Scharfe Kritik des Flüchtlingsrats an der Ankündigung von Innenminister Boris Pistorius, Abschiebungen nach Syrien zu „prüfen“
Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius hat öffentlich angekündigt, Abschiebungen nach Syrien „prüfen“ zu wollen, selbstverständlich „auf Grundlage des Lageberichts des Auswärtigen Amts“. Eine solche Abschiebung nach Syrien wäre ein glatter Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention: Denn derzeit liegt die bereinigte Schutzquote des BAMF für syrische Flüchtlinge noch bei nahezu 100%, weil den Geflüchteten im Fall einer Abschiebung nach Syrien politische Verfolgung oder eine menschenrechtswidrige Behandlung droht. Anders ausgedrückt: Flüchtlingen, die an das Assad-Regime ausgeliefert werden, droht bereits am Flughafen die Festnahme und Folter. Um dies festzustellen, braucht es keinen Blick in einen neuen Lagebericht des Auswärtigen Amts, es reicht ein Blick auf die aktuelle Statistik des BAMF: Von 28.596 inhaltlich entschiedenen Asylanträgen syrischer Flüchtlinge wurden von Januar bis Oktober 2018 nur 48 Anträge (0,2%) abgelehnt.
Man muss insofern die Forderung nach einer „Prüfung“ von Abschiebungen nach Syrien wohl eher als eine Aufforderung an das Auswärtige Amt lesen: Eine Änderung der Lagebeschreibung in Syrien soll die Grundlage bilden für eine veränderte Entscheidungspraxis. „Schreibt die Verhältnisse in Syrien schön“, lautet die Aufforderung, „damit wir nicht mehr allen syrischen Flüchtlingen, für deren Asylverfahren wir zuständig sind, Schutz bieten müssen.“
Eine ähnliche Entwicklung hatten wir schon bei afghanischen Flüchtlingen: „Wir wollen zur Schaffung und Verbesserung innerstaatlicher Fluchtalternativen beitragen und vor diesem Hintergrund die Entscheidungsgrundlagen des BAMF überarbeiten und anpassen. Dies ermöglicht auch eine Intensivierung der Rückführungen“, lautete der Beschluss der Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD parallel zu dem geplanten Asylpaket II unter Buchstabe H zu Afghanistan 11/2015. Damals (2015) lag die Schutzquote für afghanische Flüchtlinge noch bei 80%. Dann änderte das Auswärtige Amt seinen Lagebericht und das BAMF seine Leitsätze. Unter Hinweis auf angebliche „inländische Fluchtalternativen“ wurde die Schutzquote auf mittlerweile unter 50% gedrückt.
Gerade die niedersächsische Landesregierung hätte allen Grund, auf die Gefährlichkeit des syrischen Regimes zu verweisen und sich in der Diskussion um Abschiebungen nach Syrien zurückzuhalten: 2000 schob Niedersachsen – unter dem sozialdemokratischen Innenminister Heiner Bartling – den syrischen Flüchtling Hussein Dauud ab, der nach seiner Ankunft nachweislich festgenommen, verhört, in das berüchtigte Gefängnis „Palästina“ eingewiesen und dort schwer gefoltert und anschließend jahrelang inhaftiert wurde. Am 01.02.2011 wurde unter dem CDU-Hardliner Uwe Schünemann der damals 15-jährige Anuar Naso als einer der letzten Opfer der niedersächsischen Abschiebungspolitik zusammen mit seinem Vater von der restlichen Familie (Mutter, Schwester Schanas, weitere ältere Geschwister) getrennt und gewaltsam nach Syrien abgeschoben, wo beide inhaftiert und misshandelt wurden. Parallel verharmloste die Landesregierung das Assad-Regime im Interesse guter Geschäfte: Präsident Assad sei, so die FDP damals, „bedeutend jünger ist als die anderen Machthaber in der arabischen Welt“ daher stehe er „dem Volk näher“.
Nachtrag 20.11.2018: Neuer Lagebericht Syrien vom 13.11.2018 liegt jetzt vor
Der neue Lagebericht des AA zu Syrien vom 13.11.2018, der auch dem Flüchtlingsrat vorliegt, gibt erst einmal keinen Grund für eine Entwarnung, was die Lage im Land angeht – und liefert keine Argumente für Abschiebungen: „In keinem Teil Syriens besteht ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen“, heißt es in dem Bericht, der auf den 13. November 2018 datiert ist. Männliche Rückkehrer im wehrpflichtigen Alter (18 bis 42 Jahre) würden nach ihrer Rückkehr in der Regel zum Militär eingezogen, vorher jedoch oft noch für mehrere Monate wegen Desertion inhaftiert. Auch wenn einzelne Rückkehrer in jüngerer Zeit wieder Fuß fassen konnten in ihrer syrischen Heimat, bleibe das Risiko hoch. „Innerhalb der besonders regimenahen Sicherheitsbehörden, aber auch in Teilen der vom Konflikt und der extremen Polarisierung geprägten Bevölkerung gelten Rückkehrer als Feiglinge und Fahnenflüchtige, schlimmstenfalls sogar als Verräter beziehungsweise Anhänger von Terroristen.“ Rückkehrer:innen würden einer „politisch motivierten“ sogenannten „Sicherheitsüberprüfung“ unterzogen. Schon die Herkunft aus einer als oppositionsnah geltenden Ortschaft könne zu Gewalt oder anderer staatlicher Repression führen. „Es sind Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nach Syrien befragt, zeitweilig inhaftiert wurden oder dauerhaft ‚verschwunden‘ sind.“ Insbesondere sei kein Verlass auf Zusagen, die das Regime gebe.
Presse
Pistorius gerät für Syrien-Vorstoß in die Kritik, in: Göttinger Tageblatt online vom 19. November 2018
Künftig erleichterte Abschiebungen? In: Neue Presse online vom 19. November 2018
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