Leider ist das BAMF bislang nicht bereit, gestützt auf die Entscheidung des EUGH vom 19.11.2020 syrischen Kriegsdienstverweigerern den Flüchtlingsstatus zuzubilligen: Bei Tausenden von Betroffenen, die dem Rat von Flüchtlingsorganisationen folgend einen Asylfolgeantrag gestellt haben, gehen derzeit lapidare Bescheide ein: Der Antrag sei „unzulässig“.
Das BAMF hat bereits in seinem Entscheiderbrief 12/2020 (S. 4 f.) angekündigt, dass alle Asylfolgeanträge mit der Begründung, die EuGH-Entscheidung sei keine Änderung der Rechtslage i.S.v. § 51 Abs. 1 Nr. VwVfG, als unzulässig abgelehnt werden. Die vorherrschende Meinung in Rechtsprechung und juristischer Literatut ging bislang (anders als RAin Kerstin Müller in: NK-AuslR, § 71 AsylG, Rn. 30) tatsächlich davon aus, dass die EuGH-Rechtsprechung keine Änderung der Rechtslage ist. In jüngster Zeit ist durch ein Urteil des EuGH aber Bewegung in diese Diskussion gekommen. Peter von Auer (PRO ASYL) hatte dies in dem Musterfolgeantrag wie folgt dargestellt:
„Diese Ansicht wird durch das Urteil des EuGH vom 14.05.2020 zu der Transitzone Röszke in Ungarn (C-924/19 PPU und C-925/19 PPU) bestätigt.
In dieser Entscheidung hat der EuGH festgestellt, dass der von Ungarn aufgestellte Unzulässigkeitsgrund der Einreise über einen „sicheren Transitstaat“ gemeinschaftsrechtswidrig ist. Der EuGH hält zwar fest, dass die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit nicht dazu führt, dass die Asylbehörde darauf basierende Unzulässigkeitsentscheidungen von Amts wegen zu prüfen hätte. Im Anschluss hieran betont der EuGH indessen, dass die Feststellung der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit geeignet ist, darauf gestützte Asylfolgeanträge zu legitimieren.
In Rn. 192 der Entscheidung führt der EuGH aus, dass das Vorliegen einer rechtskräftigen Entscheidung, mit der die Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz aus einem unionsrechtswidrigen Grund bestätigt wurde, den Betroffenen nicht daran hindert, einen Folgeantrag im Sinne von Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 zu stellen.
In Rn. 194 betont der EuGH: „Die Existenz eines Urteils des Gerichtshofes, mit dem die Unvereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Unionsrecht festgestellt wird […] stellt […] im Sinne von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 eine neue Erkenntnis im Hinblick auf die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz dar, so dass der Folgeantrag nicht auf der Grundlage dieser Bestimmung abgelehnt werden kann“.
In Rn. 198 heißt es schließlich: „Folglich ist Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen, dass er auf einen Folgeantrag im Sinne von Art. 2 Buchst. q dieser Richtlinie nicht anwendbar ist, wenn die Asylbehörde im Sinne von Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie feststellt, dass die bestandskräftige Ablehnung des früheren Antrags unionsrechtswidrig ist. Dies gilt zwingend, wenn sich die Unionsrechtswidrigkeit der Ablehnung des ersten Asylantrags wie hier aus einem Urteil des Gerichtshofs ergibt[…]“.
Der EuGH gibt damit vor, dass in Fällen, in welchen ein Folgeantrag auf eine Entscheidung des Gerichtshofs gestützt wird, aus welcher sich die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Ablehnung des ersten Asylantrags ergibt, dieser Folgeantrag nicht nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Asylverfahrensrichtlinie als unzulässig abgelehnt werden darf, sondern vielmehr jene Entscheidung, auf die der Folgeantrag gestützt wird, als neues Element oder als neue Erkenntnis i.S.d. Art. 40 Abs. 2 dieser Richtlinie anzuerkennen ist. Damit besteht aber nach Art. 40 Abs. 3 der Asylverfahrensrichtlinie die Pflicht, den Asylfolgeantrag inhaltlich zu prüfen (ebenso: Hruschka, Constantin: Am Schutz orientiert: Der EuGH zum Schutz bei Verweigerung des Militärdienstes in Syrien, verfassungsblog.de vom 20.11.2020; derselbe zitiert in: EuGH zum Schutzstatus von Syren: Vorm Wehrdienst kann man flüchten, LegalTribuneOnline vom 19.11.2020). Nach nationalem Recht lässt sich dies nur durch gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG umsetzen, indem die Rechtsprechung des EuGH als Änderung der Rechtslage i.S.d. Norm anerkannt wird. Der Gegenauffassung, wonach (Änderung der) Rechtsprechung – auch des EuGH – mit Ausnahme von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts mit Bindungswirkung nach § 31 BVerfGG keine Änderung der Rechtslage darstelle (Bergmann in: Bergmann/Dienelt, AuslR, § 71 AsylG, Rn. 25) kann nach dem Vorstehenden nicht mehr gefolgt werden“.
