Antisemitismus und die Rechte Schutz suchender Menschen in Zeiten von Covid-19
Redebeitrag des Flüchtlingsrats auf der Kundgebung der Seebrücke Hannover am 19.11.2020
Seit Beginn der Corona-Pandemie müssen wir antisemitische Massenaufmärsche ertragen. Gerade zuletzt in Leipzig und gestern in Berlin vor dem Bundestag hatten die antiaufklärerischen Anhänger:innen einer wahnhaften Ideologie große Auftritte.
Diese zumeist als Corona-Leugner bezeichneten Menschen inszenieren sich selbst als Opfer von Infektionsschutzmaßnahmen, haben aber gleichzeitig kein Problem damit, in der Menschenmenge Polonaise zu tanzen und so die wirklichen Opfer des Covid-19-Virus zu verhöhnen
Diese Antisemit:innen, die von einem sog. Bevölkerungsaustausch faseln, zelebrieren ihre Umsturzfantasien, in der Hoffnung eine gesellschaftliche Situation herbeizuführen, die sie ihrem Ziel einer völkisch-autoritären Gesellschaft näher bringt. Und auch wenn sich viele dieser Demonstrant:innen nicht als Rechtsextreme verstehen und sich ganz wenige auch von den anwesenden bekennenden Nazis verbal distanzieren, so ist es doch nicht unzulässig, sie alle pauschal als autoritär strukturierte Antisemit:innen zu bezeichnen. Ihre Verschwörungstheorie ist der Versuch die für viele sich eher abstrakt darstellende Bedrohung durch das Corona-Virus aber auch durch die kapitalistischen Zumutungen greifbar zu machen. Sie schaffen sich mit einer vermeintlichen zionistischen Verschwörung ein konkretes Feindbild, auf dass dann mit aller Macht eingedroschen werden kann. Die kontinuierlich steigenden Zahlen an antisemitischen Anschlägen und Übergriffen machen nur allzu deutlich, wie ernst die Bedrohung für Jüdinnen und Juden in Deutschland geworden ist.
Das, was die Corona-Leugner:innen als Verteidigung von Freiheit und Rechten darstellen, ist letztlich v.a. die Verteidigung ihrer Privilegien. Sie werden kaum Interesse an den Menschen haben, deren Rechte schon seit Jahrzehnten kontinuierlich beschnitten werden. Ich spreche von den Menschen, die nach Europa, die nach Deutschland kommen, um hier Schutz und ein besseres Leben zu finden
Im Gegenteil, ein großer Teil dieser Corona-Leugner:innen dürfte eher der Ansicht sein, dass die Geflüchtetem ihre Privilegien bedrohen und dass sie Teil der von ihnen halluzinierten Verschwörung sind, die das Ziel habe, einen sog. Bevölkerungsaustausch durchzuführen.
Wenn sich jetzt diejenigen, die anderen Menschen grundlegende Rechte absprechen, wenn diejenigen, die seit Jahren mit Propaganda und direkten Angriffen auf die zum Feindbild erklärten Menschen den gesellschaftlichen Konsens immer weiter nach rechts verschieben und denen es so letztlich gelungen ist, dass eine immer menschenverachtendere, grundlegende Menschenrechte ignorierende Asyl- und Flüchtlingspolitik etabliert wird, wenn diese Leute sich nun hinstellen und protestieren, weil sie durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie die eigenen Rechte bedroht sehen, dann ist der Widerspruch offensichtlich. Das passt nicht zusammen. Oder es passt nur zusammen, wenn man ein rassistisches Menschenbild hat und der Ansicht ist, dass Menschen eben nicht gleich an Rechten sind.
Denn diejenigen, die bereits seit Jahren einen kontinuierlichen Abbau ihrer Rechte hinnehmen müssen, dass sind nicht zuletzt die in Europa oder konkret in Deutschland Schutz suchenden Menschen:
Man könnte z.B. beim sog. Asylkompromiss, der 1992 von Bundestag und Bundesrat beschlossen wurde, anfangen, obgleich das längst nicht der Anfang war, aber doch eine Zäsur ungeheuren Ausmaßes. Im Gegensatz zu dem, was die AfD und andere Rechtsextreme von dem gestern verabschiedeten Infektionsschutzgesetz behaupten, war die Verstümmlung des Rechts auf politisches Asyl tatsächlich ein enormer Eingriff in das Grundgesetz.
Wenn wir von der Entrechtung Schutz suchender Menschen sprechen, könnte man mit der Dublin-Verordnung weitermachen, die die Aufnahme der Schutz suchenden Menschen v.a. auf die Staaten an den Außengrenzen der EU abwälzt. Man muss mit dem Ausbau der Festung Europa weitermachen, bei dem im Ergebnis zu Tausenden Menschen im Mittelmeer ertrinken und zivile Seenotretter:innen, die fliehende Menschen aus Seenot retten, kriminalisiert werden. Und schlimmer noch: Es werden Menschen aktiv einer Todesgefahr ausgesetzt, indem die Küstewache ihnen z.B. ihre Schlauchboote zerstört und sie in Rettungsinseln aussetzt.
Man muss weitermachen bei den Zuständen auf der sog. Balkanroute, auf der bereits seit Jahren unter Anwendung brutaler Gewalt Menschen daran gehindert werden, in die EU zu gelangen, um Asyl zu beantragen. Erst gestern hat Spiegel-online das brutale Vorgehen der kroatischen Grenzbeamten mit Berichten bestätigt. Und ein Video der Solidaritätsgruppe No Name Kichten dokumentiert Pushbacks von Slowenien über Kroatien zurück nach Bosnien und zeigt, wie eine Gruppe Schutzsuchender misshandelt wurde (das Video kann man z.B. auf der Webseite des Flüchtlingsrates ansehen). Es gibt Berichte von regelrechten Folterungen.
