Der Flüchtlingsrat protestiert gegen das Auseinanderreißen von Familien durch Abschiebungen in Niedersachsen. Mit Empörung reagiert der Flüchtlingsrat auf die Rechtfertigung dieser Praxis durch das niedersächsische Innenministerium und fordert, die vor fünf Jahren selbst gesetzten Maßstäbe für einen humanitären Umgang mit Geflüchteten ernst zu nehmen.
2013 stand der Fall der Gazale Salame für die Unmenschlichkeit der unter dem früheren Innenminister Uwe Schünemann verfolgten Flüchtlingspolitik in Niedersachsen. Die rot-grüne Landesregierung trat an, mehr Menschlichkeit in der Ausländer- und Flüchtlingspolitik walten zu lassen, und versprach einen „Paradigmenwechsel in der Abschiebungspolitik“. Wörtlich führte Minister Pistorius aus:
„Wir haben angekündigt, dass in Niedersachsen folgende Grundsätze bei Abschiebungen und Rückführungen gelten sollen: es sollen grundsätzlich keine Familien mehr getrennt werden, Abschiebungen sollen teils auch mehrfach angekündigt werden und es sollen, soweit es möglich ist, nächtliche Abschiebungen vermieden werden.“ (PE vom 23.09.2014)
Mit Schreiben vom 25.03.2019 rechtfertigt das niedersächsische Innenministerium jedoch die Abschiebung einer Familie, die am 29.01.2019 eingeleitet und auch nicht abgebrochen wurde, als der schwerkranke Familienvater ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Herr S. (51) befindet sich weiterhin in Behandlung, Frau S. (46) und die gemeinsame Tochter (15) leben seit fast zwei Monaten allein in Montenegro.
Einen Verstoß gegen den niedersächsischen Rückführungserlass vermochten weder der Landkreis Stade noch das Innenministerium zu erkennen. Zwar heißt es in dem Erlass unter Nr. 5.4: „Werden bei einer Abschiebung nicht alle Familienangehörigen (Eltern und minderjährige Kinder) angetroffen und droht somit eine Familientrennung, sind die Grundsätze des Art. 6 GG sowie des Art. 8 EMRK zu berücksichtigen. Wenn minderjährige Kinder von einem Elternteil oder den Eltern getrennt würden, ist aufgrund der hohen Bedeutung der Wahrung der Familieneinheit die eingeleitete Maßnahme grundsätzlich auszusetzen und die eingeleitete Abschiebung abzubrechen.“
Im vorliegenden Fall, so die spitzfindige Begründung, habe die Polizei aber alle Familienangehörigen frühmorgens angetroffen. „Erst im Rahmen der Verbringung zum Flughafen verschlechterte sich die gesundheitliche Situation, sodass Herr S. ins Krankenhaus verbracht wurde“, erläutert das Innenministerium. Ein Verstoß gegen die Buchstaben des Rückführungserlasses läge mithin nicht vor. „Der Abschiebung der Frau S. sowie ihrer Tochter hat das MI, nachdem die Einlieferung von Herrn S. in AK Altona erfolgt war, zugestimmt“, so der Landkreis Stade.
Familie S. lebte vor der Familientrennung durch Abschiebung schon fast vier Jahre in Deutschland. Herr S. leidet an multiplen Erkrankungen, insbesondere an Diabetes und Herzbeschwerden sowie psychischen Erkrankungen, die auch ausführlich attestiert sind und insbesondere in Stresssituationen lebensbedrohlich sein können. Mehrere stationäre Aufenthalte in Krankenhaus und Psychiatrie hat Herr S. bereits hinter sich, eine Bezugspflege wurde eingerichtet.
Der Fall der Familie S. veranschaulicht die Verschärfungen, die auch für die niedersächsische Abschiebungsvollzugspraxis festgestellt werden müssen. Im März forderte das niedersächsische Innenministerium 26 Städte und Landkreise und damit die Hälfte aller 52 niedersächsischen Kommunen schriftlich zu größeren Anstrengungen bei der Durchsetzung von Abschiebungen auf (siehe Bericht). Im März 2018 schob der Landkreis Wesermarsch den Ehemann einer schwer traumatisierten, suizidgefährdeten Patientin nach Aserbaidschan ab, während die Ehefrau in die Psychiatrie eingeliefert werden musste. Abschiebungen zur Nachtzeit sind in Niedersachsen mittlerweile schon fast zur Regel geworden.
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