfassungsrechtlich mindestens fragwürdig. Aus einem wichtigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2012 ergibt sich unter anderem, dass ein vollständiger Entzug eines Barbetrages verfassungswidrig wäre. Das Verfassungsrecht hat zum Beispiel 2015 der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags gut erläutert. Das höchste deutsche Gericht bezieht sich dabei auf Artikel 1 (Menschenwürde) und Artikel 20 (Sozialstaatsprinzip) des Grundgesetzes. Demnach hat jeder Mensch das Recht auf ein menschenwürdiges physisches, aber auch soziokulturelles Existenzminimum, das die gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen soll.
Im Sozialrecht ist außerdem eine individuelle Dispositionsfreiheit festgeschrieben, die den Bedürftigen ermöglichen soll, innerhalb des ihnen zugedachten Regelsatzes Verschiebungen vorzunehmen, also die Ausgaben an die aktuell wichtigen Bedürfnisse anzupassen. Auch dies ist bei einer Sachleistungsversorgung nicht möglich. Wer fordert, Geflüchteten jegliches Bargeld zu entziehen, greift ihre Menschenwürde an.
5. Sachleistungen führen nicht dazu, dass weniger Menschen kommen. Behauptungen, die Sachleistungsversorgung würde Geflüchtete abschrecken oder ein Absenken der Sozialleistungen würde zu weniger Flüchtlingen führen, sind so alt wie falsch. Allein die Vorstellung von einem »Push- und Pullfaktoren«-System ist schon lange wissenschaftlich in der Kritik, denn so einfach ist es nicht. (Dazu zum Beispiel der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags 2020 oder ganz aktuell der Faktenfinder der Tagesschau.) Eine Flucht- oder Migrationsentscheidung wird individuell getroffen und ist komplex. In einer Untersuchung für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2013 wurden die Gründe für die „Zielwahl“ Deutschland erforscht. Demnach spielen vor allem der Aufenthaltsort von Freund:innen, Familie oder Community, die Sprache, aber auch die mutmaßlichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt eine größere Rolle. Sozial- und asylpolitische Regelungen hingegen wirkten aufgrund eingeschränkten Wissens der Betroffenen nur eingeschränkt.
Die Idee, eine „Zweckentfremdung“ der Sozialleistungen zu verhindern, zum Beispiel Geldtransfers zur Familie im Herkunftsland, ist entweder vorgeschoben oder zeugt von Unkenntnis der Situation armer Menschen in diesem Land: Wer die Bürgergeldsätze und die noch geringeren Sätze nach dem Asylbewerberleistungsgesetz kennt, weiß, dass es ohnehin kaum möglich ist, damit menschenwürdig über die Runden zu kommen und am Monatsende nichts übrig bleibt.
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