Dies alles hat bisher keine rechtlichen Konsequenzen für die Grenzbeamten. Sie dürfen straffrei Gewalttätigkeiten an Asylsuchenden begehen. Diesen Menschen wird nicht einmal das Recht auf ein unversehrtes Leben, ja sogar nicht einmal auf das blanke Leben an sich zugestanden.
Wenn wir von Einschränkung grundlegender Rechte sprechen, dann muss man an den sog. EU-Türkei-Deal erinnern, der seit März 2016 das Recht auf Schutz für Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Man muss in Erinnerung rufen, wie im März Menschen, die in die EU fliehen wollten an der griechisch-türkischen Grenzen mit militärischer Gewalt bekämpft wurden und dabei ein Mensch zu Tode kam.
Und es geht auf europäischer Ebene mit dem sog. Migrationspakt weiter, den die EU-Kommission Ende September vorgelegt hat. Dieser „teuflische Pakt“, wie Pro Asyl ihn zurecht bezeichnet, lässt sich auf die Begriffe „abschrecken, abwehren, internieren, abschieben“ reduzieren. Die EU Migrationskommissarin Ylva Johannson erklärte sehr freimütig, welches Signal von diesem (bisher noch nicht verabschiedeten) Pakt ausgehen soll: „Die Botschaft lautet: Du wirst zurückkehren.“
Und ein weiteres Zitat von ihr: „Die keine Rechte haben, sollen nach Hause gehen.“
Es ist nicht zu erwarten, dass irgendjemand der Schutz suchenden Menschen bei Verwirklichung dieser Pläne noch nennenswerte Rechte haben wird. Schon jetzt sprechen die Asylverfahren in den griechischen Hotspots jedem rechtsstaatlichen Anspruch Hohn. Mit dem nun vorgelegten Vorschlag eines EU-Paktes für Migration und Asyl wird die Entrechtung Schutz suchender Menschen in der EU neue Dimensionen erreichen und manifestiert.
Aber blicken wir ruhig auch wieder auf Deutschland: Was hier in den letzten Jahren an Verschärfungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht geschehen ist, ist in der Dimension mit dem sog. Asylkompromiss von 1992 ohne weiteres zu vergleichen. Gesetzesänderungen lassen nun zu, dass Asylbewerber:innen über Jahre in Lagern leben, die Möglichkeiten der Abschiebungshaft wurden enorm ausgeweitet, Leistungskürzungen theoretisch bis auf Null sind möglich…, um nur einige gravierende Verschärfungen zu nennen.
Gerade jetzt in der Corona-Pandemie können wir erkennen, dass die Rechte der Geflüchteten weniger zählen, als die anderer. Noch immer leben etliche Asylsuchende in Mehrbettzimmern in großen Lagern oder Sammelunterkünften und teilen sich mit vielen Leuten Toiletten, Duschen und Küchen. Der Infektionsschutz kann unter solchen Bedingungen nicht eingehalten werden. Auf besonders gefährdete Personen wird oftmals auch keine Rücksicht genommen, die Menschen müssen sich den Auszug aus den Lagern in Wohnungen, in denen sie vor dem Corona-Virus besser geschützt sind, auf dem Klageweg erstreiten.
Und wenn Covid-19-Erkrankungen in Sammelunterkünften auftreten, werden oftmals gleich ganze Lager ohne weitere Differenzierung unter Quarantäne gestellt und die Ausgangssperren zuweilen unter Polizeieinsatz durchgesetzt, während gleichzeitig die Bewohner:innen nicht selten nur unzureichend informiert werden. Es gibt Berichte über an Covid-19 erkrankten Geflüchteten, die nicht einmal eine Gesundheitsversorgung erhielten.
Hinzu kommt, dass zu vielen Lagern kaum Zugangsmöglichkeiten bestehen. Es gibt kaum mehr Transparenz über die Zustände darin, sie werden zu black boxes. So gab es Berichte über gewalttätige Übergriffe durch Sicherheitspersonal, die aber nur schwer zu belegen sind.
Wenn wir von Einschränkung grundlegender Rechte sprechen, gegen die es sich aufzulehnen gilt, dann haben wir im Bereich der Situation Geflüchteter ausreichend Anlass. Es ist geradezu deprimierend, wie wenig Empörung diese Entrechtungen und die in der Asylpolitik stattfindende Verrohung hervorruft.
Jedem vernünftigen Menschen dürfte über die Monate klar geworden sein, dass die Corona-Pandemie eine ernstzunehmende Bedrohung gerade für ältere oder vorbelastete Menschen ist und Schutzmaßnahmen daher notwendig sind. Selbstverständlich ist es auch notwendig, Freiheitsrechte nicht einfach herzugeben und darauf zu achten, dass Grundrechte nicht unwiederbringlich beschnitten werden. Aber eine Verschwörung steht hinter den Infektionsschutz-Maßnahmen oder gar der Verbreitung des Corona-Virus ganz bestimmt nicht. Solche Ansichten sind gefährlicher antisemitischer Dreck.
Tatsache ist: Die Corona-Pandemie verschärft gesellschaftliche Gegensätze und bringt sie noch deutlicher zum Vorschein.
Wir sollten das zum Anlass nehmen, gesellschaftliche Zustände grundlegend zu überdenken und zu ändern. Dies kann aber immer nur aus einer Position der Aufklärung geschehen und mit dem Ziel einer solidarischen Gesellschaft, in der die Rechte aller Menschen gleich viel zählen.
Und darum gilt mehr denn je: Leave No One Behind!
(Inhaltliche Verantwortung: Sigmar Walbrecht)
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