Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen hat in einem von RA Jan Sürig erstrittenen Beschluss vom 09.04.2020 (siehe Anhang) in Frage gestellt, dass Leistungskürzungen nach § 1a AsylbLG vereinbar sind mit der durch das Grundgesetz garantierten Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Da der Beschluss durch ein Landessozialgericht von einiger Bedeutung sein dürfte, soll hier noch mal auf wesentliche Aussagen aus der Entscheidung hingewiesen werden:
In dem Beschluss wurden einer Familie, die im Dezember 2014 aus Serbien eingereist war und einen Asylantrag gestellt hatte, im Eilverfahren vorläufig bis zur Entscheidung über die eigentliche Klage Leistungen nach § 2 AsylbLG zugesprochen. Die bisherigen Kürzungen waren durch den Landkreis Osterholz-Scharmbeck zuletzt mit der mangelnden Mitwirkung bei der Identitätsklärung und Passbeschaffung begründet worden.
Das LSG sah die Mitwirkungspflicht jedoch erfüllt und stellte zudem fest, dass Roma (in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens) „nicht selten nicht“ im Geburtsregister erfasst wurden. Hinweise des Landkreises zur Mitwirkung seien zu unkonkret und zudem über einen langen Zeitraum nicht ergangen. Stattdessen wurden lediglich Leistungskürzungen vorgenommen, die anfangs nicht mit fehlender Mitwirkung begründet wurden. Die „mangelnde Aufenthaltsbeendigung“ sei daher nicht allein den Betroffenen anzulasten, sondern das Landessozialgericht stellt fest, dass „vielmehr die über Jahre erfolgte Untätigkeit der Ausländerbehörde in Form einer konkreten Mitwirkungsaufforderung eine entscheidende konkurrierende Mitursache gesetzt hat“.
Auch eine Kürzung nach § 1a Abs. 2 AsylbLG, nach der Leistungseinschränkungen vorgesehen sind, bei Menschen, denen vorgeworfen wird, eingereist zu sein, um Leistungen zu beziehen (sog. „Um-zu-Einreise“), kommt laut LSG nicht in Frage. Der Entschluss, einzureisen, um Leistungen zu erhalten, müsse das prägende Motiv und schon bei der Einreise gefasst sein. Prägendes Motiv in diesem Fall waren aber die elenden Lebensbedingungen, denen die Familie in Serbien ausgesetzt war. Da der Vater einen Antrag auf Beschäftigungserlaubnis gestellt hatte, sei es „nicht ausgeschlossen“, dass er die Lebensgrundlage „mit eigenen Kräften so weit als möglich sicherstellen wollte“, so das Gericht.
Hervorzuheben ist auch, dass das LSG in seinem Beschluss in Frage stellt, dass Leistungskürzungen auf Dauer wegen einer „Um-zu-Einreise“ überhaupt zulässig sind, da es sich nicht um eine verhaltensbedingte Leistungseinschränkung handele. Schließlich verweist das Landessozialgericht auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 05.11.2019, die „die grundlegende Frage der Vereinbarkeit der Anspruchseinschränkungen nach § 1a AsyIbLG mit dem Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ aufgeworfen habe. Die Tatsache, dass die Familie nicht ausgereist ist, sei überdies kein rechtsmissbräuchliches Verhalten, dass als Begründung für Leistungskürzungen herangezogen werden kann.
Beschluss LSG Nds.-HB: keine Kürzungen bei Um-zu-Einreise, 09-04-2020
Keine Leistungskürzung bei Weigerung die „freiwillige Ausreise“ zu erklären:
Bereits mit Beschluss vom 16.01.2020 hatte das LSG Niedersachsen-Bremen festgestellt, dass Leistungskürzungen nicht allein deshalb verhängt werden dürfen, weil eine ausreisepflichtige Person eine Erklärung über die Bereitschaft zur „freiwilligen Ausreise“ verweigert. „Die von dem Antragsteller geforderte Freiwilligkeitserklärung steht nicht – wie von § 49 Abs. 2 AufenthG gefordert – mit dem Deutschen Recht im Einklang, weil sie von dem Antragsteller, der nicht ausreisen will, ein Verhalten verlangt, dass seine Intimsphäre als unantastbaren Kernbereich des Persönlichkeitsrechts des Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG berührt“, so das LSG in seiner Begründung.
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