Unter dem Hashtag #Wir haben Platz demonstrierten am 08. Februar 300 Menschen in der Innenstadt von Hannover für die Aufnahme von Flüchtlingskindern und Familienangehörige aus den Lagern auf den griechischen Inseln in Deutschland. Nachfolgend dokumentieren wir den Redebeitrag von Gerlinde Becker für den Flüchtlingsrat Niedersachsen:
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Rede des Flüchtlingsrates Niedersachsen zum bundesweiten Aktionstag „#WirhabenPlatz“ am 08. Februar 2020, Hannover
In diesem Moment leben in Griechenland über 4.000 Minderjährige, die ohne Eltern oder Familie geflohen sind – und täglich kommen neue hinzu. Es gibt aber nur etwa 1.000 kinder- und jugendgerechte Unterbringungsplätze – in ganz Griechenland. Alle anderen Kinder leben unter katastrophalen Bedingungen auf der Straße, in Flüchtlingslagern für Erwachsene, werden zu ihrem „Schutz“ inhaftiert, oder leben unter Plastikplanen in den Hotspots.
Hier sind sie ungeschützt vor Gewalt und Ausbeutung, leiden an mangelhafter Versorgung und erhalten kaum pädagogische, psychologische oder rechtliche Unterstützung. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen sagt, dass, insbesondere auf Lesbos, vermehrt Selbstmordversuche und Selbstverletzungen Minderjähriger registriert werden – wegen der Ausweglosigkeit ihrer Situation.
Es kann nicht sein, dass innerhalb der Grenzen der Europäischen Union – die sich als Bastion der Menschenrechte sieht – Personen und insbesondere Kinder in derart unwürdigen Zuständen sich selbst überlassen werden. Es ist unfassbar, dass wir nicht einmal innerhalb der EU dazu imstande sind – oder es sein wollen –, ein Grundmaß an Menschlichkeit für die besonders Schutzbedürftigen unter uns zu ermöglichen.
Dabei gibt es Wege. Die politischen Grundlagen existieren bereits: Zum Beispiel Relocation-Programme, die auch in der Vergangenheit Menschen legale Wege nach Deutschland geebnet haben. Oder der Selbsteintritt Deutschlands, der über die Dublin-3-Verordnung geregelt ist. Die Länder könnten eigene Aufnahmeprogramme aufstellen, wodurch Menschen an bereite Kommunen verteilt werden. Der Haken: Alle Optionen brauchen die Zustimmung des Bundes. Kleiner Spoiler: der Bund will alles nicht.
Viele von uns haben längst erkannt, dass wir Verantwortung für die gestrandeten Menschen in Griechenland übernehmen müssen. 8 Bundesländer und dutzende Kommunen in ganz Deutschland haben sich öffentlich bereit erklärt, Kinder und Jugendliche aus den griechischen Lagern aufzunehmen. Über 75.000 Menschen unterstützen die Petition für die sofortige Aufnahme von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten aus Griechenland.
Anders die Bundesregierung. Bundesinnenminister Seehofer hat jegliche Vorstoße, unbegleitete minderjährige Geflüchtete aus griechischen „Hotspots“ in Deutschland aufzunehmen, bereits im Dezember vergangenen Jahres zurückgewiesen. Deutschland unterstütze Griechenland doch schon: mit Geld und technischem Know-How. Es ist der Bundesregierung offensichtlich wichtiger, die Elendslager als Symbole der Abschreckung zu erhalten, als dafür zu sorgen, dass die Rechte von Schutzbedürftigen gewahrt werden.
Der Zustand in Griechenland wird als Normalität abgetan, der Preis dafür ist die Entrechtung schutzsuchender Menschen. Europäische Verteilungsprinzipien und die aktuellen Verhandlungen um eine neue EU-Asylpolitik werden als Begründung vorgeschoben, untätig zu bleiben.
Das ist interessant, denn bisher schien sich die Bundesregierung nicht allzusehr für die Umsetzung bereits etablierter europäischer „Prinzipien“ zu interessieren: Sie ließ in den vergangenen Jahren tausende Anträge auf Einreise zu hier lebenden Angehörigen ins Leere laufen. Seehofers Kompromisslösung – die Beschleunigung von knapp 150 anhängigen Verfahren von Kindern in Griechenland – ist kein Gnadenakt, sondern die längst fällige Umsetzung eines Rechtsanspruchs.
Auch wissen wir, dass Verhandlungen auf europäischer Ebene Jahre dauern können. Doch diese Zeit haben diese Kinder und Jugendlichen nicht!
Diese Blockadehaltung und fortgesetzte Abschottungspolitik der Bundesregierung ist unerträglich. Während tausende Menschen unter elenden Bedingungen in Camps wie Moria auf Lesbos leben müssen, sind die Aufnahmekapazitäten in Deutschland vorhanden. Allein für Niedersachsen wäre es kein Problem, schon 1.000 unbegleitete Kinder und Jugendliche aufzunehmen – die Jugendhilfeeinrichtungen haben Plätze frei. Die Ressourcen und die Kapazitäten sind vorhanden. Auch die Menschlichkeit, die gelebte Solidarität und der Wille, diese Solidarität politisch umzusetzen, sind schon längst da.
Wir vom Flüchtlingsrat Niedersachsen fordern also,
- dass die Hotspots geschlossen werden und die dort lebenden Menschen endlich im Rahmen einer humanitären europäischen Lösung umverteilt werden.
Wir fordern
- die Beschleunigung aller längst anhängigen Verfahren des Familiennachzugs, damit Familien zu ihrem Recht auf Zusammenleben kommen.
Wir fordern
- die Beendigung des EU-Türkei-Deals, der nur für eine Verschärfung der Situation auf den griechischen Inseln geführt hat.
Und vor allem fordern wir
- die sofortige Aufnahme aller unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge aus Griechenland!
Denn:
Wir haben Platz!
Wenn uns das Grundgesetz und die Menschenrechte noch etwas wert sind – dann müssen wir schnellstmöglich unbegleitete Jugendliche von den griech. Inseln aufnehmen dürfen. Alles andere ist zutiefst unmenschlich.