Von Andreas Grünewald, Brot für die Welt
Die EU-Außenminister, die (zukünftigen) Regierungsparteien, Teile der Opposition im Bundestag – sie alle sind sich derzeit einig in ihren Solidaritätsbekundungen gegenüber Polen. Doch die polnische Regierung ist nicht nur Opfer von Destabilisierungsversuchen Lukaschenkos, sondern führt selbst einen Krieg im Grenzgebiet. Unsere unbedingte Solidarität brauchen andere.
Die Erzählungen, die der deutsche Außenminister Heiko Maas, die FAZ oder die EU-Kommission derzeit gebetsmühlenartig wiederholen, ähneln sich: Belarus führe einen „hybriden Krieg“ gegen die EU und setze dabei Migrant*innen als Waffen ein. Polen müsse sich gegen diesen Angriff verteidigen und dürfe dabei auf uneingeschränkte Solidarität Deutschlands und der EU zählen. Menschen, die mit dem Flugzeug nach Minsk fliegen, können keine Flüchtlinge sein, deswegen müssten sie zurück in ihre Herkunftsländer. Doch diese Erzählung ist falsch – und menschenverachtend. Denn sie macht Menschen, die unsere Unterstützung dringend benötigen, zu rechtlosen Statist*innen eines geopolitischen Kräftemessens.
Polen führt ebenso Krieg wie Belarus
Lukaschenko ist jedes Mittel recht, um die EU zu destabilisieren. Dass er Migrant*innen für diese Zwecke benutzt, ist perfide. Doch daraus abzuleiten, Polen dürfe sich mit allen Mitteln gegen diese „hybride Kriegsführung“ wehren, ist es ebenso. Zwar ist Polen selbst Opfer einer europäischen Migrationspolitik, die die gesamte Verantwortung für die Aufnahme von Asylsuchenden an die Länder an den EU-Außengrenzen abschiebt. Doch zugleich nutzt die polnische Regierungspartei PiS (Prawo i Sprawiedliwość, deutsch Recht und Gerechtigkeit) die Situation im Grenzgebiet ebenso wie Lukaschenko für eigene Propagandazwecke. Sie heizt die Fremdenfeindlichkeit im Lande weiter an, indem sie geschickt einen angeblichen Massenansturm von Migrant*innen inszeniert. Sie lässt keine NGOs, keine Journalist*innen, ja nicht einmal offizielle EU-Beobachter*innen ins Grenzgebiet und kontrolliert alle Bilder, die aus dem Grenzgebiet kommen – sieht man von wackeligen Handyvideos einiger Migrant*innen ab. Den Ausnahmezustand im Grenzgebiet hat sie erst kürzlich um 60 Tage verlängert. Dabei lässt sie nicht nur hilflose Menschen hinter der Grenze erfrieren oder verhungern, sondern verstößt mit gewalttätigen Pushbacks von Asylsuchenden nach Belarus auch gegen geltendes EU-Recht. Wer dieser Regierung uneingeschränkte Solidarität bekundet, unterstützt eine Kriegspartei, die Menschenrechte verletzt und zivile Todesopfer wissentlich in Kauf nimmt.
Migrant:innen sind keine Waffen, ihre Aufnahme in die EU keine Kapitulation
Ja, Lukaschenko nutzt Migrant*innen heimtückisch für seine Zwecke. Doch diese Menschen als „Waffen“ zu bezeichnen, ist gefährlich – und analytisch falsch. Gefährlich, weil es die Betroffenen völlig entmenschlicht, von ihren Fluchtgeschichten und Schicksalen entkoppelt, die dahinter stehen, und damit erst ihre unmenschliche Behandlung durch Polen möglich macht. Analytisch falsch ist die Bezeichnung, weil sie suggeriert, dass einige tausend Asylsuchende eine reale Bedrohung für die EU wären. Zum Vergleich: 2019 wanderten 2,7 Millionen Menschen offiziell in die EU ein – ein Großteil davon übrigens legale Arbeitsmigrant*innen. Auch das Argument, man dürfe die Menschen an der Grenze nicht aufnehmen, weil man sich damit von Lukaschenko erpressen lasse, ist nicht schlüssig. Lukaschenkos Ziel ist es mitnichten, Migrant*innen zu ordentlichen Asylverfahren in der EU zu verhelfen. Er will das Chaos an der Grenze. Wer Migrant*innen zu Waffen erklärt und ihre Aufnahme kategorisch ablehnt, spielt sein Spiel mit. Das verkennen jene, die der polnischen Regierung derzeit vorbehaltslos ihre Solidarität versichern.
