Kein Mangel an Haftplätzen, sondern an Rechtsstaatlichkeit

Seehofers Vorschlag zur gemeinsamen Inhaftierung von Ausreisepflichtigen und Strafgefangenen: Flüchtlingsrat Niedersachsen fordert Bund und Länder auf, sich an geltendes Recht zu halten, und verlangt von der Landesregierung, endlich ein Abschiebungshaftvollzugsgesetz zu erlassen.

Der Vorschlag des Bundesinnenministers, Abschiebungshäftlinge zusammen mit Strafgefangenen in regulären Haftanstalten zu inhaftieren, verstößt gegen das europarechtliche Gebot der Trennung von Abschiebungs – und Strafhaft (EuGH, Urt. v. 17. Juli 2014, C-473/13 und C-514/13). Die Mitgliedstaaten dürfen von diesem Trennungsgebot nur dann abweichen, wenn „eine außergewöhnlich Zahl von Drittstaatangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, zu einer unvorhersehbaren Überlastung der Kapazitäten der Hafteinrichtungen führen“ (Art. 18 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG). Eine derartige Ausnahmesituation ist indes nicht gegeben.

Bereits heute ist die Anordnung von Abschiebungshaft sehr häufig mit eklatanten Mängel behaftet. Ausreisepflichtige dürfen nach geltender Rechtslage nicht automatisch, sondern nur als „Ultima Ratio“, also nur dann in Abschiebungshaft genommen werden, wenn das zuständige Gericht entscheidet, dass „Fluchtgefahr“ besteht und diese nicht durch mildere Mittel wie bspw. Meldeauflagen oder die Hinterlegung einer Kaution abgewendet werden kann. Rechtsanwalt Peter Fahlbusch hat seit dem Jahr 2001 bundesweit insgesamt 1675 Abschiebungshäftlinge vertreten, wobei in etwa der Hälfte der Fälle gerichtlich festgestellt wurde, dass die Haftanordnungen rechtswidrig waren (siehe SZ vom 22.11.2018). Im Rahmen unseres Projekts „Beratung in Abschebungshaft“ kommen wir bezogen auf Niedersachsen zu ähnlichen Ergebnissen.

„Zwingend notwendig ist daher nicht die Schaffung weiterer Haftplätze. Zwingend notwendig ist es vielmehr, auf dem Gebiet der Abschiebungshaft endlich eine (Rechts)Praxis zu etablieren, die sowohl menschenrechtlichen als auch rechtsstaatlichen Anforderungen genügt“, folgert Muzaffer Öztürkyilmaz Referent beim Flüchtlingsrat Niedersachsen.

Die Debatte um das – vermeintliche – Defizit an Abschiebungshaftplätzen ist das Resultat einer Migrationspolitik, deren oberste Prämisse es ist, die Zahl der Abschiebungen zu erhöhen, und die hierbei jedes Maß zu verlieren scheint. Seit 2017 erleben wir geradezu eine Renaissance der Abschiebungshaftgefängnisse. Mittlerweile verfügen zehn Bundesländer (wieder) über eigene Abschiebungshafteinrichtungen, während die übrigen Länder – mit Ausnahme Thüringens und des Saarlandes – (teilweise in Kooperation) Eröffnungen planen.

Auch in anderer Hinsicht weist der Vollzug der Abschiebungshaft in Deutschland erhebliche Mängel auf: So verfügen Bayern, Rheinland – Pfalz und Niedersachsen zwar über eigene Abschiebungshafteinrichtungen, allerdings nicht über ein entsprechendes Gesetz, das die Rechte und Pflichten der Gefangenen verbindlich regelt, obgleich das Bundesverfassungsgericht bereits 1972 entschieden hat, dass es im Rahmen von Freiheitsentziehungen stets eines solchen Gesetzes bedarf. Die niedersächsische Landesregierung hat zwar mitgeteilt, an einem solchen Gesetz zu arbeiten, greifbare Ergebnisse bleibt sie bislang allerdings schuldig. Immer wieder nehmen Menschen in Abschiebungshaft sich das Leben, treten in den Hungerstreik oder erheben schwere Vorwürfe gegenüber den Bediensteten von Abschiebungshafteinrichtungen.

Derzeit ist die Bundesregierung nicht einmal in der Lage, die Anzahl der Ausreisepflichtigen valide zu beziffern. Zu beachten ist: Nicht jede_r Ausreisepflichtige kann und darf auch abgeschoben werden. Viele von ihnen werden etwa wegen Krankheit, familiärer Bindung oder etwa wegen fehlender Flugverbindungen oder fehlender Rücknahmebereitschaft des Herkunftsstaates – teilweise über Jahrzehnte und Generationen – geduldet.

Nachtrag:

Aktuelle Statistik von RA Peter Fahlbusch vom 22.01.2019. Fahlbusch schreibt:

„Insgesamt habe ich seit 2001 bis zu diesem Tag bundesweit 1.713 MandantInnen in Abschiebungshaftverfahren vertreten. 842 dieser MandantInnen (dh knapp 50 %) wurden nach den hier vorliegenden rechtskräftigen Entscheidungen rechtswidrig inhaftiert (manche „nur“ einen Tag, andere monatelang). Zusammengezählt kommen auf die 842 MandantInnen zweiundzwanzigtausendsiebenundsiebzig (in Zahlen: 22.077) rechtswidrige Hafttage (das sind gut 60 Jahre rechtswidrige Inhaftierungen!). Im Durchschnitt befand sich jeder/r Mandant/in knapp 4 Wochen (26,2 Tage) zu Unrecht in Haft.

2019 feiert das Institut der Abschiebungshaft 100sten Geburtstag. Vielleicht ein guter Zeitpunkt, einmal innezuhalten und sich Gedanken zu machen, wie es zu einem solchen Befund kommen kann, warum sich an der gerügten rechtsstaatswidrigen Praxis seit Jahren nichts ändert und weshalb wir augenscheinlich alle bereit sind, dies so hinzunehmen.“

 

 

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