Diese hier ausgebreitete Argumentation sollte auch vor den Gerichten weiterverfolgt werden. Die Frage bleibt natürlich, ob sich das durchsetzt. Der VGH Baden-Württemberg hat bereits in einem obiter dictum in seinem Urteil vom 22.12.2020 entschieden, dass er bei der bislang herrschenden Meinung bleibt. Es wäre jedoch noch zu früh, daraus abzuleiten, dass die eingelegten Rechtsmittel keine Aussicht auf Erfolg böten. Insofern ist anzuraten, gestützt auf die hier ausgebreitete Argumentation gegen die Ablehnung von Folgeanträgen als „unzulässig“ zu klagen. Wer die Gründe schon in seinem Folgeantrag ausgebreitet hat, kann sich zur Begründung schlicht auf sein bisheriges Vorbringen stützen. Selbstverständlich sollten ergänzend aber auch individuelle Gründe dafür angeführt werden, warum im konkreten Fall aufgrund von Kriegsdienstverweigerung/Desertion mit einer Verfolgung durch die syrische Staatsgewalt gerechnet werden muss, wenn denn Informationen hierzu vorliegen.
Nachtrag 1:
Ausführlich begründet das OVG Berlin-Brandenburg in seiner Entscheidung vom 29.01.2021 – 3 B 109.18 –, warum einem syrischen Kriegsdienstverweigerer bei Rückkehr nach Syrien politische Verfolgung droht.
Nachtrag 2:
Peter von Auer (PRO ASYL) hat einen Musterklageschriftsatz verfasst und zur Verfügung gestellt. Er schreibt dazu:
Es ist zu befürchten, dass sich die Meinung des BAMF durchsetzen wird. Denn dass Gerichtsentscheidungen – auch solche des EuGH – keine Änderung der Rechtslage darstellen, ist – jedenfalls bislang – herrschende Meinung. Der VGH Baden-Württemberg hat bereits in einem Beschluss vom 22.12.2020 zu erkennen gegeben, dass er dieser Ansicht auch im Hinblick auf syrische Asylfolgeantragsteller, die sich auf die Entscheidung EZ stützen, weiter folgt.
Allerdings gibt es auch die entgegenstehende Auffassung, dass Entscheidungen des EuGH sehr wohl eine Änderung der Rechtslage darstellen und so auf der Grundlage des EuGH-Urteils in der Rechtssache EZ Asylfolgeverfahren möglich und erfolgversprechend sind.
Jenen, die versuchen möchten, die – gestützt auf diese Auffassung – die Durchführung eines Asylfolgeverfahrens vor Gericht zu erstreiten, geben wir einen Musterklageschriftsatz an die Hand.
Achtung:
Nicht in allen Konstellationen ist eine Klagebegründung alleine mit beiliegendem Musterklageschriftsatz ratsam, sondern sollte – mit Unterstützung eines Anwalts oder einer Anwältin – eine eigene Klagebegründung erstellt werden.
In manchen Fällen mögen sich etwa Asylfolgeanträge bzw. diese betreffende Klagen nicht nur auf die EuGH-Entscheidung E.Z. stützen, sondern auch auf eine Änderung der Sachlage.
