Der neue Lagebericht des Auswärtigen Amts verdeutlicht: Die Islamische Republik Afghanistan wird beherrscht vom Terror der Taliban und Korruption. Trotz Einsätzen der Bundeswehr, die die Rückkehr von Terroristen in das Land verhindern sollten, gibt es beinahe täglich neue Anschläge mit Toten und Verletzten. Der Flüchtlingsrat kritisiert vor diesem Hintergrund die kontrafaktischen Äußerungen der Bundeskanzlerin zur Durchführung von Abschiebungen und fordert einen uneingeschränkten Abschiebungsstopp nach Afghanistan sowie eine Neubewertung der vom BAMF zu Unrecht abgelehnten Asylanträge afghanischer Flüchtlinge.
Der Flüchtlingsrat Niedersachsen widerspricht entschieden der öffentlichen Behauptung von Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 06. Juni im Bundestag, man könne aufgrund des Lageberichts des Auswärtigen Amtes vom Mai 2018 verstärkt nach Afghanistan abschieben. „Das Gegenteil ist der Fall; die Äußerung der Kanzlerin ist fernab jeglicher Realität“, mahnt Kai Weber, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats. „Der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amtes entzieht allen Forderungen nach einer härteren Abschiebepraxis in das Kriegs- und Krisenland die Legitimation. Was wir jetzt brauchen ist ein genereller Abschiebungsstopp für Afghanistan!“ Die SPD-geführten Bundesländer haben im Rahmen der Innenministerkonferenz in Quedlinburg wenigstens klar gemacht, dass für sie weiterhin nur in Ausnahmefällen Einzelpersonen für eine Rückführung nach Afghanistan in Frage kommen.
Mit der vorgenommenen Neubewertung durch das Auswärtige Amt kann die Behauptung des Vorhandenseins angeblicher „inländischer Schutzalternativen in Afghanistan nicht mehr aufrechterhalten werden. Hieraus folgt, dass auch die pauschalisierte Ablehnung zahlreicher Asylanträge durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) unter Verweis auf diese Behauptung enden muss. Der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordert daher eine erneute Prüfung der seit 2015 abgelehnten Asylanträge afghanischer Flüchtlinge.
Seit 2015 ist die Ablehnung afghanischer Asylsuchender rapide gestiegen – in der Regel begründet mit dem Hinweis, Verfolgte hätten an einem anderen Ort in Afghanistan Schutz finden können. Allein im Jahr 2017 wurden die Anträge von rund 56.000 Afghan:innen abgelehnt. Die Ablehnungsquote stieg von 22,3 Prozent im Jahre 2015 auf 52,6 Prozent im Jahre 2017. Dies geschah, obwohl sich die Sicherheitslage und die menschenrechtliche Situation in Afghanistan rapide verschärft und die Versorgungslage verschlechtert hat.
Die Quote erfolgreicher verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen bei Afghan:innen macht deutlich, wie dringend eine Neubewertung aller ablehnender Bescheide der vergangenen zwei Jahre ist. Allein 2017 wurden 61 % der ablehnenden Entscheidungen des BAMF durch die Verwaltungsgerichte aufgehoben. Rund 79.000 Gerichtsverfahren zu Afghanistan waren Ende 2017 anhängig (Bundestagdrucksache 19 /1371, S. 38). Das zeigt, dass flüchtlings- und menschenrechtliche Vorgaben vom BAMF schlichtweg missachtet werden.
Unbegleitet geflüchtete Kinder und Jugendliche sind nach Eintritt in die Volljährigkeit in besonderem Maße mit den pauschalisierenden Bausteinen in den Ablehnungsbescheiden konfrontiert, ungeachtet ihrer spezifischen Schutzbedarfe und Fluchtgründe. Bislang wurde pauschal behauptet, junge männliche Flüchtlinge könnten, selbst wenn sie in Afghanistan individuell verfolgt und von Zwangsrekrutierung bedroht wurden, zurückkehren und zum Beispiel in Großstädten am Rande des Existenzminimums leben. Für eine Vielzahl der nach Deutschland geflohenen Afghanen gibt es jedoch – so nun auch das Auswärtige Amt – keine Ausweichmöglichkeit, weder in Kabul, dem Zielort der Abschiebungen, noch mangels sicherer Reisewege in der Herkunftsregion oder anderswo in Afghanistan. Die sogenannten »inländischen Ausweichmöglichkeiten« gibt es für die Betroffenen in der Realität schlichtweg nicht, und sie wären auch nicht erreichbar. Inlandsflüge existieren zwar, sind aber für die Abgeschobenen nicht bezahlbar, die Überlandstraßen werden von den Taliban kontrolliert.
Der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordert die Bundeskanzlerin und die Landesregierungen zur genauen Lektüre des aktuellen Afghanistan-Lageberichts des Auswärtigen Amtes auf. Nicht Abschiebungen, sondern ein sofortiger und ausnahmsloser Abschiebungsstopp sind die zwingende Konsequenz daraus.
Hintergrund
Mehr Informationen zur prekären Lage in Afghanistan werden auf der Homepage des Flüchtlingsrats Niedersachsen laufend aktualisiert.
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