Schleppende Aufnahme von Schutzsuchenden von den europäischen Außengrenzen

Auf dem Flughafen in Hannover-Langenhagen sind am Mittwochvormittag weitere 121 Schutzsuchende aus Griechenland angekommen. Sie gehören zu der Gruppe der 243 kranken Kinder und ihrer Familien (insgesamt etwa 930 Personen), deren Aufnahme aus griechischen Lagern die Bundesregierung auf Basis der Vereinbarungen der Innenministerkonferenz (19. bis 23. Juni 2020) zugesagt hatte. Der Flug vom Mittwoch war der dritte im Rahmen dieser Aufnahme. 17 der jetzt Angekommenen bleiben in Niedersachsen.

Zuvor hatte Deutschland im April und Juni 2020 53 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus Griechenland aufgenommen, die zum Teil in Niedersachsen blieben und zum Teil auf andere Bundesländer verteilt wurden.

Insgesamt hat Niedersachsen damit seit April 2020 lediglich 41 Menschen aus den griechischen Elendslagern aufgenommen.

Dass diese Aufnahme völlig unzureichend ist, liegt auf der Hand: Allein auf den griechischen Inseln werden noch immer 28.000 Menschen unter widrigsten Bedingungen festgehalten (Stand 25. August 2020). Und auch die Lager auf dem griechischen Festland sind unzureichend, viele Schutzsuchende sind mittlerweile sogar gänzlich obdachlos geworden, weil sie gezwungen wurden, die Camps zu verlassen.

Zugleich bleibt die Situation auf dem zentralen Mittelmeer katastrophal. Das Handelsschiff Etienne sitzt seit 5. August mit 27 aus Seenot Geretteten vor Malta fest und erhält keinen sicheren Hafen. Die Sea-Watch 4, das gemeinsam mit der Evangelischen Kirche betriebene Rettungsschiff, hat über 200 Gerettete an Bord: Ihr Gesundheitszustand ist schlecht, sie müssen dringend evakuiert werden. Und vor der libyschen Küste ereigneten sich binnen einer Woche vier Schiffsunglücke, bei denen mindestens 100 Flüchtlinge gestorben sind. 160 Menschen werden vermisst.

Die Aufnahme von Schutzsuchenden von den europäischen Außengrenzen darf sich also nicht länger in Symbolpolitik erschöpfen, die minimale Aufnahmen von Menschen auf der Flucht als humanitäre Großtaten verkauft, während Zehntausende unter elenden Bedingungen leben müssen oder im Mittelmeer ertrinken.

Seit seinem Besuch des Camps Moria auf Lesbos im Herbst 2019 betont der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius zwar immer wieder seine Vorreiterrolle bei der Aufnahme von Schutzsuchenden – zumindest wenn es um unbegleitete Kinder geht. Die praktische Aufnahmebereitschaft der Landesregierung bleibt aber dürftig und weit hinter den Möglichkeiten Niedersachsens zurück. So hat die Landesregierung dem Bund nach der Innenministerkonferenz lediglich die Aufnahme von 160 Schutzsuchenden aus Griechenland angeboten, während Berlin, Thüringen, Nordrhein-Westfalen und sogar Bayern deutlich mehr Plätze in Aussicht gestellt haben.

In Niedersachsen ist die Aufnahmebereitschaft auch weit größer: In Niedersachsen haben sich bislang 33 Kommunen zu Sicheren Häfen erklärt und ihre Bereitschaft bekundet, mehr Schutzsuchende aufzunehmen, als sie nach dem regulären Verteilungsschlüssel aufnehmen müssten. Im Juni 2020 haben über 130 niedersächsische Organisationen, Vereine und Initiativen sowie mehrere Bürgermeister:innen, Oberbürgermeister:innen und Landrät:innen die Landesregierung in einem Offenen Brief an die Landesregierung aufgefordert, auch Niedersachsen zum Sicheren Hafen zu erklären und ihre Möglichkeiten zu nutzen, um die zusätzliche Aufnahme von Menschen auf der Flucht zu ermöglichen.

Weiterhin notwendig ist ein niedersächsisches Landesaufnahmeprogramm nach dem Vorbild von Berlin und Thüringen und ein deutlich größeres Engagement Niedersachsens bei der Aufnahme von den europäischen Außengrenzen.

Antwort der Bundesregierung auf eine mündliche Frage der Bundestagsabgeordneten Gökay Akbulut (Linke), 21. Juli 2020

Hintergrund

Das Kabinett in Thüringen hat am 2. Juni 2020 eine eigene Landesaufnahmeanordnung beschlossen. Bis Ende 2022 will das Land Thüringen 500 Schutzsuchende zusätzlich aus griechischen Lagern aufgenommen werden. Der Fokus liegt auf unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, allein reisenden Frauen und Schwangeren.

Der Senat in Berlin hat am 16. Juni 2020 ebenfalls eine Landesaufnahmeanordnung beschlossen. Bis 30. Juni 2021 will das Land Berlin 300 Schutzsuchende aus griechischen Lagern zusätzlich aufnehmen. Die Zielgruppe sind unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, allein reisende Frauen und Schwangere, Covid-19-Hochrisikogruppen, religiöse Minderheiten, wegen sexueller Orientierung Verfolgte, Traumatisierte und Schwerkranke.

Beide Landesaufnahmeanordnungen wurden mittlerweile von Bundesinnenminister Horst Seehofer abgelehnt. Die Länder Berlin und Thüringen beraten derzeit, ob sie die Ablehnung des Bundesinnenministers anfechten.

Materialien

Antwort der Bundesregierung auf eine mündliche Frage der Bundestagsabgeordneten Gökay Akbulut (Linke), 21. Juli 2020

Flüchtlingsrat Niedersachsen, Aktionsseite Sicherer Hafen Niedersachsen

Kontakt

Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.
Sascha Schießl, Referent der Geschäftsführung
Tel.: 0511 – 85 64 54 59
Email: sas@nds-fluerat.org, nds@nds-fluerat.org

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