Standards für ärztliche Begutachtungen erforderlich

Die jüngsten erfreulicherweise von Report Mainz dokumentierten Auseinandersetzungen um den Gutachter Dr. Vogel verweisen einmal mehr auf die grundsätzliche Problematik des Umgangs mit gesundheitsbezogenen Abschiebehindernissen.

Im Bundesland Bremen gibt es seit dem 26.4. einen neuen Erlass zum Umgang mit gesundheitlichen Abschiebehindernissen. Dabei nimmt Bremen zunächst eine ähnliche Beschreibung des Prüfauftrages vor wie Niedersachsen.

Die klassische Trennung – Bundesamt entscheidet alles ab Ankunft im Zielstaat, Ausländerbehörde prüft die Vollziehbarkeit der Abschiebung und in dem Zusammenhang die „Unmöglichkeit der Abschiebung aus tatsächlichen Gründen wegen Reiseunfähigkeit im Krankheitsfall“ – führt zur Fokussierung auf die Frage, ob gesundheitliche Risiken und insbesondere Suizidgefährdung, die bei einer Abschiebung bestehen, durch ärztliche Begleitung ausgeschlossen werden können.

Bemerkenswert ist jedoch Ziffer 4 des Erlasses, nach dem „der Ausländer (im Falle des Einreiches unzureichender Atteste) schriftlich darauf hinzuweisen ist, dass eine Anerkennung nur erfolgen kann, wenn die für eine substantiierte Darlegung der Erkrankung fehlenden Unterlagen vorgelegt werden. Hierfür ist eine angemessene Frist einzuräumen.

Hier wird den Betroffenen eine faire Chance gegeben, kriterienadäquate Stellungnahmen einzureichen.

Unter Nr. 6 des Bremer Erlasses ist festgelegt, dass die Ausländerbehörde eine Überprüfung von Attesten nicht vornehmen muss, wenn diese die in der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 11.9. 2007 genannten Qualitätskriterien erfüllen Bei Zweifelns ist zwingend das Gesundheitsamt einzuschalten. Wörtlich heißt es in dem Erlass:

„Ermöglicht ein vom Ausländer vorgelegtes, privatärztliches Attest der Ausländerbehörde keine abschließende Beurteilung des Sachverhaltes, ist ein Gutachten des Gesundheitsamtes einzuholen.“

Eine solche klare Festlegung der Zuständigkeit lehnt Schünemann ab. Er weigert sich auch, den Ausländerbehörden Qualitätskriterien für Begutachtungen und eine entsprechende Liste fachlich qualifizierter Gutachter vorzulegen, die eine den bundesweiten Standards entsprechende Begutachtung vornehmen können. Besonders erschreckend ist, dass der Innenminister trotz offensichtlicher qualitativer Mängel der Gutachten auch Dr. Vogel weiterhin empfehlen will.

Die Ausländerbehörden haben … nach pflichtgemäßen Ermessen darüber zu entscheiden, welche Amtsärzte, Fachärzte oder sonstigen Gutachter sie einschalten, wenn medizinische oder psychologische Fragen bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen bewertet werden müssen.      Die Landesregierung sieht nach wie vor keine Veranlassung, die Ausländerbehörden anzuweisen, welche Ärztinnen oder Ärzte mit der Erstellung von Gutachten über die Reisefähigkeit ausreisepflichtiger Ausländerinnen und Ausländer zu beauftragen sind“, so Schünemann in seiner Antwort auf eine aktuelle Anfrage der Grünen im nds. Landtag angesichts der Vogel-Affäre.

Warum Schünemann von der Beauftragung der Amtsärzte nicht viel hält, hat er bereits am 06. März 2008 vor dem Landkreistag in Bad Zwischenahn offen angesprochen:

„… Auch ist es nicht Aufgabe von Amtsärzten, eine gebotene Rückführung ins Heimatland dadurch zu verhindern, indem sie die geringeren Standards des dortigen Gesundheitssystems zum Anlass nehmen, durch entsprechende Atteste den Betroffenen einen Verbleib in Deutschland auf Kosten der Allgemeinheit zu ermöglichen. Die Fachaufsicht in meinem Hause muss und wird darauf achten, dass die in Bundestag und Bundesrat mit großer Mehrheit geschaffenen Regeln weiterhin wirksam bleiben.“

Niedersachsen hat sich daher – anders als NRW – auch geweigert, den Informations- und Kriterienkatalog für Niedersachsen für verbindlich zu erklären, der von einer gemeinsamen Arbeitsgruppe von Ländervertretern und Vertretern der Bundesärztekammer zu Fragen der ärztlichen Mitwirkung bei Rückführungen erstellt wurde.

In diesem Kriterienkatalog wird festgehalten, dass der ärztliche und ggf. der psychologisch/psychotherapeutische Sachverständige den Patienten in seiner gesundheitlichen Situation ganzheitlich zu betrachten und die medizinischen Konsequenzen seines ärztlichen Handelns zu beachten hat. Deshalb hat der Sachverständige die Möglichkeit, sich im Rahmen seiner Exploration auch über den eigentlichen Auftragsinhalt hinaus zu äußern.

In NRW gibt es zudem eine Ärzteliste, aus der ersichtlich ist, welche Sachverständigen und Gutachter es gibt, die für die Begutachtung psychoreaktiver Traumafolgen nach dem Curriculum der Bundesärztekammer qualifiziert sind. Ein entsprechendes Ausbildungscurriculum, wie es in zahlreichen anderen Bundesländern existiert, wäre auch in Niedersachsen jederzeit mit der Ärztekammer und dem Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge NTFN durchzuführen. Einige Gutachter aus Niedersachsen haben bereits an diesem Curriculum teilgenommen.

Der 111. Deutsche Ärztetag hatte die Innenminister der Länder 2008 erneut dazu aufgerufen, den Informations- und Kriterienkatalog einzuführen. „Nach ärztlich-ethischem Verständnis ist vor einer Abschiebung neben der Flugreisefähigkeit und der Berücksichtigung aller relevanten Krankheitsbilder vor allem die konkrete Gefahr der Reaktualisierung/ Retraumatisierung im Sinne einer erheblichen Gesundheitsverschlechterung zu berücksichtigen. Dies zu beurteilen erfordert erfahrene ärztliche ggf. psychologisch-psychotherapeutische Sachverständige. Flugmediziner sind dafür ungeeignet.“ (111. Ärztetag Beschlüsse zu Flugmedizin)

Es geht in der aktuellen Auseinandersetzung um mehr als einen Gefälligkeitsgutachter namens Dr. Vogel – es geht um ethische Standards im Umgang mit Flüchtlingen.

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