Wer unsere Solidarität wirklich braucht
Unsere Solidarität brauchen zuallererst die Menschen, die im polnisch-belarussischen Grenzgebiet gestrandet sind. Sie kämpfen angesichts der Kälte, fehlender Verpflegung und Attacken von Sicherheitskräften beider Seiten buchstäblich um ihr Leben – neun Todesopfer sind bisher offiziell dokumentiert. Dass humanitäre Organisationen in der Grenzzone tätig werden können, ist ein erster Schritt, reicht jedoch nicht aus. Die Forderung von Heiko Maas, alle sich an der polnisch-belarussisch Grenze befindenden Aslysuchenden müssten in ihre Herkunftsländer zurückkehren, unterstellt pauschal, dass sich unter den Menschen gar keine „richtigen“ Geflüchteten befänden – oder dass den Menschen in den Herkunftsländern keine Gefahr drohe. Doch das trifft für viele Menschen, die aus dem Jemen oder Syrien nach Minsk gekommen sind, ebenso wenig zu wie für Afghan*innen, die aus der Türkei eingereist sind. Zur Erinnerung: in Jemen herrscht ein brutaler Krieg, in Syrien Diktator Assad und Chaos, und die Türkei schiebt Afghan*innen vermehrt in Nachbarländer ab. Wer diesen Menschen den Zugang zu ordentlichen Asylverfahren auf europäischen Boden verwehrt, verstößt gegen den Geist der Genfer Flüchtlingskonvention.
Unsere Solidarität benötigen jedoch auch die Menschen in Belarus, die unter Lukaschenko leiden. Polen setzt ihnen nun eine Hochsicherheitsgrenze vor die Nase. Die EU täte gut daran, sich auf ihre Unterstützungserklärungen für die belarussische Opposition zu besinnen, anstatt die finanzielle Beteiligung an einem Mauerbau zu erwägen, der den gefängnishaften Charakter des belarussischen Regimes noch zementiert.
Solidarität benötigen auch die polnischen Bewohner*innen im Grenzgebiet, sowie die unermüdlichen polnischen Menschenrechtsaktivist*innen, die Geflüchtete versorgen – und teilweise auch verstecken, um Pushbacks zu verhindern. Sie leben in ständiger Angst, von polnischen Sicherheitskräften oder Milizen erwischt und bestraft zu werden. Was denken sie sich eigentlich, wenn deutsche Politiker*innen der polnischen Regierung die Stange halten?
Brot für die Welt fordert Zugang zu ordentlichen Asylverfahren in der EU
Dagmar Pruin, Präsidentin von Brot für die Welt, hat in der vergangenen Woche deutlich gemacht, wie wirkliche Solidarität aussieht: Sofortige humanitäre Hilfe für die Menschen im Grenzgebiet und Einleitung ordentlicher Asylverfahren in den EU-Mitgliedsländern. Gleichzeitig müssen die Schleusernetzwerke Lukaschenkos zerschlagen werden. Falls es auf EU-Ebene bei der Aufnahme der Asylsuchenden zu keiner Einigung kommt, sollten willige EU-Mitgliedsstaaten voranschreiten. Wie bereits erwähnt – die Aufnahme einiger tausend Personen ist logistisch keine Herkulesaufgabe. Mit diesem Vorgehen würde man Polen keineswegs im Stich lassen. Im Gegenteil: Staaten wie Deutschland könnten zeigen, wie ein menschenwürdiger Umgang mit Asylsuchenden aussieht – und damit auch moderate Kräfte in Polen stärken.
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