Endlich: Der Europäische Gerichtshof hat in zwei wegweisenden Urteilen entschieden, dass Eltern bzw. Kindern der Familiennachzug auch dann nicht verwehrt werden darf, wenn die Kinder zum Zeitpunkt der Asylantragsstellung minderjährig waren und im Laufe der Zeit volljährig wurden.
Bereits im April 2018 entschied der EuGH in einem Fall aus den Niederlanden, dass Eltern von unbegleiteten Minderjährigen mit Flüchtlingsanerkennung auch dann zu ihren Kindern nachziehen dürfen, wenn die Kinder im Laufe des Asylverfahrens volljährig werden. Entscheidend sei, dass das Kind zum Zeitpunkt der Stellung seines Asylantrags minderjährig war. Trotz der Eindeutigkeit dieses Urteils haben die deutschen Auslandsvertretungen seine Umsetzung bislang verweigert. Die Begründung: Das niederländische Recht wäre mit dem Deutschen nicht vergleichbar und das Urteil deshalb auf die Bundesrepublik nicht übertragbar. Diese Begründung überzeugt schon deshalb nicht, weil der EuGH im besagten Urteil nicht über die Auslegung niederländischen, sondern europäischen Rechts entschieden hat, das in allen Staaten der EU gleichermaßen verbindlich gilt. Im Ergebnis hat die Ignoranz deutscher Auslandsvertretungen junge Menschen jahrelang von ihren Familien getrennt und das Recht auf Familienleben elementar verletzt.
In vielen Fällen haben Verzögerungen auf Seiten der Behörden bei der Bearbeitung von Asyl- oder Visumanträgen die Zusammenführung verhindert. Wenn der/die Minderjährige im Laufe dieser Verfahren volljährig wurde oder zu werden „drohte“, wurden Visa-Anträge entweder abgelehnt oder das Verfahren bis zu einer Entscheidung des EuGH zu den dort anhängigen Fällen aus Deutschland „eingefroren.“ Nun ist klar: Die Ablehnung der Erteilung eines nationalen Visums zum Zweck der Familienzusammenführung verstieß in diesen Fällen gegen das Unionsrecht.
In seiner Entscheidung vom 01. August 2022 kommt der EuGH – wie erwartet – nun auch in einem Verfahren gegen die Bundesrepublik zu dem Schluss, „dass ein Abstellen auf den Zeitpunkt, zu dem die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats über den Antrag auf Einreise und auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Staates zum Zweck der Familienzusammenführung entscheidet, als Zeitpunkt, nach dem sich die Beurteilung des Alters des Antragstellers oder, je nach Fall, des Zusammenführenden für die Gestattung des Nachzugs richtet, weder mit den Zielen der Richtlinie betreffend das Recht auf Familienzusammenführung noch mit den Anforderungen im Einklang stünde, die sich aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergeben.“
Dies bedeutet, dass es bei Familienzusammenführung mit Minderjährigen auf deren Alter zum Zeitpunkt des Asylantrags – ob des eigenen oder das der in Deutschland lebenden Eltern(teile) – ankommt. Äußere Umstände, die sie selbst nicht in der Hand haben – wie etwa langwierige Asyl- oder Visumsverfahren – dürften den Antragsstellenden nicht zum Nachteil gereicht werden. Gleichzeitig legt der EuGH fest, dass der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb einer Frist von drei Monaten ab Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfolgen muss.
Die Entscheidung des EuGH hat grundsätzliche Bedeutung und ist somit nicht nur für die konkret entschiedenen Einzelfälle, sondern für Behörden und Gerichte in allen Mitgliedstaaten bindend. Deshalb bedeutet das Urteil des EuGH für viele Familien – in Deutschland und darüber hinaus – eine Chance auf die erhoffte und lang erwartete Zusammenführung mit ihren Angehörigen.
Der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordert eine schnelle Visumerteilung in allen bisher „eingefrorenen“ Verfahren. Darüber hinaus muss es unbürokratische Lösungen für die Geflüchtete geben, deren Anträge in der Vergangenheit mit Verweis auf die (nahende) Volljährigkeit des Kindes abgelehnt wurden. Zuletzt muss auch für Personen, die es versäumt haben, einen Antrag auf Familiennachzug innerhalb der drei-Monatsfrist zu stellen, Möglichkeiten geschaffen werden, dies nachzuholen, denn viele Anspruchsberechtigte waren sich dieser Frist nicht bewusst oder haben sie in dem Glauben verstreichen lassen, mit der Volljährigkeit des Kindes wäre alle Hoffnung auf eine Zusammenführung verloren.
Pressemitteilung des EuGH: https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2022-08/cp220136de.pdf
Urteile: https://curia.europa.eu/juris/documents.jsf?num=C-273/20 https://curia.europa.eu/juris/documents.jsf?num=C-279/20
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