Ben Bakayoko: Kampf, um bleiben zu können

Jedes Jahr werden tausende Asylsuchende zwischen den Mitgliedsstaaten der EU (sowie Norwegen, Island, der Schweiz und Liechtenstein) hin- und hergeschoben. Dies geht schon seit Jahren so. Grund dafür ist das sogenannte Dublin-System. Laut Dublin-Regelungen* müssen Schutzsuchende ihr Asylverfahren in dem EU-Land** durchlaufen, das sie zuerst betreten haben. Wer in einem Staat (etwa in Deutschland) einen Asylantrag stellt, aber zuvor in einem anderen Staat (etwa Italien) registriert wurde, muss nach den Dublin-Regelungen dorthin „überstellt“ – also abgeschoben – werden.

Welche Folgen das Dublin-System für die Betroffenen hat, zeigt eindrücklich die Geschichte von Ben Bakayoko. Nach langer Begleitung konnte der Flüchtlingsrat Niedersachsen im Frühjahr 2019 dazu beitragen, dass eine Abschiebung aus dem Landkreis Gifhorn nach Italien verhindert wurde. Denn immerhin lebte er bereits seit 2016 in Deutschland, war verlobt und werdender Vater.

Ben Bakayoko: Kampf, um bleiben zu können

2016 flieht der heute 23-jährige Ben Bakayoko aus der Elfenbeinküste über Italien nach Deutschland und beantragt Asyl. Das Verwaltungsgericht Braunschweig ordnet am 12. Juni 2017 wegen Mängeln des italienischen Asylsystems im Eilverfahren an, dass die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) verfügte Abschiebung nach Italien vorläufig ausgesetzt wird.

In der Folgezeit legt der junge Ivorer eine Bilderbuchintegration vor: Er lernt Deutsch, macht Praktika und nimmt mit Erlaubnis des Landkreises Gifhorn im Spätsommer 2017 eine geringfügige Beschäftigung auf. Später schließt er einen Ausbildungsvertrag zum Informations- und Telekommunikationssystem-Kaufmann mit einer Firma aus Gifhorn ab. Die Industrie- und Handelskammer bestätigt die Eintragung des Vertrages. Ben Bakayoko meldet sich bei der Berufsschule an. Rechtlich scheint es keine Probleme zu geben: Die Ausbildung soll am 1. August 2018 beginnen, während die bisherige Arbeitserlaubnis der Ausländerbehörde zunächst bis zum 23. August 2018 läuft. Bereits im Juni 2018 legt Ben Bakayoko dem Landkreis Gifhorn den Ausbildungsvertrag zur Prüfung vor.

Am 3. August 2018 erhält Ben Bakayoko jedoch ein Einschreiben des Landkreises Gifhorn, in dem ihm mitgeteilt wird, dass ein Fehler passiert sei: Eine Ausbildung könne wegen des laufenden Dublin-Hauptsacheverfahrens vor dem Verwaltungsgericht Braunschweig nicht genehmigt werden. Ben Bakayoko wird gezwungen, die Ausbildung abzubrechen. Die Ausländerbehörde erteilt ihm ein Arbeitsverbot.

Am 30. August 2018 verhandelt schließlich das Verwaltungsgericht Braunschweig im Hauptsacheverfahren und entscheidet später, dass bei alleinstehenden jungen Männern eine Abschiebung nach Italien doch zulässig sei – entgegen der Annahme im vorherigen Eilverfahren. Für Ben Bakayoko bedeutet das, dass für sein Asylverfahren nun Italien zuständig ist – es sei denn, das BAMF als zuständige Behörde übernimmt das Verfahren: eine Variante, die die Dublin-Regeln ausdrücklich vorsehen.

Der Flüchtlingsrat Niedersachsen wendet sich an das BAMF und bittet die Behörde, nach mehr als zweijährigem Aufenthalt in Deutschland den „Selbsteintritt“ zu erklären und das Asylverfahren in Deutschland durchzuführen. Auch das niedersächsische Innenministerium macht sich auf Bitte des Flüchtlingsrats Niedersachsen für einen Verbleib des jungen Mannes in Deutschland stark. Das BAMF erklärt jedoch, eine erfolgreiche Integration in Deutschland begründe „keinen Härtefall“.