Beispiel: ein Asylfolgeantragsteller ist als Minderjähriger, der noch nicht der Wehrpflicht unterlag, nach Deutschland gekommen. Da zum damaligen Zeitpunkt noch nicht wegen Verweigerung des Militärdienstes eine Strafverfolgung bzw. Bestrafung drohte, konnte ihm nicht aus den in der Entscheidung EZ behandelten Gründen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden. Unterliegt der Betreffende zwischenzeitlich aber der Wehrpflicht und will er aus politischen Gründen den Wehrdienst verweigern, liegt eine neue Sachlage vor, die – unabhängig von der Entscheidung EZ – eine Asylfolgeantragstellung rechtfertigt.
Jedenfalls in einem solchen Fall ist die Verwendung des Musterklageschriftsatzes alleine nicht ausreichend und sollte – mit Hilfe eines Rechtsanwalts oder einer Rechtsanwältin – eine eigenständige Klagebegründung erfolgen.
Und ein Kommentar zum Nachtrag: Das OVG NRW sieht es genau anders, AZ: 14 A 3439/18.A (https://www.ovg.nrw.de/behoerde/presse/pressemitteilungen/23_210322/index.php).
Das Thema wird vorerst ungeklärt bleiben, es wird jetzt sicher etwas dauern bis es erst mal beim Bundesverwaltungsgericht landet.
Ich würde aber zur Vorsicht raten, das Urteil des EuGH zu den ungarischen „Transitzentren“ (die in ihrer ganzen Konstruktion unionsrechtswidrig) auf den Fall der Wehrdienstentziehung zu übertragen. Denn in diesem spricht der EuGH nicht von einer Unionsrechtswidrigkeit. Das BAMF hat also nicht gegen Unionsrecht verstoßen, seine Entscheidung aufgrund des geltenden Unionsrechtes im konkreten Einzelfall war nach Ansicht der Richter schlicht nicht korrekt. Das ist für den vorliegenden Fall ein wichtiger Unterschied. Denn nicht das Verfahren oder Teile davon waren nach Unionsrecht falsch, sondern nach Ansicht der Richter die Interpretation. Entsprechend findet sich auch in dem Beschluss nirgends das Wort „unionsrechtswidrig“ bzw. „contrary to EU law“ (https://curia.europa.eu/juris/documents.jsf?num=C-238/19), anders als in dem Urteil zu Ungarn:
“ follows that Hungary has failed to fulfil its obligations under Article 46(5) of Directive 2013/32 in making the exercise by applicants for international protection who fall within the scope of that provision of their right to remain in its territory subject to conditions contrary to EU law“ (https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/HTML/?uri=CELEX:62018CJ0808&from=EN).
Aber: „contrary to EU law“ findet sich in der Entscheidung zu Kriegsdienstverweigerung wie gesagt nicht.
Man kann natürlich versuchen hier eine teleologische Extension durchzuführen um zu argumentieren, es müsste analog gelten…ich glaube aber nicht, dass dies von Erfolg gekrönt sein wird. Denn rechtlich sind „ist mit EU Recht unvereinbar“ und „wir kommen aufgrund desselben EU Rechts zu einem anderen Ergebnis“ zwei grundverschiedene Sachen. Anderes würde nur gelten, wenn das deutsche Asylsystem an sich so ausgestaltet wäre, dass „Wehrdienstentziehung“ niemals zu einer Flüchtlingsanerkennung nach §3AsylG führen könnte… das ist aber nicht der Fall. Nur dann wäre es unionsrechtwidrig, damit nichtig und damit wären alle vorherigen darauf beruhenden Entscheidungen nichtig. Aber wie gesagt, das sagt der EuGH eben gerade nicht.
Man kann es sicherlich versuchen, aber ich würde davon abraten die Hoffnungen auf einem realistischen Level zu halten. Die Rechtsauffassung von Pro Asyl ist eben nur das: Eine Auffassung. Ob die Gerichte das auch so sehen ist ziemlich offen.
Zuletzt muss man auch sagen: Selbst wenn der Asylantrag als zulässig behandelt werden sollte, ergibt sich daraus nicht automatisch eine Anerkennung als Flüchtling nach §3 AsylG. Das heißt nur, dass ein erneutes Asylverfahren durchgeführt wird. Ergebnis offen. Auch da könnte dann am Ende stehen: §4 AsylG. Das sollte man sich bewusst machen. Das einzige was da sicher ist, dass es keine „Herabstufung“ geben wird, dazu braucht es ein Widerrufsverfahren.