Seit Beginn der Corona-Pandemie hat sich in den Lagern in Niedersachsen nichts geändert. Noch immer leben Geflüchtete in Erstaufnahmeeinrichtungen und kommunalen Unterkünften auf engstem Raum in Mehrbettzimmern. Immer wieder kommt es zu Vollquarantänen, wenn einzelne Menschen mit Corona infiziert sind.
In der Erstaufnahmeeinrichtung in Celle reichte im November 2020 bereits eine einzige bestätigte Corona-Infektion aus, um für alle rund 160 Menschen in der Einrichtung, darunter 66 Kinder mit ihren Familien, pauschal eine Ausgangssperre für insgesamt 15 Tage zu verhängen. Dabei hatte das Gesundheitsamt des Landkreises Celle nur 13 enge Kontaktpersonen der Kategorie I (neun dort untergebrachte Geflüchtete sowie vier Mitarbeiter:innen) ermittelt. Dies ergibt eine Antwort der Landesregierung auf eine Landtagsanfrage von Mitte Dezember 2020.
Das lässt nur einen Schluss zu: Geflüchtete in Sammelunterkünften werden schlechter behandelt als andere gesellschaftliche Gruppen. Und die handelnden Behörden missachten die Grund- und Menschenrechte von Geflüchteten, obwohl diese ausnahmslos für alle Menschen gelten.
Die Grund- und Menschenrechte verbieten es, einfach ein Ausgangsverbot über eine Asylunterkunft zu verhängen, statt die Belegungsdichte zu verringern. Denn schutzsuchende Menschen haben – wie alle Menschen – das Recht auf wirksamen Schutz vor #COVID19. pic.twitter.com/SFRQjX5yJr
— Für Menschenrechte (@DIMR_Berlin) December 1, 2020
Auch das Robert-Koch-Institut warnt in seinen Handlungsempfehlungen nachdrücklich vor pauschalen Quarantänen und der Abschottung ganzer Unterkünfte.
Die LAB-Außenstelle in Celle
Die konkreten Abläufe des Behördenhandelns in Celle sind empörend. Zwar weist die Landesregierung jede Verantwortung für die Quarantäne von sich. Aber auch wenn das Behördenkonstrukt in Celle nicht leicht zu durchschauen ist, ist es selbst gewählt. Vor mehreren Jahren entschied die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen (LAB NI), eine zum Geschäftsbereich des Niedersächsischen Innenministeriums gehörende Behörde, eine zusätzliche Außenstelle zu ihrer Erstaufnahmeeinrichtung in Braunschweig in Celle einzurichten. Dort standen Kasernengelände der ehemaligen Trenchard Barracks leer. Bis zu 250 Menschen können dort seither untergebracht werden. Die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen wollte die Einrichtung aber nicht selbst betreiben, sondern schloss eine Vereinbarung mit der Stadt Celle, die eigens eine Zuwanderungsagentur errichtete. Die Zuwanderungsagentur der Stadt Celle ist in der Erstaufnahmeeinrichtung in Celle im Auftrag der LAB NI als Betreiberin tätig.
Der Ablauf der Pauschalquarantäne in Celle
Nach Angaben des niedersächsischen Innenministeriums verfügte das Gesundheitsamt des Landkreises Celle am 3. November 2020 zunächst mündlich und im Laufe des Tages auch schriftlich gegenüber der Stadt Celle die vorsorgliche Quarantäne für alle in der Erstaufnahme Celle untergebrachten Menschen. Aufgrund der nachgewiesenen Infektion einer dort untergebrachten Person seien „bis zur Abklärung des Infektionsgeschehens und der Identifizierung der engen Kontaktpersonen des Indexfalles erhöhte Infektionsschutzmaßnahmen erforderlich“. Für alle dort untergebrachten Geflüchteten wurde sodann ein Ausgangsverbot verhängt. Die Beschulung auf dem Gelände wurde eingestellt. Die Stadt Celle informierte laut Innenministerium daraufhin die LAB NI, die aber nicht selbst eine Ausgangssperre für die Außenstelle Celle verhängt habe.
Nur für die engen Kontaktpersonen der Kategorie I sowie für Personen mit grippeähnlichen Symptomen wurden vom Gesundheitsamt Corona-Testungen angeordnet. Nach Angaben des Innenministeriums konnte aus Sicht des Gesundheitsamts dennoch die Aufteilung und Unterbringung der Bewohner:innen in sogenannten Kohorten nicht mehr sicher nachvollzogen werden, sodass folglich eine Quarantäne für alle Menschen angeordnet wurde. Dies wirft viele Fragen an das bestehende Unterbringungs- und Hygienekonzept der Einrichtung in Celle auf. Auch die LAB NI als Auftraggeberin kann sich hier nicht ihrer fachaufsichtlichen Verantwortung entziehen, weil offenbar die Zuwanderungsagentur Celle das Kohortenprinzip nicht klar durchgesetzt hat und es erst deswegen zur Pauschalquarantäne kam.
