Minderjährigenschutz adé? Pistorius lässt Beweislastumkehr beim Verfahren zur Alterseinschätzung prüfen
Läutet die Landesregierung eine Abkehr vom Primat der Kinder- und Jugendhilfe ein? Der Flüchtlingsrat Niedersachsen kritisiert den Vorstoß des nds. Innenministers beim Verfahren der Alterseinschätzung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF). Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern geflüchtet sind, drohen schutzlos im Erwachsenensystem „verloren“ zu gehen.
Der NoZ vom 15.06.20181 ist zu entnehmen, dass Pistorius eine Beweislastumkehr bei der Altersfestsetzung in Erwägung zieht: Danach sollen Jugendliche, bei denen die Minderjährigkeit angezweifelt wird, selbst nachweisen, dass sie nicht volljährig sind. Sozialministerin Reimann steht dem Vorschlag skeptisch gegenüber und will das bisherige Verfahren in jugendhilferechtlicher Zuständigkeit fortsetzen.
Der Flüchtlingsrat Niedersachsen warnt vor einer Beweislastumkehr bei der Altersfestsetzung. Das Primat der Kinder und Jugendhilfe muss erhalten bleiben. Die Alterseinschätzung, die in der gesetzlich geregelten jugendhilferechtlichen Zuständigkeit2 liegt, hat das vorrangige Ziel, den Schutz und das Kindeswohl von Minderjährigen zu wahren und notwendige Hilfen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz sicherzustellen. Kinder und Jugendliche werden in Obhut genommen, solange eine Minderjährigkeit nicht ausgeschlossen werden kann, um so den höchstmöglichen Schutz zu bieten und drohende Gefährdungen abzuwenden. Eine Beweislastumkehr hätte zur Folge, dass zahlreiche Minderjährige bis zur Klärung in Erwachsenenunterkünften untergebracht würden und keinen Zugang zur Jugendhilfe hätten.
In der vielfach stigmatisierend geführten Debatte rund um eine „Altersfestellung“ wird das Ziel und die Intention von Alterseinschätzungen schlichtweg ausgeblendet. Menschen- und Kinderrechte werden vielfach ignoriert und ausgeklammert. Eine Beweislastumkehr im Kontext der jugendhilferechtlichen Alterseinschätzung verletzt aus Sicht des Flüchtlingsrats den ethischen und rechtlichen Rahmen, der sich unter anderem aus der UN- Kinderrechtskonvention und weiteren europarechtlichen Vorgaben3 ergibt und zur nationalen Umsetzung verpflichtet. Viele Kinder und Jugendliche verfügen über keine gültigen Passdokumente, weil diese vor oder während der Flucht aus verschiedenen Gründen abhanden gekommen sind oder konfisziert wurden. In einigen Gebieten der Welt besitzen Kinder und Jugendliche oftmals keine Geburtsurkunden, mit denen sie ihr chronologisches Alter nachweisen können.
Nach bisheriger Rechtslage4 erfolgt eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durch Fachkräfte der Jugendämter, wenn keine Papiere vorliegen. Bestehen anschließend weiterhin ernsthafte und begründete Zweifel, kann als „letztes Mittel“ im Einzelfall eine medizinische Alterseinschätzung erfolgen. Eine medizinische Methode zur genauen Altersfeststellung gibt es nicht. Möglich ist nur die Bestimmung des ungefähren Alters mit einer Schwankungsbreite von idR mehreren Jahren. Aufgrund der Invasivität und Ungenauigkeit der Untersuchungsmethoden ist eine medizinische Altersfestsetzung oftmals weder sinnvoll noch vertretbar, weshalb auch Fachleute davon abraten5. Zur Wahrung des Minderjährigenschutzes gilt daher im EU- Recht der Grundsatz „Im Zweifel für die Minderjährigkeit“.6
Neuregelungen, die das Primat der Jugendhilfe durch ein Primat der Ordnungspolitik ersetzen wollen, lehnen wir entschieden ab. Wir kritisieren die Ausrichtung und Tragweite der vorgeschlagenen Verschärfungen, die zur Folge hätten, dass Minderjährigen der jugendhilferechtliche Schutz jedenfalls vorübergehend verweigert würde. Öffentlichkeit und Politik sind gefordert, den Diffamierungen von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten entgegenzutreten, statt diese zu befeuern. Die Politik muss Verantwortung für junge Flüchtlinge übernehmen und dafür Sorge tragen, dass die jungen Menschen hier gut ankommen und angemessene Unterstützung finden.
Pressemitteilung vom 25.06.2018 in pdf- Format
Fußnoten
1 https://www.noz.de/deutschland-welt/niedersachsen/artikel/1288785/wende-bei-alterstests-fuer-unbegleitete-fluechtlinge
2 §42a, §42, §88a Abs.1 und §2 SGBVIII
3 u.a.:Art.25 Abs 5 RL 2013/32/EU; weitere relevante Rechtsgrundlagen s.h.: https://www.nds-fluerat.org/wp-content/uploads/2018/03/Stellungnahme_Alterseinschaetzung.pdf
4 42f SGB VIII ; Handlungsempfehlungen Bundesarbeitgemeinschaft der Landesjugendämter: http://www.bagljae.de/downloads/128_handlungsempfehlungen-zum-umgang-mit-unbge.pdf
5 Stellungnahme Bundesärztekammer 2016 : https://www.b-umf.de/images/Altersschaetzung_ZEKO_2016.pdf
Stellungnahme Eisenberg/Nowotny: http://news.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Soziale_Verantwortung/Stellungnahme_IPPNW_zur_Alterseinschaetzung_2018.pdf
6 Art.25 Abs 5 RL 2013/32/EU
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Dörthe Hinz
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