Auch Ben Bakayoko selbst kämpft um sein Bleiberecht in Deutschland. Am 26. November 2018 besucht er gemeinsam mit einem Freund eine Veranstaltung des SPD-Ortsvereins in der Samtgemeinde Isenbüttel, auf der Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius zu Gast ist. Er erzählt ihm von seiner Geschichte und erhält die Zusage, dass sich der Minister beim Präsidenten des BAMF für seinen Verbleib in Gifhorn einsetzen werde.

Ben Bakayoko nutzt die Zeit der erzwungenen Untätigkeit durch das Arbeitsverbot des Landkreises auch, um noch besser Deutsch zu lernen und sich sozial zu engagieren. Er hat in Gifhorn einen großen Freundeskreis und ist allseits beliebt und geschätzt. In seiner Freizeit trommelt er gern in einer Gruppe und spielt Fußball. Die Firma hält auch weiterhin eine Ausbildungsstelle für ihn offen. Der junge Ivorer verlobt sich mit seiner langjährigen Freundin, mit der er zusammenlebt und die im September 2019 ein Kind von ihm erwartet. Beide gehen fest davon aus, dass Ben Bakayoko als Vater eines deutschen Kindes absehbar das Recht erhalten wird, in Deutschland zu leben. Lange Zeit geschieht nichts.

Das Paar, das durch die permanente Drohung einer unangekündigten Abschiebung psychisch zermürbt ist, schöpft aber Hoffnung, dass die Abschiebung abgesagt wird. Ben Bakayoko kann eine fachärztliche Bescheinigung vorlegen, nach der er an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet und nicht reisefähig ist. Auch für die werdende Mutter und das ungeborene Kind ist aufgrund einer attestierten Risikoschwangerschaft der Verbleib von Ben Bakayoko in Deutschland gerade in den letzten Monaten der Schwangerschaft wichtig.

Ben Bakayoko und seine Verlobte machen ihre Belange wiederholt beim Landkreis Gifhorn geltend, der jedoch in Dublin-Verfahren nur in Amtshilfe tätig wird, weil die Zuständigkeit für die geplante Abschiebung nach Italien und eine etwaige Aussetzungsentscheidung allein beim BAMF liegt. Im März 2019 teilt das BAMF dem Landkreis Gifhorn jedoch mit, dass weder die Verlobung noch die absehbare Vaterschaft zum aktuellen Zeitpunkt eine Schutzwirkung für Ben Bakayoko entfalten würden; vielmehr sei ein späterer Familiennachzug aus Italien für ihn zumutbar.

Die Ungewissheit für die kleine Familie setzt sich fort. Anfang April 2019 ziehen die Behörden die Duldung von Ben Bakayoko ein, stellen ihm lediglich noch eine bis zum 30. April 2019 gültige „Ausländerbehördliche Bescheinigung“ aus und kündigen die Abschiebung in den nächsten Tagen an. Sie erteilen zudem die Auflage, sich nachts in seiner Wohnung aufzuhalten. Am 8. April 2019 klingelt es dann um 3 Uhr morgens an der Tür. Die Behörden wollen Ben Bakayoko nach fast dreijährigem Aufenthalt in Deutschland doch noch nach Italien abschieben. Erst als er gemeinsam mit seiner Partnerin den Beamt:innen Belege vorlegt, nach denen seine Verlobte aufgrund des Vorliegens einer Risikoschwangerschaft auf die Unterstützung ihres Verlobten angewiesen und er selbst schwer psychisch angeschlagen ist, brechen die Beamt:innen die Abschiebung vorläufig ab, erklären jedoch zugleich, dass die Abschiebung damit nicht grundsätzlich vom Tisch sei.

Der Landkreis Gifhorn weist auf Anfrage des Flüchtlingsrats Niedersachsen nach dem Abschiebungsversuch darauf hin, dass das vorgelegte fachärztliche Attest für Ben Bakayoko vom BAMF geprüft worden sei, allerdings nicht den gesetzlichen Anforderungen genügt habe und zudem vom BAMF nicht anerkannt worden sei. Auch habe das BAMF es verneint, aus der Schwangerschaft der Lebenspartnerin Konsequenzen zu ziehen. Es seien nach Auskunft des BAMF in der Dublin-Verordnung keine Abschiebungshindernisse bezüglich einer pränatalen Bindung vorgesehen.