Für den Großteil der dort untergebrachten Geflüchteten endete das Ausgangsverbot erst nach 15 Tagen am 18. November 2020, für zwei Personen wurde es bis 25. November 2020 verlängert. Auf viele weitere Fragen der Landtagsanfrage antwortet die Landesregierung dann nicht mehr, denn sie sieht die alleinige Verantwortung für die Pauschalquarantäne beim kommunalen Gesundheitsamt.
- Die Landesregierung gibt keine Auskunft zu Rechtsgrundlage und Verhältnismäßigkeit des Handelns.
- Außerdem unterrichtet die Landesregierung nicht über die Zahl der von der Quarantäne betroffenen Minderjährigen.
- Wie will die Landesregierung zukünftig durch Weisungen an die Außenstellen der LAB NI verhindern, dass Kontakte aufgrund der Wohnbedingungen in den Einrichtungen für die örtlichen Gesundheitsämter angeblich nicht nachvollziehbar sind?
- Wie stellt die Landesregierung sicher, dass die örtlichen Gesundheitsämter künftig bei Infektionsausbrüchen in Einrichtungen der LAB NI einheitlich und rechtskonform vorgehen?
Insgesamt ist es ein Armutszeugnis, wie mit dem Infektionsausbruch seitens der die Einrichtung betreibenden Stellen von Land und Kommune umgegangen worden ist. Hinzu kommt, dass die Öffentlichkeit offenbar zunächst gar nicht informiert werden sollte, obwohl dies sonst in den Kommunen Niedersachsens bei Infektionsgeschehen in jeder größeren Einrichtung der Regelfall ist. Der Landkreis Celle informierte laut Cellescher Zeitung die Öffentlichkeit jedoch erst an Tag vier der Pauschalquarantäne.
Folgerichtig ist es nach Beendigung der Pauschalquarantäne, dass nach unseren Informationen die Belegungszahl in Celle bis Mitte Dezember 2020 auf ca. 50 Bewohner:innen gesenkt worden ist.
Viele Fragen bleiben offen
Braucht es die Erstaufnahme in Celle aktuell überhaupt? Die Belegung in allen Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes Niedersachsen hätte seit Beginn der Pandemie im März 2020 längst drastisch reduziert werden müssen, wie es viele NGOs und Expert:innen seither immer wieder gefordert haben. Spätestens mit Beginn der Pandemie und den zahlreichen Lockdowns und Shutdowns hätte die Landesregierung zudem die politische Festlegung aus dem Koalitionsvertrag von 2017, Personen im Dublin-Verfahren pauschal in den Erstaufnahmeeinrichtungen zu belassen, korrigieren müssen. Denn es war schon im Frühjahr 2020 absehbar, dass Dublin-Abschiebungen in andere Staaten angesichts der Pandemie in den meisten Fällen faktisch nicht möglich waren.
Stattdessen lebten am 25. Januar 2021 immer noch 2.500 Geflüchtete in den Einrichtungen der LAB NI, darunter rund 600 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Auch besonders schutzbedürftige Personen müssen dort teils über ein Jahr lang verharren, um sie innerhalb Europas abschieben zu können.
Zudem ist es in Zeiten von Lock- und Shutdowns ein Skandal, dass die Landesregierung es zulässt, dass Menschen in Mehrbettzimmern der Erstaufnahme gesundheitlich um ein vielfaches stärker gefährdet werden als der Rest der Bevölkerung. Es braucht endlich ein Ende der Mehrbettzimmerbelegung per Erlass. Es wäre die Aufgabe der Landesregierung, über ihr Landesgesundheitsamt dafür Sorge zu tragen, dass in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften die sogenannten AHA-Regeln und Social Distancing-Regeln von den Menschen auch eingehalten werden können, damit sie sich selbst effektiv vor einer Infektion schützen können.
Zuletzt hatte die Kommission zu Fragen der Migration und Teilhabe beim niedersächsischen Landtag Anfang November 2020 gefordert, geeignete Schutzmaßnahmen für Geflüchtete, Werksvertragsarbeitnehmer:innen und Obdachlose in Gemeinschaftsunterkünften zu ergreifen. Gehandelt hat die Landesregierung bislang dennoch nicht.
Nicht nur in Zeiten der Pandemie gilt: Alle in Niedersachsen lebenden Menschen müssen gleichermaßen geschützt werden. Das ist die zentrale Aufgabe von Politik und Verwaltungen.
Presseberichte
Massenquarantäne zu leichtfertig angeordnet? In: Cellesche Zeitung vom 29. Dezember 2020
Hintergrund
Wieder eine Vollquarantäne: 161 Schutzsuchende in Celle eingesperrt, 13. November 2020
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