„Diplomatischer Eklat: Ausgespähte Erdoğan-Gegner wurden möglicherweise abgeschoben“ überschreiben Maximilian Popp und Anna-Sophie Schneider ihren jüngsten Spiegel-Bericht vom 26.02.2021 über die Folgen des Türkei-Skandals: Die Türkei hat 2019 den Anwalt der deutschen Botschaft festgenommen und zahlreiche Daten von Erdoğan-Gegnern in Deutschland beschlagnahmt (siehe Bericht vom 04. September 2020). Der akribischen Nachfrage und Aufarbeitung der Linken im Bundestag ist es zu verdanken, dass nach und nach das ganze Ausmaß des Skandals zutage tritt (siehe BT-Drs. 19/6758, Antwort der Bundesregierung vom 17.02.2021 auf eine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. zu Asylsuchenden aus der Türkei).
Der Anfrage lässt sich entnehmen, dass insgesamt wohl rund 1430 Geflüchtete durch die Beschlagnahmung von 900 Asylakten in Gefahr gebracht wurden. Gegenüber den ersten Angaben der Bundesregierung hat sich die Zahl der Betroffenen damit vervielfacht: In einer Sondersitzung des Innenausschusses zu dem Vorgang am 27.11.2019 hatte die Bundesregierung zunächst nur von 47 Akten und 83 Betroffenen gesprochen. Zu weiteren 287 Verfahren infolge einer Wohnungsdurchsuchung wurde lediglich angegeben, dass in 257 Fällen noch keine Entscheidung getroffen worden sei. Auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. erklärte die Bundesregierung im Januar 2020 (BT-Drs. 19/16825) dann: „Beim Kooperationsanwalt lagen zum Zeitpunkt seiner Verhaftung Vorgänge zu 59 Asylverfahren zur Bearbeitung, die insgesamt 113 Personen betreffen.“
Den nun von der Bundesregierung vorgelegten Zahlen ist nun zu entnehmen:
- In (nur) 336 (der etwa 900) Verfahren mit 575 Personen (von 1.430) liegt bislang überhaupt eine Asyl-Entscheidung vor.
- 489 von 575 Betroffenen haben einen Schutzstatus erhalten (277 Verfahren).
- Es gab 55 inhaltliche Ablehnungen für 76 Personen
- In zwei Verfahren (für acht Personen) entschied das BAMF, der gestellte Asylantrag sei unzulässig (vermutlich Dublin-Fälle), zweimal wurden Asylverfahren für erledigt erklärt.
Bewertung / Einschätzung:
Es ist skandalös, dass das BAMF früheren Versprechungen zum Trotz insgesamt 76 Geflüchteten, deren Akten an den türkischen Geheimdienst gelangt sind, jeglichen Schutz versagt hat und nicht einmal sagen kann, ob die Betroffenen abgeschoben wurden (das sei die „Zuständigkeit der Länder“), und was ihnen in der Türkei möglicherweise passiert ist. Mehr als ein Jahr nach der Festnahme des Vertrauensanwalts steht in knapp 600 Verfahren (mit etwa 900 Betroffenen) die Entscheidung des BAMF offenbar immer noch aus. Nachdem die Betroffenen durch eine Fahrlässigkeit deutscher Behörden gefährdet wurden, schiebt das BAMF die inhaltliche Entscheidung in der Mehrzahl der Fälle auf die lange Bank. Zu fordern ist, dass die Bundesregierung allen vom Türkei-Skandal betroffenen Geflüchteten umgehend Schutz gewährt und auch dafür sorgt, dass die Familienangehörigen sich in Sicherheit bringen können.
Weitere Infos:
Die Angaben zu türkisch- bzw. kurdischstämmigen Asylsuchenden aus der Türkei (Frage 2c) zeigen, dass die bereinigte Schutzquote bei kurdischen Asylsuchenden aus der Türkei bei Weitem niedriger ist als bei „türkischstämmigen“ Asylsuchenden: Während erstere nur zu etwa 15 Prozent anerkannt werden, erhalten letztere zu über 75 Prozent einen Schutzstatus (die um sonstige Erledigungen – etwa Dublin-Bescheide – bereinigte Schutzquote ist hinsichtlich der Frage, in welchem Umfang Schutz gewährt wird, aussagekräftiger als die unbereinigte Schutzquote):
Um formelle Entscheidungen bereinigte Schutzquote für das Herkunftsland Türkei:
Schutzquote kurdische Asylsuchende | Schutzquote türkische Asylsuchende | |
2019 | 17,1 % | 76,1 % |
2020 | 15,2 % | 76,1 % |
Im Jahr 2020 (bis November) erkämpften sich 367 kurdische Asylsuchende zusätzlich einen Schutzstatus vor Gericht– das waren 20,3 Prozent aller inhaltlichen Gerichtsentscheidungen (ohne sonstige Erledigungen und Dublinverfahren); bei „türkischstämmigen“ Asylsuchenden aus der Türkei gab es 213 gerichtlich ausgesprochene Schutzstatus – das waren 46,6 Prozent aller inhaltlichen Gerichtsentscheidungen. Es ist offenkundig, dass es die oftmals gut gebildeten und auf ihr Asylverfahren vorbereiteten Gülen-Anhänger:innen leichter haben, im deutschen Asylverfahren zu bestehen, als Kurdinnen und Kurden, denen wegen fehlender Beweise oftmals „Unglaubwürdigkeit“ vorgehalten wird.
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