Erst Ende April 2019 kann die Familie durchatmen. Die Frist für eine Abschiebung nach Italien ist ohne einen neuen Abschiebungsversuch abgelaufen. Das Asylverfahren von Ben Bakayoko wird in Deutschland durchgeführt. Am 30. April 2019 stellt der Landkreis Gifhorn Ben Bakayoko endlich wieder eine Aufenthaltsgestattung aus für die Durchführung des Asylverfahrens in Deutschland, darin enthalten nun auch wieder die Möglichkeit auf Antrag und nach vorheriger Prüfung der Behörde eine Beschäftigung aufzunehmen. Im Mai 2019 erhält er seine Arbeitserlaubnis zurück und kann im Juli 2019 schließlich die schon ein Jahr zuvor anvisierte Ausbildung zum IT-Systemkaufmann aufnehmen. Ben Bakayoko liebt seine Arbeit; er geht darin regelrecht auf.

Am 19. September 2019 kommt dann die gemeinsame Tochter zur Welt. Die Eltern sind überglücklich.

Was bleibt?

In der Praxis funktioniert das Dublin-System seit Jahren nicht. Im ersten Halbjahr 2019 wurden gemäß Dublin-Regelung 4.215 Menschen aus Deutschland in andere EU-Länder** abgeschoben. Gleichzeitig wurden 2.967 Asylsuchende aus anderen Mitgliedsstaaten** nach Deutschland abgeschoben. Neben den Fällen, in denen tatsächlich Abschiebungen stattgefunden haben, sind in der EU** zehntausende weitere Menschen von einer Dublin-Abschiebung bedroht. Das gesamte System sorgt für eine enorme Verunsicherung von Schutzsuchenden und verhindert, das Menschen nach ihrer Flucht endlich zur Ruhe kommen und Teil der Gesellschaft werden können.

Zugleich ist das Dublin-System zutiefst unsolidarisch. Gerade die ärmeren EU-Staaten an den Außengrenzen, insbesondere Griechenland und Italien, müssen nach den Regelungen die Verantwortung für Aufnahme, Versorgung und Verfahren der Schutzsuchenden tragen – und sind damit heillos überfordert. Häufig bedeutet eine Dublin-„Überstellung“ eine Abschiebung in die Obdachlosigkeit.

Dass das Dublin-System keinen Bestand haben kann, hat auch Bundeskanzlerin Angela Merkel erkannt. Solange sich aber die EU-Staaten nicht auf ein faires Verfahren zur Aufnahme und Verteilung von Asylsuchenden einigen, gelten die Dublin-Regelungen weiter. Schutzsuchende, Fachstellen, Rechtsanwält:innen und Unterstützer:innen müssen Tag für Tag einen enormen Aufwand betreiben, um dafür zu sorgen, dass Menschen diesem Irrsinn nicht ausgesetzt sind.

* Dublin-III-Verordnung der EU, über Zusatzabkommen auch gültig für Norwegen, Island, Schweiz und Liechtenstein.
** bzw. Norwegen, Island, Schweiz und Liechtenstein.

Hintergrund

Flüchtlingsrat Niedersachsen, Abschiebungszynismus in Gifhorn: Abschiebungsversuch wurde gestern Nacht abgebrochen, Pressemitteilung vom 8. Aril 2019

Presseberichte

Ausweisung trotz Integration – Kai Weber spricht von „Abschiebungszynismus“, in: Aller Zeitung online vom 08. April 2019

Juristische Zweifel: Abschiebung aus Gifhorn nachts gestoppt, in: Braunschweiger Zeitung online vom 08. April 2019

Abschiebung nach Italien. Wille zur Härte, in: taz online vom 12. April 2019

Bamf will Bakayoko weiter von Gifhorn nach Italien überstellen, in: Gifhorner Rundschau online vom 15. April 2019

Umstrittener Abschiebefall im Landkreis Gifhorn, in: NDR Hallo Niedersachsen vom 16. April 2019

Wie geht es mit Ben Bakayoko weiter?  In: Aller Zeitung online vom 17. April 2019

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1 Gedanke zu „Ben Bakayoko: Kampf, um bleiben zu können“

  1. Wahnsinn, da werden aus dem Ausland Menschen aus ihren sozialen Zusammenhängen hierher gelockt, um zu arbeiten, sprechen oft nur wenig Deutsch, während man Menschen von hier abschiebt, die oft die gewűnschten Kompetenzen besitzen, von Arbeitgebern oder Schulfreund geschätzt.

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